Der verschwundene Präsident

Einer der blinden Flecken in der Ukraine-Debatte wurde bei der letzten Sendung von Anne Will sichtbar: Wie genau nimmt man es mit dem Recht?

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Hauptkritikpunkt an Russland bleibt weiterhin der von westlicher Seite unterstellte Völkerrechtsbruch bei der Angliederung der Krim. Die deutsche Bundeskanzlerin betonte diesen Aspekt erneut am Mittwoch im Bundestag. Das Vorgehen Russlands stelle "die europäische Friedensordnung infrage und bricht internationales Recht", so Merkel vor den Abgeordneten.

Unerwähnt blieb wiederum, was die im März im Schatten russischer Militärpräsenz abgehaltene Volksabstimmung auf der Krim ausgelöst hatte - und was schließlich zu deren Beitritt zur Russischen Föderation führte. Dabei wird es von kaum jemandem in Frage gestellt, dass erst der gewaltsame Machtwechsel in Kiew Ende Februar die russischen Bestrebungen zur Angliederung der Krim und damit zur Sicherung des Flottenstützpunktes in Sewastopol in Gang gesetzt hatte. Ursache und Wirkung sind also eigentlich klar. Dennoch fehlt in der öffentlichen Debatte weiterhin eine sachliche Analyse ebenjenes Machtwechsels vom Februar - der bekanntlich mit einem bislang ungeklärten Einsatz von Scharfschützen auf dem Maidan einherging (Blutbad am Maidan: Wer waren die Todesschützen?).

Janukowitsch mit den Vertretern der Oppositionsparteien bei der Unterzeichnung des Abkommens am 21.2.2014. Bild: president.gov.ua

Auch bei Anne Will wurde dies am vergangenen Mittwoch kurz zum Thema. Zu Gast waren dort unter anderem der russische Botschafter Wladimir Grinin sowie Marieluise Beck, Sprecherin für Osteuropapolitik bei den Grünen und ausgewiesene Maidan-Unterstützerin. Angesprochen von Grinin auf den Machtwechsel in Kiew im Februar und dessen Legitimität entspann sich dabei folgender Austausch:

Beck: "Präsident Janukowitsch ist geflohen. Und das kann man nun wirklich nicht als Staatsstreich bezeichnen."

Grinin: "Nicht freiwillig."

Beck: "Nachdem der Präsident weg war, ist aus dem Parlament heraus ein neuer Übergangspräsident ernannt worden. Es sind wirklich Pappkameraden, Propaganda, die Sie hier aufbauen."

Grinins Einwand ("nicht freiwillig") benennt dabei einen Punkt, der auf westlicher Seite gern ausgespart wird. Schon am Wochenende des Machtwechsel hatte etwa der Spiegel zweideutig formuliert, Präsident Janukowitsch sei "überraschend abgereist", ganz so, als könne der gestürzte Staatschef auch bald wieder von seiner "Reise" zurückkehren.

Da Janukowitschs Wahl zum Präsidenten der Ukraine im Jahr 2010 aber auch vom Westen und insbesondere von der OSZE als demokratisch einwandfrei anerkannt worden war (OSZE) stellte sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit seiner Absetzung Ende Februar 2014 sehr konkret.

Die Formulierung, der Präsident sei "abgereist" oder "geflohen", diente eher der Vernebelung dieses Rechtsbruchs. Denn wie Grinin richtig anmerkte, hatte Janukowitsch selbstverständlich nicht aus freien Stücken das Land verlassen, sondern offenkundig, da er um sein Leben oder zumindest um seine persönliche Sicherheit fürchtete. Mithin war der Machtwechsel als klarer Putsch zu bezeichnen, was auch der Spiegel in einer zwei Wochen nach den Ereignissen veröffentlichten Analyse vorsichtig einräumte. Die Spiegel-Redakteure schränkten dieses Zugeständnis jedoch gleich wieder ein, indem sie fragten "inwieweit diese Sicht in revolutionären Zeiten politisch maßgeblich" sei. Dabei ist es genau diese Selektivität im Rechtsempfinden, die die westliche Seite in der Ukraine-Krise moralisch nicht gut aussehen lässt.

Brisant dabei: Nur Stunden vor dem gewaltsamen Machtwechsel hatten die Maidan-Opposition und Präsident Janukowitsch noch unter Vermittlung der Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens eine Vereinbarung zur Lösung der Krise unterzeichnet, die das Auswärtige Amt am Freitag, dem 21. Februar, auch stolz so wiedergab:

Präsident Viktor Janukowitsch und die Oppositionsführer haben sich auf eine vorläufige Vereinbarung zur Lösung der innenpolitischen Krise in der Ukraine geeinigt. (…) Außenminister Steinmeier war als Vermittler an der Aushandlung der Vereinbarung beteiligt. Die vorläufige Vereinbarung zwischen Regierung und Opposition in der Ukraine sieht eine Rückkehr zur Verfassung von 2004 innerhalb von 48 Stunden nach Unterzeichnung vor. Außerdem soll innerhalb von zehn Tagen eine Übergangsregierung der Nationalen Einheit gebildet und bis September 2014 die Verfassung reformiert werden. Sobald eine neue Verfassung verabschiedet ist, sollen Präsidentschaftswahlen stattfinden, jedoch nicht später als im Dezember 2014. Die jüngsten Gewaltakte sollen durch die zuständigen ukrainischen Behörden in Zusammenarbeit mit der Opposition und dem Europarat untersucht und aufgeklärt werden. (…)

Nach der Abreise des französischen Außenministers zu einer länger geplanten Reise nach China am Donnerstagabend blieben Steinmeier und Sikorski in Kiew und verhandelten mit allen Beteiligten bis in die frühen Morgenstunden über eine Lösung. Am Freitag nahmen sie gemeinsam mit den Oppositionsführern Klitschko, Jazenjuk und Tjahnybok an einer Versammlung des sogenannten Maidan-Rates teil. Dem Gremium gehören verschiedene Gruppen von Regierungsgegnern an, die bisher den sofortigen Rücktritt von Präsident Janukowitsch gefordert hatten. Nach dem Gespräch mit den beiden Außenministern unterstützten auch die Vertreter des Maidan-Rates die Vereinbarung. Der Weg zur Unterzeichnung war damit frei.

Auswärtiges Amt
Dmitri Jarosch vom Rechten Sektor lehnte das Abkommen ab und fordert mit einem Ultimatum bis Samstag 10 Uhr den Rücktritt des Präsidenten. Screenshot

Am Freitag, dem 21. Februar, wurde diese Vereinbarung unterzeichnet - und war sogleich wieder Makulatur, denn am nächsten Tag kam es zum beschriebenen Staatsstreich (Ukraine: Opposition und Regierung einigen sich, Ukraine: Neue Machtstrukturen zeigen sich). Doch daran nahmen erstaunlicherweise weder Steinmeier noch seine westlichen Kollegen irgendeinen Anstoß. Auf diesen kuriosen Umstand wies auch der russische Präsident jüngst im Interview mit der ARD noch einmal hin:

Tatsächlich sind am 21. Februar nicht nur der deutsche Außenminister, sondern auch die Außenminister Polens und Frankreichs in die Ukraine nach Kiew gekommen. Und als Garanten, sie traten als Garanten ein der Vereinbarung zwischen dem damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch und der Opposition darüber, dass der Prozess sich ausschließlich friedlich entwickeln soll. Sie haben als Garantiegeber unterschrieben, dieses Dokument, dieses Abkommen zwischen der Regierung und der Opposition. Und die Regierung ging davon aus, dass es auch eingehalten wird. Ich habe tatsächlich an diesem Tag am Abend mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten telefoniert. Wir haben über dieses Thema gesprochen. Aber am nächsten Tag, trotz aller Garantien von westlichen Partnern, kam es zu einem Putsch. Das Präsidialamt wurde besetzt, das Regierungsgebäude.

In diesem Zusammenhang möchte ich Folgendes sagen: Entweder hätten die Außenminister der europäischen Staaten - Deutschland, Polen und Frankreich - als Garanten für die Einhaltung der Vereinbarungen zwischen der Regierung und der Opposition nicht unterschreiben sollen, oder, wenn man unterschrieben hat, hätte man auch die Einhaltung der Vereinbarungen sicherstellen sollen. Und sie haben sich zurückgezogen. Darüber hinaus wollen sie sich an diesen Vertrag nicht mehr erinnern, als ob es ihn nie gegeben hätte. Ich finde, das ist absolut falsch und kontraproduktiv.

Waldimir Putin

Tatsächlich hatte die EU bereits am 24. Februar die neue ukrainische Putschregierung offiziell mit der Begründung anerkannt: "Wir respektieren die Entscheidungen des ukrainischen Parlaments." Dabei war die Parlamentsentscheidung zur Absetzung des Präsidenten selbst ein Bruch der ukrainischen Verfassung gewesen.

Dass die europäischen Außenminister sich hier offenbar stärkeren Kräften gebeugt haben, ist nach wie vor kein Ruhmesblatt für die europäische Diplomatie - und es schwächt die Glaubwürdigkeit der aktuellen Kritik an Russland, ebenso wie die eigene Vertrauenswürdigkeit. Rechtsbrüche kann am Ende nur anklagen, wer selbst keine begeht oder toleriert.

Darüber hinaus wird deutlich, dass eine Übereinkunft über die politische Bewertung des Machtwechsels im Februar nur schwer möglich sein wird, so lange das Scharfschützenmassaker auf dem Maidan unaufgeklärt bleibt. Steinmeiers oben zitiertes eigenes Verhandlungsergebnis, den Massenmord in Zusammenarbeit mit dem Europarat aufzuklären, hat bislang kaum zu greifbaren Ergebnissen geführt.

Eine Arbeitsgruppe des Europarats, die selbst nicht ermittelt, sondern lediglich überprüfen soll, ob die Aufklärungsbemühungen der ukrainischen Behörden europäischen Standards genügen, veröffentlichte am Donnerstag eine schwammige Stellungnahme. Man sei im Gespräch mit den ukrainischen Behörden, Anfang 2015 wolle man einen Bericht vorlegen.

Ebenso wie beim immer noch ungeklärten Absturz von MH-17 spielen alle Beteiligten offenbar auf Zeit. Dass im Zusammenhang mit dem Ukrainekonflikt derzeit mehrere Massenmorde unaufgeklärt und damit straflos sind, dass zugleich aber mit diesen Morden Politik gemacht wird - auch dies könnte man als eine Form von Gesetzlosigkeit kritisieren, sowie als ein Unterminieren der "Friedensordnung", welche die Bundeskanzlerin als schützenswert hervorhebt.