Kommentar :
Die letzte Lektion der Odenwaldschule

Melanie Mühl
Ein Kommentar von Melanie Mühl
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Die Mauern der Odenwaldschule bröckelten schon lange, doch sie blieben stehen. Jetzt ist die Schule pleite und schließt. Endlich wurden die Opfer des Missbrauchsskandals gehört.

Jahrelang sah es so aus, als könne kein noch so monströses Vorkommnis die Festung Odenwaldschule zum Einsturz bringen. Kaum war man überzeugt: Diese Nachricht wird jene einst von der linken Elite bejubelte reformpädagogische Vorzeigeinstitution nicht überstehen, wurde man eines Besseren belehrt.

Bereits 1999 enthüllte die „Frankfurter Rundschau“ den sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule und nannte den Hauptbeschuldigten: Gerold Becker, den ehemaligen Leiter. Dass es sich bei den Verbrechen nicht um Einzelfälle handelte, auch daran bestand kein Zweifel. Nur: Niemand, nicht einmal die Medien, interessierte sich fatalerweise für den Skandal. Die Akte Odenwaldschule wurde wieder geschlossen. Bis zum Jahr 2010, als die Jubiläumsfeier zum hundertjährigen Bestehen vor der Tür stand und Missbrauchsopfer ihr jahrzehntelanges Schweigen brachen.

Der verbrecherische Abgrund, in den wir seither blicken, ist immer tiefer geworden. Mindestens 132 Schutzbefohlene wurden sexuell missbraucht. Die Mauer der Odenwaldschule bröckelte, doch sie blieb stehen, was einem Wunder glich. Einem Wunder glich auch, dass Eltern ihre Kinder weiterhin in Ober-Hambach anmeldeten, als sei die Vergangenheit für die Gegenwart unerheblich. Die Schulleitung versprach zu handeln. Von intensiver Aufarbeitung war die Rede und von einer Auflösung der in die Kritik geratenen Familienstruktur. Kein Ort in Deutschland sei jetzt, da die medialen Scheinwerfer auf Ober-Hambach gerichtet seien, derart sicher wie die Odenwaldschule, tönten die Unbeirrbaren, die weiterhin an eine funktionierende Gemeinschaft glaubten.

Kaum Neuanmeldungen

Die Absurdität dieser Beschwichtigungsrhetorik zeigte ein Fall aus dem vergangenen Jahr: Ein Lehrer wurde entlassen, weil bei ihm kinderpornographisches Material entdeckt worden war. „Da kommt der Pädo“, sollen Schüler gerufen haben – zu Beckers Zeiten lautete ein Spottvers: „Der Becker, der Becker, der findet Jungens lecker.“

Am Wochenende erreichten uns wieder Nachrichten aus Ober-Hambach: Die Odenwaldschule ist pleite. Es gibt kaum Neuanmeldungen und Kreditgeber ließen sich auch nicht finden. Am Ende des Schuljahres schließen die Pforten. „Wie laut soll ich denn noch schreien?“ lautet der Titel eines Buches, geschrieben von Andreas Huckele (alias Jürgen Dehmers), einem der Missbrauchsopfer. Er und viele andere haben in der Vergangenheit sehr laut geschrien. Dieses Mal wurden sie gehört.