Zahlen aus Bayern:Familien kassieren offenbar beim Betreuungsgeld ab

Betreuungsgeld - Strampler auf der Leine

Wer sein Kleinkind nicht in die Krippe steckt, sondern zu Hause betreut, bekommt 150 Euro im Monat.

(Foto: Jan Woitas/dpa)

52 Prozent der bayerischen Kleinkinder gehen in die Krippe, zugleich zahlt der Freistaat für 73 Prozent Betreuungsgeld. Wie passt das zusammen? Kassieren manche Familien die Leistung zu unrecht? Die Grünen verlangen Aufklärung.

Von Frank Müller

Wenn sie auf ihre Handtasche schaut, hat Franziska Schmid ein Problem. In ihr trägt die 37-Jährige einen Brief mit sich herum, sie weiß, dass sie ihn eigentlich abschicken müsste. Aber die Versuchung, ihn einfach nicht einzuwerfen, ist hoch: Es geht um 150 Euro Haben oder Nichthaben monatlich.

Mit dem Brief würde Franziska Schmid, die in Wirklichkeit anders heißt, das Betreuungsgeld für ihre zweijährige Tochter Sophie abmelden. Sie hat es bekommen, nachdem das Elterngeld ein Jahr nach Sophies Geburt ausgelaufen war. Das zweite Jahr blieb sie zu Hause bei ihrer Tochter.

Seit August nun hat Sophie einen staatlich geförderten Betreuungsplatz, 30 Stunden wöchentlich. Die Mama arbeitet wieder. Damit dürfte sie kein Betreuungsgeld mehr bekommen - es ist vorgesehen für Eltern, die ihre bis zu drei Jahre alten Kinder nicht in eine Krippe geben. Aber das Geld fließt weiter, und niemanden kümmert's. Franziska Schmid gibt ehrlich zu, dass sie nicht weiß, ob sie den Brief noch abschickt. "Ich muss es mir wirklich überlegen."

Was steckt hinter dem Erfolg des CSU-Prestigeprojekts?

Der Staat macht es ihr leicht, sich das sehr lange zu überlegen, so lange vielleicht, bis das Thema weg ist, weil das Kind dann drei Jahre alt ist und das Betreuungsgeld automatisch endet. Macht es der Staat Eltern wie Franziska Schmid mit Absicht so leicht, damit das - aus Bundesmitteln bestehende - Betreuungsgeld ein möglichst durchschlagender Erfolg in Bayern ist? Die Grünen im Landtag werfen jetzt diese Frage auf, dazu kursieren viele Zahlen, die noch mehr Fragen hervorrufen.

Das Betreuungsgeld war eines der großen Prestigeprojekte der CSU, das sie im vergangenen Jahr gegen erheblichen Widerstand von SPD, Grünen und anderen Gruppen durchsetzte. Manche verunglimpften es als "Herdprämie", weil es Mütter zum Daheimbleiben ermuntere. Die CSU dagegen führt ins Feld, dass es um echte Wahlfreiheit gehe: Eltern, die ihr Kind in die Krippe schicken wollen, können diese staatlich geförderten Einrichtungen nutzen. Die anderen bekommen zum Ausgleich das Betreuungsgeld von zuerst 100 und jetzt 150 Euro monatlich.

Seitdem es die Leistung gibt, überbietet sich der Freistaat mit Erfolgsmeldungen. In keinem Bundesland gebe es eine vergleichbar hohe Nachfrage wie in Bayern. Nach offiziellen Zahlen beantragen 73 Prozent der infrage kommenden Eltern mit Kindern unter drei Jahren in Bayern Betreuungsgeld - ein Erfolgsmodell also, sagt Sozialministerin Emilia Müller stets.

Doch es gibt andere bayerische Zahlen, die zu denen fürs Betreuungsgeld zumindest auf den ersten Blick im direkten Widerspruch stehen. 52 Prozent der bayerischen Kinder unter drei würden in Krippen und anderen öffentlich geförderten Einrichtungen betreut, heißt es ebenfalls aus dem Sozialministerium. Auch das ist eine wichtige Marke, weil sie zeigt, dass der Staat nicht untätig war, seit es den Rechtsanspruch auf Betreuung für Kleinkinder gibt. Nur: Wie passen die Zahlen zusammen? Wenn 73 Prozent Betreuungsgeld bekommen, bleiben eigentlich nur 27 Prozent für die Krippen übrig. Selbst wenn man aus den 52 Prozent betreuten Kindern unter drei Jahren die Nulljährigen (also etwa ein Drittel) herausrechnet, bleibt ein sehr viel höherer Prozentsatz.

Die Grünen halten das nicht für Zufall. Die Zahl der Betreuungsgeld-Empfänger werde möglichst hoch gehalten, sagt die Grünen-Abgeordnete Christine Kamm. "Die CSU versucht krampfhaft, ihr Betreuungsgeld zum Erfolg zu machen, und verleitet Eltern, Leistungen in Anspruch zu nehmen, die ihnen nicht zustehen."

Was fehlt sind klare Statistiken

Das Sozialministerium weist alle Vorwürfe zurück und erklärt die nicht zueinander passenden Zahlen mit statistischen Effekten. Betreuungsgeld und Aufnahme in die Krippe könnten im selben Jahr nacheinander kommen - "das gleiche Kind kann für unterschiedliche Zeiträume in beiden Statistiken erfasst sein". Zudem seien Kinder auch nach ihrem dritten Geburtstag noch in der Krippe. Wer das nicht berücksichtige, komme "zwangsläufig zu einem falschen Ergebnis". Wer Recht hat in dem mathematischen Streit, ist schwer zu entscheiden. Klare Statistiken, die die gesamte Materie beleuchten, gibt es nicht.

Eines aber steht für das Sozialministerium fest: "Missbräuchliche Bezugsfälle sind in Bayern nicht bekannt", heißt es in der Antwort auf eine Anfrage der SZ. Schon der Fall von Franziska Schmid macht allerdings klar: Es gibt eine Dunkelziffer - die Frage ist nur, wie groß sie ist und ob man aktiv nach ihr sucht. Das Ministerium verweist darauf, Eltern seien von sich aus verpflichtet, sich zu melden, wenn sie kein Recht mehr auf Betreuungsgeld haben. "Die Eltern werden insbesondere mit dem Bewilligungsbescheid nochmals sehr deutlich auf die strafrechtlichen Folgen von wahrheitswidrigen Angaben und die Konsequenzen bei Verletzung von Mitteilungspflichten hingewiesen."

Doch der Staat selbst schaut aktiv nicht hin, wie viele Umschläge es in bayerischen Handtaschen gibt. Dafür macht er es Eltern ganz außerordentlich leicht, an das Betreuungsgeld erst einmal heranzukommen. Alle Eltern bekommen nach dem Auslaufen des Elterngeldes einen mit allen Familiendaten vorformulierten Antrag geschickt, den sie nur noch zurücksenden müssen. Das Sozialgesetzbuch gebe schließlich vor, "dass der Zugang zu den Sozialleistungen möglichst einfach zu gestalten ist", erklärt das Ministerium etwas treuherzig. Viele Interessenten für andere Sozialleistungen würden sich vermutlich ebenfalls solche Erleichterungen wünschen. Doch Kritik an den einfachen Anträgen weist Emilia Müllers Ressort zurück: "Damit ist das Verfahren insgesamt weitaus weniger aufwendig und ressourcenschonend ausgestaltet."

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