Newsticker
Schlagzeilen, Meldungen und alles Wichtige
Die Nachrichten heute: Newsticker, Schlagzeilen und alles, was heute wichtig ist, im Überblick.
Zum Newsticker
  1. Home
  2. Print
  3. DIE WELT
  4. Literatur
  5. Und der Einzelne zählt doch

Literatur

Und der Einzelne zählt doch

In Arthur Koestlers frühem, nun erstmals publizierten Roman über die Emigration während der NS-Zeit kündigt sich seine Totalitarismus-Kritik an

Die Genossen waren not amused an diesem Abend in Paris. Man schrieb das Jahr 1934, und auf einer öffentlichen Veranstaltung des „Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller“, einer kommunistisch dominierten Emigrantenorganisation, las ein 29-Jähriger namens Arthur Koestler aus einem Roman-Manuskript, das er zuvor bei einem Preisausschreiben der ebenfalls exilierten Büchergilde Gutenberg eingereicht hatte.

War nicht bereits der Titel eine Provokation? „Die Erlebnisse des Genossen Piepvogel in der Emigration“ hatte Koestler sein Prosa-Projekt genannt, welches die Atmosphäre und das Leben in einem (realen) Pariser Kinderheim einfing. Die durch Spenden und Hilfsgelder finanzierte Institution war im gleichen Jahr gegründet worden, um Waisen und den minderjährigen Söhnen und Töchtern nach Frankreich geflüchteter Nazigegner ein Refugium zu verschaffen. Mehr noch: Das in einem Pariser Vorort angesiedelte Heim nebst Park - Koestler gibt ihm im Roman den Fantasienamen „L’ Avenir“ (Die Zukunft) - sah sich als sozialistische Mustereinrichtung, in welcher „bürgerliche Repressions-Pädagogik“ abgelöst werden sollte zugunsten einer „marxistischen Ganzheit“: Die Kleinen und Größeren nicht als bevormundete „Schützlinge“, sondern ernst genommen als zukünftige „Genossen“.

Koestler, der zu dieser Zeit für das sowjet-finanzierte Medien-Imperium des umtriebigen Willy Münzenberg arbeitete, war damals genau wie sein Arbeitgeber noch auf kommunistischer Parteilinie – oder beinahe. Denn der Roman – literarisches Resultat eines zweimonatigen Aufenthaltes in jenem Heim – beschreibt weniger im Stil des von Stalin geforderten „Sozialistischen Realismus“, als dass er problematisiert und aus der Perspektive der durch Flucht und Exil traumatisierten Kinder einen recht seltsamen Kosmos plastisch Gestalt annehmen lässt.

Kein Zufall also, dass der Literaturfunktionär Alexander Abusch – später in der DDR Walter Ulbrichts gefürchtet orthodoxer Kulturminister – bereits an jenem Abend 1934 erspürte, dass mit dem Genossen Koestler irgend etwas nicht stimmen könne und deshalb mühelos die Mehrheit seiner Kollegen davon überzeugte, dass das soeben Gehörte „Ausdruck bürgerlicher, individualistischer Tendenzen“ sei. Schließlich gäbe es die hier geschilderten pubertären Unsicherheiten nur in dekadenter, bürgerlicher Umgebung, mitnichten aber in einem Heim, das „von verantwortlichen Parteigenossen kontrolliert wird“.

Der einzige, der Koestler damals verteidigte, war ausgerechnet Egon Erwin Kisch – ein Akt von Kollegen-Solidarität, wusste der „rasende Reporter“ doch zumindest die stilistischen Qualitäten der Geschichte zu schätzen, ihren kecken Tonfall und den untrüglichen Sinn für entscheidende Details. Dem heutigen Leser geht es ähnlich, auch wenn die Perspektivwechsel mitunter zu unvermittelt geschehen, die vive Feuilletonsprache der Weimarer Republik inzwischen etwas forciert wirkt und auch der Spannungsbogen zwischen Aktion und Reflexion noch längst nicht so entwickelt ist wie in späteren Koestler-Romanen.

Darin mag auch der wahre Grund liegen, weshalb der Autor sein Manuskript, nachdem er es in den Fünfzigerjahren zufällig in einem Pariser Keller wiederentdeckt hatte – das bereits druckfertige Typoskript war im Krieg zuerst in die Hände der Nazis und dann der Sowjets gefallen – nicht mehr gedruckt sehen wollte. Inzwischen als Verfasser der „Sonnenfinsternis“ längst weltberühmt und ein veritabler Star der exkommunistischen Intellektuellen-Gilde, überzeugt seine offizielle Erklärung nämlich nur bedingt: „Das ist der einzige Roman, den ich noch als Kommunist zu Ende schrieb.“

Und selbst wenn es so gewesen wäre: Das Figuren-Ensemble mit den sprechenden Spitznamen wie „Peter, der Einsame“, „Genosse Piepvogel“ (der trotz des Roman-Titels eher am Rande bleibt) oder „Ullrich, die Opposition“ wurde von einem Autor geschaffen, der innerlich bereits auf dem Absprung war und in der Jahrhundert-Auseinandersetzung zwischen Kollektiv und Individuum schon unbewusst seine Wahl getroffen hatte. So lässt er eines der Kinder, müde der dauernden Rhetorik, im Selbstgespräch sagen: „In unseren Sitzungen gewannen alle Vorgänge und Worte eine zugespitzte Bedeutung – Flöhe wurden im Handumdrehen zu Elefanten, und Elefanten schrumpften einem sozusagen auf der Zunge zu Flöhen zusammen. Es war eine eigentümliche Sache mit den Kollektivsitzungen.“

Und in einer anderen Szene: „,Russland beschützt die Proletarier aller Lände‘ sagt Gustav, so wie man eine Lektion aufsagt. Man stimmte zu, auch diesen Satz hatte man wahrscheinlich schon öfter gehört. Überhaupt schien es, dass alle Leute nur Dinge aussprachen, die allgemein bekannt waren.“ Kein Wunder also, dass bei den Hütern der reinen Lehre, all den borniert parteitreuen Abuschs, sofort sämtliche Alarmlampen aufleuchten, als sie Koestler aus einem solchen Manuskript hatten vortragen hören.

Denn noch ist das Kinderheim ein freies Experimentierfeld, befindet sich die aus geflüchteten Antifaschisten bunt zusammengewürfelte Lehrerschaft ebenfalls in einem durchaus sympathischen Stadium der Unentschiedenheit. Noch sind bei den permanenten Sitzungen die Kinder stimmberechtigt, ja gründen sogar ein eigenes „Kollektiv“ und kritisieren in ihrer Wandzeitung die größeren und kleineren Verschrobenheiten der Lehrer, mit denen sie das gleiche Flüchtlingsschicksal teilen. Zwar wird von manchem Pädagogen ausgerechnet das sowjetische Propagandabuch „Schkid, Republik der Strolche“ als leuchtendes Vorbild „solidarischer“ Kollektiv-Erziehung gepriesen, aber dann erweisen sich die Fragen nach fehlendem Fleisch und Gemüse, temporären Aufenthaltsgenehmigungen und den fortgesetzten Horrormeldungen aus dem Dritten Reich als entschieden wichtiger.

Anzeige

So kommt es, dass die eindringlichsten Passagen dieses Internat-Romans an manche Szenen in Louis Malles legendären Film „Auf Wiedersehen, Kinder“ erinnern, während die wenigen verbliebenen ideologischen Schlacken auf eine noch ungleich schlimmere Zukunft verweisen. „Peter, der Einsame“ weigert sich nämlich, seinen inzwischen aus Frankreich ausgewiesenen Eltern nach Palästina zu folgen, welches angeblich „nur ein Land zum Sterben für alte Juden“ sei, und beschließt stattdessen, sich im Heim weiterhin nützlich zu machen.

Mit dem heutigen Wissen um das Kommende, die französische Kapitulation und den deutschen Einmarsch 1940, möchte man sich das weitere Schicksal dieses sensiblen jüdischen Jungen lieber nicht vorstellen. Doch trotz dieses grobschlächtigen Autoren-Tributs an die Parteilinie – Koestlers wahre Sympathie gilt wohl nicht zufällig zwei Außenseitern, deren unlösbaren Konflikt er mit einer Prägnanz beschreibt, die bereits den späteren Sezier-Experten in Sachen Zweifel und Selbstreflexion erahnen lassen.

Als der sechzehnjährige, plebejische Piete erfährt, dass sein Vater in Nazideutschland „auf der Flucht erschossen“ wurde, vermag er die gängigen Erklärungen vom „heldenhaften Kampf gegen die faschistischen Ausbeuter“ nicht länger zu ertragen – und wendet sich dennoch mit physischer Gewalt gegen den bürgerlich sozialisierten Ullrich, genannt „die Opposition“, der sich bereits zuvor über das mokiert hatte, was er „unsere pathetischen Phrasen“ nennt.

Mit einem suggestiven „Du-gehörst-nicht-zu-uns“, gefolgt von Schlägen, kündigt Piete den zivilen Comment im Internat, verletzt Ulrich auch seelisch – und verlässt kurz darauf das Heim, um in der Pariser Halbwelt verschütt zu gehen. „Er war aus dem Kollektiv herausgewachsen, so wie er aus alten Schuhen und Kleidern herausgewachsen war.“ Der aufbrausende Anarchist und der skeptische Intellektuelle – feindliche Brüder, um deren natürliche Nähe der freiheitsliebende Koestler demnach schon 1934 mit geradezu instinktiver Sicherheit gewusst hatte. Man liest diesen frühen Roman mit immensen Gewinn.

Arthur Koestler: Die Erlebnisse des Genossen Piepvogel in der Emigration. Europa, Zürich. 240 S., 23 €.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant