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Samurai: Krieger mit Weißgesicht

Foto: Hulton Archive/ Getty Images

Blei in Samurai-Schminke Tödliches Kuscheln mit der Mama

Die Samurai waren die Herrscher Japans - doch auf einmal gingen dem Kriegeradel die Erben aus, viele Kinder waren schwächlich und debil. Forscher wollen nun eine Erklärung gefunden haben: Trieb bleiverseuchtes Make-up eine ganze Dynastie in den Ruin?

Aus Blei kann man Gewehrkugeln gießen. Oder man schützt sich damit vor Strahlen. Zu Silvester sagt das Schwermetall die Zukunft voraus, und Alchemisten glaubten, man könne es in Gold verwandeln. Blei kann aber noch etwas anderes: am Niedergang von Kulturen mitwirken.

Das behaupten zumindest Historiker. Demnach bekam das Römische Reich massive Probleme, weil seine Eliten sich Speisen und Wein mit Bleizucker süßten. Nach Festgelagen soll die herrschende Klasse unter schweren Vergiftungen gelitten haben.

Jetzt hat ein Team um Tamiji Nakashima von der University of Occupational and Environmental Health in Kitakyushu noch einen weiteren Fall von Bleivergiftung in einer untergegangenen Kultur entdeckt: In Japan waren die Samurai der Edo-Periode (1603 bis 1867) so hohen Bleikonzentrationen ausgesetzt, dass sie am Ende schwächliche und debile Nachfolger zeugten.

Nakashima untersuchte Knochen aus dem Sohgenji-Tempel in Kitakyushu im Südwesten Japans. Von der Errichtung im Jahr 1632 bis zur Zerstörung in einem Bürgerkrieg 1866 begruben die Samurai hier ihre Toten in großen, undekorierten Tontöpfen. Diese Art von Begräbnis war den Samurai vorbehalten - die Toten gehörten allesamt zur Kriegerklasse der japanischen Gesellschaft. Unter den 70 Skeletten waren 47 Kinder, 38 davon konnte Nakashima untersuchen.

Die Ergebnisse waren erschreckend. "Der Grund für die Bleivergiftung waren offensichtlich die Mütter", erzählt Nakashima. "Die Männer waren nur etwa halb so verseucht wie die Frauen, die Kinder aber über zehnmal so stark."

Vergrößertes Knochengewebe

Die Gebeine der Kinder unter drei Jahren enthielten im Median  1241 Mikrogramm Blei pro Gramm trockene Knochenmasse - das heißt, die Hälfte der untersuchten Kinder wies einen Wert über dieser Marke auf, die andere Hälfte einen Wert darunter. Bei den Vier- bis Sechsjährigen lag der Median immer noch bei 462,5 Mikrogramm, bei Kindern über sechs Jahren waren es 313 Mikrogramm. Damit war der Median bei den Kleinsten über 50-mal höher als bei ihren Müttern (23,6 Mikrogramm) und deutlich höher als bei ihren Vätern (14,3 Mikrogramm).

Zudem boten die Langknochen der Kinder eindeutige Hinweise auf eine chronische Bleivergiftung. In fünf Fällen konnte Nakashima eine Hypertrophie nachweisen, eine Vergrößerung des Gewebes. An den Enden ihrer Oberschenkelknochen waren auf Röntgenbildern außerdem deutlich verdichtete Linien erkennbar, die sogenannten Bleilinien. Damit sie entstehen, muss die Bleikonzentration im Blut über 700 Mikrogramm pro Liter liegen. Die Deutlichkeit der Bleilinien spricht aber dafür, dass die Samurai-Kinder von Kitakyushu noch wesentlich größere Mengen des Schwermetalls intus hatten.

Die Auswirkungen müssen verheerend gewesen sein. Einige Samurai-Kinder waren wahrscheinlich kränklich mit fahler Haut, hatten Bauch- und Kopfschmerzen, keinen Appetit und teilweise sogar Lähmungen.

Die Folgen einer Bleivergiftung sind medizinisch wohlbekannt: Möglicherweise war ein hoher Prozentsatz der Samurai-Kinder von Kitakyushu geistig zurückgeblieben - schon ab einer Konzentration von 100 bis 200 Mikrogramm Blei pro Liter Blut ist statistisch mit einer verminderten Intelligenz zu rechnen. Viele litten unter Panikattacken, hatten eine verkürzte Aufmerksamkeitsspanne, waren hyperaktiv - und unfähig, soziale Bindungen einzugehen.

Nur die Reichen und Schönen waren betroffen

Nakashima untersuchte auch die Knochen der Händler und Bauern von Kitakyushu. Während die Samurai in der japanischen Gesellschaft der Edo-Periode die Macht hatten, verfügten die Händler zwar über weniger Ansehen, dafür aber über viel Geld. Auch ihre Knochen waren durchweg bleiverseucht. Die Bauern dagegen litten eindeutig nicht unter Bleivergiftung.

Eine Vergiftung betraf also die Reichen und Schönen - und dort vor allem die Frauen. Was aber hat eine Samurai-Frau, das ein Samurai-Mann nicht hat? Die Antwort, die Nakashima gibt, ist verblüffend einfach: Schminke. In der Edo-Periode kam es unter den Frauen zunehmend in Mode, sich so weiß wie möglich zu schminken. Blässe als absolutes Schönheitsideal.

Die Trendsetter dieser Mode waren Kabuki-Schauspieler. Dieses traditionelle japanische Theater des Bürgertums der Edo-Zeit bestand aus Musik, Schauspiel und Tanz, wobei die Darsteller stark geschminkt waren. Auch Geishas, die im 18. und 19. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebten, arbeiteten mit weiß geschminkten Gesichtern. Dazu rührten sie aus China importiertes keifun (Quecksilberchlorid) oder empaku (Bleiweiß) mit Wasser zu einer Paste und bestrichen damit Gesicht und Nacken. Ihnen nacheifernd griffen bald auch die Frauen der Samurai tief in den Schminktopf - mit verheerenden Wirkungen.

Nakashimas Kollege Reinhard Zöllner, Japanologe an der Universität Bonn und zur Zeit Gastforscher an der Waseda-Universität in Tokio, findet die Ergebnisse seines Kollegen interessant: "Die Möglichkeit, dass insbesondere Oberschichten-Kleinkinder an einer chronischen Bleivergiftung über die Schminke ihrer Mütter gelitten haben können, halte ich für durchaus gegeben." Allerdings, wendet der Wissenschaftler ein, habe die Studie auch ihre Schwachpunkte. Die Anzahl der untersuchten Skelette sei mit nur 38 Kindern relativ klein. Zudem sei unbekannt, aus welchen Zeiträumen genau die Leichen stammen. Der Fundort sei fernab von den politischen Zentren. "Es ist also riskant, auf dieser Grundlage generalisierende Schlüsse zu ziehen", sagt Zöllner.

Sie wussten um das Gift der Schminke - und nutzten sie trotzdem

Aber selbst im 20. Jahrhundert sind Fälle von Bleivergiftungen bei Kleinkindern gut dokumentiert. "Die japanischen Frauen benutzten noch bis in die frühe Showa-Periode hinein Bleiweiß zum Schminken", sagt Nakashima. Als Showa-Zeit, als "Ära des erleuchteten Friedens", wird die Regierungszeit des Kaisers Hirohito von 1926 bis 1989 bezeichnet. Schon 1923 hatte Ikutarou Hiraifi von der Kyoto University festgestellt, dass die häufig auftretende Hirnhautentzündung bei Kleinkindern nichts anderes war als eine Bleivergiftung - verursacht durch exzessiven Make-up-Gebrauch der Mütter. "Das zeigt, dass Bleiweiß sogar noch verwendet wurde, als seine Giftigkeit bereits bekannt war", sagt Nakashima.

Warum aber waren die Bleiwerte in den Knochen der Kinder höher als in denen der Mütter? Die Erklärung ist einfach: Kinderkörper nehmen eine größere Menge Blei auf. Bei einem Erwachsenen gelangen nur etwa zehn Prozent der mit Nahrung aufgenommenen Bleimenge über den Darm in den Körper, bei Kindern sind es bis zu 50 Prozent. Kuscheln mit der geschminkten Mama wird da lebensgefährlich: "Die Intimität mit den Müttern wurde den Kindern zum Verhängnis", erklärt Nakashima.

Doch nicht nur die Mütter trugen weiß, auch sämtliche Verwandte wie Tanten, Cousinen und Konkubinen der Väter. "Die Familie war sehr groß", erläutert Nakashima. "Im ooku, dem Harem des Edo-Palastes, lebten bis zu 3000 Frauen. Und alle trugen Make-up im Gesicht."

War Schminke aber wirklich schuld am Zerfall einer ganzen Dynastie? Die wirkliche Macht im Japan der Edo-Periode lag nicht beim Kaiser, sondern bei den Shogunen, den Anführern der Samurai. Doch mit der Zeit hatten sie mit immer größeren Problemen zu kämpfen: Die herrschende Tokugawa-Familie war finanziell, strukturell sowie politisch geschwächt. In fast allen Fragen war sie von Vasallen abhängig, politische Rivalen konnten ihren Einfluß am Kaiserhof ausbauen.

Debile Herrscher

Probleme genug also, um schon gesunde Menschen verzweifeln zu lassen. Doch Nakashimas vermutet, dass die späten Shogune der Edo-Periode zusätzlich noch mit dem Bleinebel zu kämpfen hatten, der in der Kindheit ihr Hirn verwirrte. Historische Berichte scheinen die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Mindestens zwei Shogune der Edo-Zeit waren nach Meinung des Forschers mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ganz im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten.

Wie etwa Tokugawa Ieshige, neunter Shogun aus der Tokugawa-Familie, der am 28. Januar 1712 in Edo, dem heutigen Tokio, geboren wurde. Er war ein kränkliches Kind und stotterte stark. Seine Aussprache war so schwer zu verstehen, dass sein späterer Berater Ooka Tadamitsu die Regierung völlig dominieren konnte. Dieser gab vor, als Einziger die Äußerungen des Ieshige interpretieren zu können.

Auch Tokugawa Iesada, der 13. Shogun aus der Tokugawa-Familie, war ein schwächliches Kind, noch als Erwachsener kränkelte er. Als seine Mutter ihn am 6. Mai 1824 im Palast von Edo gebar, näherte sich die Tokugawa-Herrschaft bereits dem Ende. Als Tokugawa Iesada 1853 das Shogunat antrat, wurde Japan von den westlichen Mächten bedrängt. Die Amerikaner, die Engländer, die Russen und die Holländer zwangen die schwache Regierung zur Öffnung des Landes und zu einseitigen Handelsverträgen. 1867/68 sah sich der letzte Tokugawa-Shogun, Tokugawa Yoshinobu, gezwungen, die Herrschaft an den Kaiser abzutreten. Indirekt könnte das Blei also tatsächlich den Weg für den Niedergang des Tokugawa-Reiches geebnet haben.