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Putins Russland leidet am Versailles-Syndrom

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Was habt ihr bloß? Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz Was habt ihr bloß? Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz
Was habt ihr bloß? Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz
Quelle: REUTERS
Russland sieht im Ende der Sowjetunion eine Demütigung. So blickte auch Deutschland 1919 auf den Vertrag von Versailles. Völker und Politiker mit einem solchen Komplex sind unberechenbar.

Historische Vergleiche hinken meist, manchmal gehen sie auch auf Krücken. Und dennoch gibt es kaum eine andere Möglichkeit, aus der Vergangenheit zu lernen. Das Problem dabei ist, dass man die Konsequenzen eines epochemachenden Ereignisses zumeist erst rückblickend voraussehen kann.

Die Folgen des Attentats auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo 1914 waren nicht sofort erkennbar. Ob das Münchner Abkommen, in dem der britische Ministerpräsident Chamberlain im Zeichen des Friedens („Peace in our Time“) Hitler die Annexion des Sudetenlandes durchgehen ließ, von vornherein falsch war, wusste man erst, als die Appeasement-Politik gescheitert war.

Ob der Bau der Mauer 1961 von den Amerikanern einfach so hingenommen werden musste, war damals durchaus umstritten. Willy Brandt kochte. Es war ein Verstoß gegen das Potsdamer Abkommen über Berlin – in gewissem Sinne die Annexion Ost-Berlins durch die DDR.

Doch der Westen akzeptierte zähneknirschend die Teilung Berlins und richtete sich auf der Insel West-Berlin ein. Die 6000 dort stationierten US-Soldaten dienten als Stolperdraht, ein Angriff auf sie wäre als Angriff auf die USA gewertet worden und hätte den großen Krieg ausgelöst.

Erschreckende Parallelen zu den Weltkriegen

Zur Kubakrise kam es, weil die Sowjets Atomraketen auf der Insel vor der Haustür der Amerikaner aufstellen wollten. Das betrachtete Präsident Kennedy zu Recht als Bedrohung – und als eklatanten Einbruch in den Machtbereich der USA, auch wenn Kuba ja ein souveräner Staat war. Man arrangierte sich. Die Russen zogen die Raketen aus Kuba ab, die USA ihre Raketen aus der Türkei. Man respektierte die Macht- und Sicherheitsinteressen der Gegenseite. So wurden die schwersten Krisen des Kalten Krieges bewältigt. Der Dritte Weltkrieg blieb aus.

Wir können uns glücklich schätzen, wenn die gegenwärtige Konfliktlage in der Ukraine mit den Mitteln des Kalten Krieges gelöst wird – 25 Jahre nachdem man diesen für beendet gehalten hatte. Und doch gibt es erschreckende Parallelen zur Situation zwischen den beiden großen Kriegen.

Der große Verlierer der Ersten Weltkrieges, das deutsche Kaiserreich wurde durch die Versailler Verträge massiv gedemütigt: Es musste Territorien abtreten – wenn auch aus heutiger Sicht nicht sehr viele –, durfte nur noch eine Mini-Armee von 100.000 Mann unterhalten, wurde zu absurden Reparationszahlungen verurteilt und musste sich die moralische Schuld für den Ausbruch des Krieges allein zuschreiben lassen.

Aus Kommunismus wurde Oligarchen-Kumpanei

Die Lunte war gelegt für den nächsten Ausbruch von Hass und den daraus resultierenden Eskalationsstufen. Versailles war eine der Hauptursachen für den Aufstieg Hitlers. Ein gedemütigtes Volk folgte einem rachsüchtigen Gernegroß ins Verderben.

Der Fall der Mauer vor 25 Jahren war der sichtbare Anstoß für den Untergang des Sowjetimperiums, wenn auch nicht die Ursache. Die UdSSR verlor ihre Satellitenstaaten Polen, das Baltikum, die DDR, Rumänien, Bulgarien.

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Dann kollabierte sie selbst und tauschte den Kommunismus gegen die Herrschaft einer Kumpanei aus ehemaligen KGB-Offizieren und jungen Parteifunktionären, die Reichtum und Ressourcen des Landes unter sich aufteilten wie Erben nach dem Tod des vermögenden Vaters. Aus dem Kommunismus wurde die große Koalition von Oligarchen und Geheimdienstlern – mit durchaus mafiösen Akzenten und den entsprechenden Fehden, siehe Chodorkowski.

Was vom Westen – und vor allem von den ehemaligen Ostblock-Staaten zu Recht als Sieg der Freiheit über die kommunistische Diktatur gefeiert wurde, hätte aus russischer Sicht ebenso als Befreiung betrachtet werden können, was es ja auch war.

Die Sowjetunion war hochgerüstet, aber wirtschaftlich schwach: Panzer auf dem Roten Platz in Moskau
Die Sowjetunion war hochgerüstet, aber wirtschaftlich schwach: Panzer auf dem Roten Platz in Moskau
Quelle: AFP

Immerhin war der sowjetische Kommunismus nicht gerade ein Erfolgsmodell: sündhaft teure Rüstung, um mit der Nato Schritt halten zu können, eine Wirtschaft ständig am Abgrund, ein diktatorisches Zwangssystem mit permanenter Geheimdienstüberwachung, Gefängnis, Folter und Straflagern in Sibirien.

Keine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, zu Karrieren außerhalb des Staats- und Parteiapparates: eine triste Zwangsgesellschaft. Und auch die militärische Herrschaft über die Staaten des Warschauer Paktes kostete Unsummen. Kolonialismus ist auf die Dauer kein lohnendes Geschäft.

Insofern war der Zusammenbruch der Sowjetunion für Russland ein Segen. Doch Russland hat nicht viel daraus gemacht. Vielleicht ist das der Kern des gegenwärtigen Problems: das Versailles-Syndrom, das Gefühl einer Niederlage, eines tiefen Falles, einer elementaren Erniedrigung.

Dass „früher alles besser war“ ist ja zumeist kein objektiver Tatbestand, sondern eine aus dem Elend der Gegenwart in die Vergangenheit gerichtete Projektion. Da nutzen der russischen Seele auch die Millionenyachten der Oligarchen nichts, da hilft es nicht, wenn sie Fußballvereine sponsern und Villen in Südfrankreich und Sardinien kaufen.

Europa zittert wieder

Damals, vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, galten die Russen noch etwas auf der Welt, immerhin hatte man Angst vor ihnen. Das hat Putin jetzt wieder erreicht. Und vielleicht deshalb hat er eine so große Unterstützung in der russischen Bevölkerung.

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Russland will nicht mehr von einem politisch und psychologisch ahnungslosen Obama als nebensächliche Mittelmacht abgetan werden. Wenn man den russischen Präsidenten nicht auf Augenhöhe in Sydney und anderswo empfangen möchte, dann lässt er sich eben von seinen Kriegsschiffen eskortieren. Und das scheint ihm auch noch Spaß zu machen – fast so viel, wie sich mit männlich freiem Oberkörper beim Angeln oder beim Kampfsport ablichten zu lassen.

Schon lange war er nicht mehr so wichtig. Steinmeier und Merkel geben sich bei den Russen die Klinke oder den Telefonhörer in die Hand, Europa erzittert vor Angst, dass die Russen kommen könnten: erst auf der Krim, dann im Osten der Ukraine – und dann vielleicht im Baltikum, in Polen und am Ende gar in Ost-Berlin.

Lehren des Kalten Krieges

Die Salami-Taktik-Psychose feiert unfröhliche Wiederauferstehung. Ein Untoter namens Iwan der Schreckliche geistert durch die Medien. Putin darf im deutschen Fernsehen zur besten Sendezeit seine Sicht der Dinge schildern: in sich schlüssig – wie jedes Wahnsystem.

Fragt sich, welches historische Szenario wir gerade erleben: Sarajevo 1914, München 1938, Berlin 1961 oder Kuba 1962? Vielleicht sollte man aus dem Kalten Krieg und seinen beiden Erfolgsmodellen zur Krisenbewältigung Berlin und Kuba lernen. Damals war die Nato kompromissbereit außerhalb ihrer Grenzen, aber knallhart in der Verteidigung ihrer Mitgliedsstaaten.

Und man respektierte – notgedrungen – den Gegner, denn der war zwar arm, aber gefährlich. Völker und ihre Politiker, die unter dem Versailles-Komplex leiden, sind unberechenbar. Da kann man selbst dreimal Recht haben. Von Kennedy und Chruschtschow, von Bush Senior, Kohl und Gorbatschow zu lernen kann nicht ganz falsch sein. Man wünscht sich ein paar echte Putin-Versteher.

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