Ein Polizeistaat im Paradies

Mit ihren Stränden, Kulturschätzen und dem mediterranen Flair könnte die Krim ein kleines Paradies sein. Doch seit der Annexion durch Russland fegt eine Welle der Repression über die Halbinsel.

Andreas Rüesch, Simferopol
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Geboren als Ukrainer, wachsen krimtatarische Kinder nun ungefragt als russische Bürger auf. Die Annexion der Krim wird von vielen Tataren abgelehnt. (Bild: de Russé / Lucas)

Geboren als Ukrainer, wachsen krimtatarische Kinder nun ungefragt als russische Bürger auf. Die Annexion der Krim wird von vielen Tataren abgelehnt. (Bild: de Russé / Lucas)

Wer der neue Herr auf der Krim ist, wird einem auf der Fahrt über das Land unablässig in Erinnerung gerufen. Von Hunderten von Plakaten blickt ein verschlagen lächelnder Wladimir Putin auf seine Untertanen herab. Dazu die Parole: «Krim. Russland. Für immer.» Daran, dass der Kreml die Macht hier fest im Griff hat, besteht kein Zweifel. Zwei Jahre nach dem dubiosen Referendum, das Moskau als Feigenblatt für die Annexion der ukrainischen Teilrepublik diente, ist in der russischen Mehrheitsbevölkerung viel Zustimmung zum Anschluss zu spüren. Zwar klagen auch Russen über den Bürokratismus der neuen Behörden, das Ausbleiben des erhofften Booms und die Inflation, die im letzten Jahr bei 26 Prozent lag und damit doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Aber für die Zugehörigkeit zu Russland würde wohl weiterhin eine Mehrheit stimmen, selbst unter demokratischen Vorzeichen.

Putins «Geschenk»

Doch von Demokratie ist die Krim weit entfernt, und darin liegt das eigentliche Problem. Mit der Annexion sind nicht nur der Rubel, der Doppeladler und andere Symbole russischer Staatlichkeit auf die Krim gelangt, sondern auch die autoritären Mittel des Putin-Regimes. Wie die Bevölkerung auf dem Festland werden nun auch die gut zwei Millionen Bewohner der Krim über die Staatsmedien mit antiwestlicher und antiukrainischer Propaganda indoktriniert, ein Prozess, den ein einheimischer Anwalt als «Vergewaltigung der Hirne» bezeichnet. Als Herrschaftsinstrumente dienen auch paramilitärische Verbände, der Geheimdienst FSB und die völlig willfährige Staatsanwaltschaft. Hausdurchsuchungen bei Dissidenten, politisierte Anklagen, Enteignungen und gezielte behördliche Schikanen gehören zum Alltag. Die einst freiheitliche Atmosphäre auf der Halbinsel ist einem Klima der Repression gewichen.

Wie in allen funktionierenden Diktaturen stört dies nur eine Minderheit. Aber jene, die sich mit der neuen Lage nicht abfinden, beschleicht zunehmend ein Gefühl von Angst und Ausweglosigkeit. Der Besitzer einer Reisefirma, ein ethnischer Ukrainer aus Simferopol, der wegen des Zusammenbruchs des internationalen Tourismus praktisch arbeitslos geworden ist, schaut sich während unseres Treffens auf der Strasse ständig misstrauisch um: «Es gibt hier heutzutage überall Ohren.» Eine Lehrerin berichtet von einer Kollegin, die eine neue Arbeit beim FSB gefunden hat – und dort nichts anderes tut, als Mitteilungen in Online-Netzwerken auszuwerten. Die Namen der beiden Gewährsleute können nicht genannt werden; wer wie sie die Rückkehr der Krim unter ukrainische Kontrolle fordert, riskiert ein Strafverfahren wegen «Extremismus».

Unfrei in der eigenen Heimat

Besonders stark unter der Repression zu leiden haben die Krimtataren. Die Nachfahren der Goldenen Horde, die auf eine stolze Geschichte der Eigenstaatlichkeit während des Krim-Chanats vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zurückblicken können, bilden heute nur noch eine kleine Minderheit von 13 Prozent der Bevölkerung. Aber ihre starke nationale Identität und ihre Mobilisierungskraft machen sie zu einem ernstzunehmenden politischen Faktor. Die Führer der Krimtataren haben die Annexion grossmehrheitlich verurteilt und damit den Zorn Moskaus heraufbeschworen. Schritt für Schritt wurden sie seither marginalisiert.

«In den letzten beiden Jahren haben wir nichts als Drohungen erhalten», sagt Ilmi Umerow, ein früherer Vizeministerpräsident der Krim und langjähriger Chef des Bezirks Bachtschisarai. Umerow hatte anfangs noch auf eine Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern gehofft, doch wenige Monate nach der Annexion gab er auf. Sein letzter offizieller Akt war, in seiner Personalakte die eigene Entlassung einzutragen. Stolz zeigt er den Amtsstempel, den er dafür verwendete – nicht etwa den Doppeladler, sondern den Dreizack, das ukrainische Staatsemblem.

In Bachtschisarai regieren heute moskautreue Politiker, aber Umerow will sich nicht den Mund verbieten lassen, obwohl der FSB auch ihn mit stundenlangen Verhören einzuschüchtern versuchte. Trotzig schmückt er sein Arbeitszimmer mit der hellblauen Flagge der krimtatarischen Autonomisten. Dass es gegen die Besetzer kein Wundermittel gibt, ist sich der Arzt Umerow bewusst. Die von ihm angeregte Schaffung einer Exilregierung und bewaffneter tatarischer Freiwilligenverbände in der Ukraine hätte seiner Ansicht nach vor allem symbolischen Charakter. «Niemand wird die Krim mit dem Säbel zurückerobern.» Aber vom Westen erwartet Umerow die Einsicht, dass die klar gegen das Völkerrecht verstossende Annexion der Krim ein gefährlicher Präzedenzfall ist, der nicht Bestand haben darf.

Russland verletzt seine internationalen Verpflichtungen aber nicht nur mit der Einverleibung der Krim, sondern auch mit der massiven Einschränkung von Grundrechten wie Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit, die es als Mitglied des Europarats akzeptiert hat. Der Medschlis, das gewählte Repräsentativ-Organ der Krimtataren, erhält seit fast zwei Jahren keine Bewilligungen mehr für öffentliche Anlässe, nicht einmal für die traditionelle Trauerkundgebung zum Jahrestag der von Josef Stalin 1944 befohlenen Deportation der Krimtataren nach Zentralasien. Als Begründung für die Demonstrationsverbote dienen fadenscheinige Argumente wie das «ungewöhnlich heisse Wetter» oder die Sorge um den Tourismus.

Ein anderes Beispiel ist die Schliessung des krimtatarischen Fernsehkanals ATR vor einem Jahr. Er erhielt nach der Annexion keine neue Lizenz mehr und ist seither gezwungen, von Kiew aus zu senden. Die frühere Vizedirektorin des Senders, Lilja Budschurowa, kritisiert die Schliessung im Gespräch als «Schlag gegen das gesamte krimtatarische Volk». ATR habe versucht, sich anzupassen, habe Selbstzensur betrieben und Begriffe wie «Annexion» oder «Besetzung» gemieden – vergeblich. Das herrschende Klima fühle sich an, wie wenn einem der Hals zugeschnürt werde.

Budschurowa hat nicht nur ihre Stelle verloren, sondern wurde wie viele prominente Krimtataren auch Opfer einer schikanösen Hausdurchsuchung. Im November drangen nachts zwei Dutzend maskierte Bewaffnete in ihre Wohnung ein, durchwühlten ihre Schränke, versetzten ihre achtjährige Enkelin in Todesangst und nahmen alle Computer mit. Trotzdem habe sie Glück gehabt, meint Budschurowa, denn zumindest habe man ihr nicht heimlich «Beweismaterial» untergeschoben, wie dies anderen passiert sei.

Teile und herrsche

Anfangs hatte Putin noch freundliche Worte für die Krimtataren gefunden; er erklärte ihr Idiom nebst dem Russischen und Ukrainischen zur offiziellen Staatssprache der Krim und erliess ein Dekret zur Wiedergutmachung des unter Stalin an den Krimtataren verübten Unrechts. Doch reale Folgen zeigte dies nicht. Die neuen Machthaber in Simferopol wählten vielmehr eine Taktik des «Teile und herrsche»: Einige Repräsentanten der Krimtataren wurden des Landes verwiesen, andere eingeschüchtert und in die innere Emigration getrieben, wieder andere auf die Seite Moskaus gelockt.

Die Folge ist eine Spaltung der krimtatarischen Elite. Ihre radikalsten Vertreter agitieren vom ukrainischen Festland aus, unter ihnen der Medschlis-Vorsitzende Refat Tschubarow, der beispielsweise die von proukrainischen Freischärlern durchgesetzte Handels- und Energieblockade gegen die Krim offen unterstützt. Damit hat sich die Exilführung jedoch in ein gefährliches Fahrwasser begeben. Denn bei der Blockade machen die Freischärler gemeinsame Sache mit zwielichtigen Figuren des nationalistischen Rechten Sektors und verübten Sabotageakte wie die Sprengung von Strommasten im letzten Herbst. Die dadurch verursachten Stromausfälle und Versorgungsprobleme tragen den Krimtataren in ihrer Heimat keine Sympathien ein. Vor allem aber machen solche paramilitärischen Aktionen den Medschlis juristisch angreifbar. Der Vertretung der Krimtataren droht seit einigen Wochen die Einstufung als «extremistische Organisation» und damit ein Verbot.

Anpassung oder Widerstand

Die auf der Halbinsel verbliebenen Medschlis-Führer geraten dadurch zwischen Hammer und Amboss. Der Vizevorsitzende des Gremiums, der Politologe Nariman Dscheljal, heisst im Gespräch die Blockade nicht gut, will sich aber auch nicht von der Exilführung unter Tschubarow distanzieren. Er stellt sich auf ein Verbot des Medschlis ein und befürchtet, dass dadurch auch die 2500 registrierten Anhänger der Organisation ins Visier der Strafverfolgungsbehörden geraten. Das drohende Verbot sieht Dscheljal als Verletzung des von der Uno deklarierten Rechtes indigener Völker auf eigene repräsentative Gremien. Auch politisch wäre es wohl ein Eigentor Russlands. Denn in der Person von Dscheljal, einem moderaten, gebildeten und konsensorientierten Politiker, hätten die Machthaber einen idealen Partner. Von einem Dialog mit den Krimtataren scheint Moskau jedoch nichts zu halten.

Dadurch wächst die Gefahr einer Radikalisierung in Teilen dieser Minderheit – ein Szenario, das die Journalistin Budschurowa für sehr real hält. Sie beobachtet, wie aus einem Gefühl der Ohnmacht immer mehr Menschen Trost im Islam suchen, und sie befürchtet, dass die Attraktivität militanter Islamistengruppen steigen könnte. Eindringlich warnt auch der moskautreue Rektor der Fachhochschule von Simferopol, Fewsi Jakubow, die krimtatarische Jugend davor, dem Aufruf der Exilführung Folge zu leisten und sich den Freiwilligenverbänden in der Ukraine anzuschliessen. «Wir Krimtataren müssen hier leben, in unserer historischen Heimat.»

Anpassung statt Widerstand ist die Strategie, für die sich derzeit die meisten Krimtataren entscheiden. Aber innerhalb der eigenen vier Wände brodelt die Wut. Der Händler Reschat Ismailow (Name geändert) lässt es sich nicht nehmen, den Besucher aus dem Westen unter seinem Dach zu beherbergen. Um einen Tisch mit einem dampfenden Plow und eingelegtem Gemüse sitzen seine Freunde, im Hintergrund läuft dank Satellit das verbotene Programm von ATR. Reihum erzählen die Anwesenden von den grossen und kleinen Diskriminierungen gegen die Tataren, von der Russifizierungskampagne an den Schulen, von einem Verwandten, der wegen der Teilnahme an einer Demonstration in die Mühlen der Justiz geriet und ausser Landes fliehen musste. Dann ist es Zeit zur Nachtruhe und Ismailow spricht den vielleicht bezeichnendsten Satz: «Wir beten jeden Tag, dass Russland auseinanderfällt – nur so können wir unsere Freiheit zurückbekommen.»

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