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Literatur Buch der Woche

Jenseits von Piff-Paff

Erstaunlich grün, ein bisschen gespreizt und ganz anders als damals im Kinderzimmer: Zum ersten Mal seit 170 Jahrenerscheint James Fenimore Coopers Wildwest-Klassiker „Der letzte Mohikaner“ in voller Länge auf Deutsch

Im US-Städtchen Cooperstown, 250 Kilometer südlich von New York gelegen, steht ein nationales Heiligtum: die Baseball Hall of Fame. Hunderttausende von Fans pilgern alljährlich dorthin, und so mancher amerikanische Vater dürfte seinen sportbegeisterten Söhnen nebenbei stecken, dass sie sich auch auf literarisch bedeutsamem Boden befinden. Der Quäker und Landbesitzer William Cooper hatte 1786 eine Siedlung gegründet, nach ihm wurde sie benannt, und als sich Cooper mit seiner Familie 1790 dort niederließ, war das zwölfte seiner schließlich dreizehn Kinder der kleine, einjährige James, der Cooperstown zu einem Ort der Weltliteratur machen sollte. Zu jener frühen Zeit war es nur ein Dorf mit wenigen Hütten und einer der äußersten westlichen Vorposten des noch unerschlossenen Kontinents. Vor der Haustür endete die Zivilisation. In den riesigen, undurchdringlichen Wäldern lebten nur Trapper und Jäger, und die Kinder von Cooperstown liefen zusammen, wenn solch ein Haudegen auftauchte, mit Fellen beladen, und ihnen schreckliche Geschichten von Bären und Indianern erzählte.

Diese Mischung aus Faszination und Grauen hat Coopers spätere Erinnerung an die Wildnis geprägt, ihr literarisches Zeugnis sind seine fünf „Lederstrumpf“-Romane, unter denen „Der letzte Mohikaner“ zum berühmtesten und sogar geflügelten Wort wurde. Im Roman sind der Häuptling Chingachgook und sein Sohn Uncas diese letzten Mohikaner vom Stamm der Delawaren. Ihr Freund heißt Natty Bumppo, Pelztierjäger und Naturbursche; er ist wegen seiner Leggins der „Lederstrumpf“, im Wald zu Hause und schießt nie daneben. Respektvoll nennen ihn die Indianer auch „Falkenauge“ oder „Lange Büchse“. Die Handlung spielt im Jahr 1757, zur Zeit des Siebenjährigen Krieges in Europa. In Nordamerika kämpfen Engländer und Franzosen um die Vorherrschaft. Zahlreiche Indianerstämme, angelockt durch Geschenke und falsche Versprechungen, dienen beiden Seiten als talentierte Handlanger bei den zahlreichen Schlachten und Metzeleien.

In diese historischen Ereignisse geraten Chingachgook, Uncas und Lederstrumpf, als sie mitten in der Wildnis auf zwei Frauen treffen, die von ihrem indianischen Scout, dem tückischen Huronen Magua, mit Absicht in die Irre geführt wurden. Es sind die Schwestern Alice und Cora, Töchter des britischen Kommandanten von Fort Henry. Magua wird entlarvt, flieht und schwört finstere Rache. Die kommt bald, nachdem die getreuen Freunde die Frauen nach Fort Henry geleitet haben, das fatalerweise von den Franzosen belagert ist. Gerade verhandelt man die Übergabe. Der französische Kommandeur gewährt den Unterlegenen freien Abzug, hat aber die Rechnung ohne seine indianischen Verbündeten gemacht. Diese wollen nämlich Blut sehen und Skalps erbeuten, richten ein grässliches Massaker unter den Wehrlosen an. Mit von der Partie sind Magua und Genossen, die Alice und Cora aus dem Schlachtgetümmel verschleppen, Lederstrumpf und seine Gefährten nehmen die Verfolgung auf …

„Der letzte Mohikaner“ erschien 1826 und war bereits Coopers sechster Roman. Mit dem Schreiben hatte der wohlhabende Gutsherr laut einer Familien-Legende überhaupt nur angefangen, weil er eines Abends beim gemeinschaftlichen Vorlesen eines englischen Romans bemerkt hatte: „Das könnte ich wohl besser.“ Geneckt von seiner Frau und Freunden, setzte sich Cooper mit seinen mittlerweile 31 Jahren – zu jener Zeit schon ein reifes Alter – tatsächlich hin und verfasste einen Roman à la Jane Austen, der, auf eigene Kosten gedruckt und anonym veröffentlicht, jedoch wenig Resonanz fand.

Beim zweiten Buch orientierte sich Cooper am Abenteuer-Stil von Walter Scott und hatte prompt Erfolg. Zum Weltruhm der „Lederstrumpf“-Geschichten gehört auch der Respekt, den sich Cooper in seiner Heimat als „maritimer“ Schriftsteller erwarb. Etliche der insgesamt 33 Romane spielen auf See, wo der Autor eigentlich lieber zu Hause gewesen wäre. Den jungen Cooper zog es nämlich mit Macht aufs Meer. Fünf Jahre diente er in der Handels- und Kriegsmarine – eine Karriere, die allerdings recht glücklos verlief, wiewohl er sich später mit der ersten „Geschichte der US-Marine“ bei der Navy für diese Zeit bedankte. Familiäre Probleme, Erbschaftszwist und finanzielle Scherereien um die Ländereien seines Vaters brachten Cooper zurück aufs Land. Seine Erlebnisse goss er in mehrere Romane, die man heute als bedeutende Vorläufer des Werks von Herman Melville und Joseph Conrad einstuft; beide schätzten Cooper sehr und bezeichneten seine See-Romane als wichtigste Inspiration für die eigene Literatur.

Die Wirkung dieser Bücher blieben auf den englischsprachigen Raum beschränkt, sie sind bis heute nicht ins Deutsche übersetzt. Ganz anders der Lederstrumpf. Vom Start weg, mit dem ersten Roman „The Pioneers“ schwappten die Abenteuer von Falkenauge und Chingachgook über den Atlantik, verbreiteten sich in Europa wie Buschfeuer, nicht nur beim wachsenden Lese-Publikum, sondern ebenfalls unter den Kollegen. Der wohl prominenteste Fan, Goethe, verschlang die amerikanische Action im so gar nicht wilden Weimar – eine immer noch reizende Vorstellung – , in Frankreich wiederum adelte Honoré de Balzac den Helden Natty Bumppo zu einer unsterblichen Figur, die „leben wird, solange es Literatur gibt“.

Noch im Erscheinungsjahr 1826 reiste Cooper mit Familie nach Europa, um dort geschlagene sieben Jahre zu verbringen. In Paris und London feierte ihn die High Society, vom großen Sir Walter Scott wurde er empfangen und gelobt. Der über die Generationen anhaltende Siegeszug des Lederstrumpfs wurde in Deutschland allerdings durch die Deklassierung zum reinen Abenteuer- und dann vor allem Jugendbuch schwer erkauft. Bis zum frühen 20. Jahrhunderte erschienen Dutzende von entsprechend bearbeiteten und radikal gekürzten Ausgaben, die Stil und Form des Originals fast völlig verschwinden ließen. Ein jeder, der noch seinen zum Kindergeburtstag geschenkten Band aufschlägt, wird konsterniert den Kopf schütteln, wenn er die nun vorliegende neue Übersetzung danebenlegt. In meiner Ausgabe vom Göttinger W. Fischer-Verlag schnurren diese 550 Dünndruckseiten des „Ur-Mohikaners“ auf 70 (!) großformatige Seiten mit Bildchen zusammen. Eigentlich stimmen nur noch die Namen und das Piff-Paff der Handlung.

Umso mehr ist nun diese neue deutsche Edition zu rühmen, die erste vollständige seit 1841, in gediegen schöner Aufmachung. Die Übersetzerin und Herausgeberin Karin Lauer hat bravourös und gearbeitet: Nicht nur, dass sie Coopers hohen, vornehmen Ton kongenial und elegant überträgt. Sondern den Text auch mit wissenschaftlicher Präzision annotiert und kommentiert, historische Bezüge und Begriffe in einem glänzenden Nachwort erläutert, das zudem eine packende Lebens- und Werkgeschichte Coopers enthält. Viel fehlt nicht zum Rang einer historisch-kritischen Ausgabe, die akademische Würdigung durch die Amerikanistik dürfte Karin Lauer sicher sein.

Für den normalen Leser, der jetzt nochmals in seinen alten Lederstrumpf steigen will, mag die Lektüre in anderer Hinsicht überraschend sein. Man liest tatsächlich einen literarischen Klassiker, im noblen Idiom alter Ahnen wie Samuel Richardson, Oliver Goldsmith und eben Walter Scott, die den Roman im 18. Jahrhundert als würdevolles Genre von Sitte und Anstand etablierten. Cooper hat sich daran orientiert, fein und ziseliert klingt die Sprache, seine weißen und roten Helden reden wie englische Lords, selbst wenn die Büchsen knallen. Das klingt in heutigen Ohren seltsam gespreizt und manchmal einfach lustig, etwa wenn Falkenauge mitten im Feuergefecht ruft: „Hier heißt es ihre Skalps oder unsere! Und Gott, der uns geschaffen hat, hat uns auch den Wunsch eingepflanzt, die Haut auf dem Kopf zu behalten!“

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Es ist wenig verwunderlich, dass solche Sätze in den gestrafften Jugendbüchern fehlten, ebenso wie die ausführlichen Naturbeschreibungen und langen Dialoge über das Wesen der Indianer, ihre Gebräuche, Riten und das komplexe Verhältnis zwischen den Stämmen. Gerade diese „zähen“ Passagen, die man nunmehr ja zum ersten Mal auf Deutsch liest, verändern entscheidend den Blick. Auf die reine Spannung heruntergestutzt, wirkt „Der letzte Mohikaner“ wie in der blutrünstigen Verfilmung von Michael Mann: Gräulich gemeuchelte unschuldige Weiße, den Tomahawk im Schädel, dazu tierisches Indianergeheul. Den zwei einsamen „edlen Wilden“ Uncas und Chingachgook steht ein Heer verschlagen-grausamer Rothäute gegenüber, am besten, man schießt sie gleich über den Haufen.

Im Originaltext wird eine andere, humane Haltung sichtbar. Hier bemüht sich Cooper um Fairness, entwickelt Achtung und Respekt vor den amerikanischen Ureinwohnern und macht kein Hehl daraus, dass für die kriegerischen Konflikte die weißen Parteien verantwortlich sind. Natürlich kann er dabei nicht ganz aus der rassistischen Haut seiner Zeit, lässt zwischendurch Chingachgook und Uncas ins Gebüsch schlüpfen, um mal flugs – Indianer bleibt halt Indianer! – einen Feind zu skalpieren. Und auch, dass Uncas unbedingt am Ende sterben muss, steht schon allein deshalb in der moralischen Ordnung der Epoche, weil der Häuptlingssohn für die schöne, weiße Cora entbrannt ist.

Überraschend modern und aktuell ist dagegen Coopers „grünes“ Bewusstsein. Schon jetzt singt er das traurige Lied von der Zerstörung der Wildnis durch die weiße Zivilisation. Immer lauter wurde diese Melodie in den folgenden Lederstrumpf-Bänden, bis hin zum Finale im „Wildtöter“ aus dem Jahr 1841. Dort beklagt der alte Natty Bumppo melancholisch den Raubbau an der Natur und seine Folgen für den Menschen: „In den Ansiedlungen ist alles Widerspruch, während in den Wäldern alles Einklang ist“, steht da. Diesen James Fenimore Cooper kann man nun nach langer Zeit entdecken, der erste Schritt ist getan mit diesem wundervollen neuen „Letzten Mohikaner“.

James Fenimore Cooper: Der letzte Mohikaner. Aus dem Englischen von Karen Lauer. Hanser, München. 656 S., 34,90 €.

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