Die russische Wirtschaft steckt in einer schwierigen Situation. Im vergangenen Jahr ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um vier Prozent gesunken, die Inflation ist gestiegen. Was erwarten Sie für 2016?
Jewgenij Gontmacher: Ich denke, dass BIP wird in diesem Jahr weniger stark sinken als 2015, aber die negative Entwicklung setzt sich dennoch fort. Nach den Prognosen erwartet man minus ein Prozent. Ich glaube aber, die Inflation wird gleichzeitig wieder im zweistelligen Bereich - bei etwa zehn Prozent - landen. Mit anderen Worten: es erwartet uns nichts Gutes, die russische Wirtschaft befindet sich weiter im Fall und hat den Grund noch nicht erreicht.
Zur Person
Prof. Dr. Jewgenij Gontmacher, von 1992 bis 2003 stellvertretender russischer Minister für Soziale Aufgaben, seit 2008 Vorstandsmitglied des Instituts für Moderne Entwicklung (INSOR), seit 2009 Vizedirektor des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften und seit 2012 Mitglied des Komitees für bürgerschaftliche Initiativen.
Sie sind auch ein Experte für soziale Fragen. Welche Stimmung herrscht bei den Russen? Protestieren sie oder ist ihre Leidensgrenze noch nicht erreicht?
Die Bevölkerung ist beunruhigt. Die Umfragen zeigen, die Bevölkerung versteht, dass sich ihre sozialen Umstände weiter verschlechtern werden. Das bedeutet konkret: sinkende Einkommen, weniger Chancen eines freien Zugangs zur staatlichen Gesundheitsversorgung sowie steigende Preise. Aber führt das zu Protest? Ich denke nicht. Es gibt kleine lokale Demonstrationen wie den Streik der Fernfahrer, der durch die Medien ging. Es gibt aber keine überregionale Bewegung wie damals „Solidarnosz“ in Polen oder in anderen Staaten Osteuropas. Und ich glaube auch, dass es das in den kommenden Jahren in Russland nicht geben wird.
Wie reagiert die Regierung auf die Situation? Bei dem Gaidar-Forum im Januar schien die Mehrheit der Regierungsmitglieder von einem neuen Status quo auf schlechterem Niveau zu sprechen, an den man sich jetzt gewöhnen sollte.
Die Regierung ist besorgt, rechnet aber mit einer baldigen Eindämmung der Krise. Spätestens ab 2017 rechnet man wieder mit einem bescheidenen Wirtschaftswachstum. Die Regierung ist der Meinung, die Krankheit sei nicht so kompliziert. Die Gründe seien die niedrigen Ölpreise und Sanktionen. Deswegen brauche man auch keine Reformen. Die Ölpreise würden wieder steigen. In Regierungskreisen kursiert momentan die Prognose, dass das Barrel Öl bald wieder 60 Dollar kosten würde. Und die Sanktionen? Eigentlich auch kein Problem. Europa würde irgendwann der Sanktionen überdrüssig sein und sie selbst wieder aufheben. Danach wäre dann wieder alles gut und schön. Alles, um den Status quo zu stützen. Es gebe temporäre Schwierigkeiten, sagt man der Bevölkerung. Die müsse man ein paar Jahre erdulden, aber dann wird alles wieder gut.
Fünf Folgen der Wirtschaftskrise in Russland
Das von den Einnahmen aus dem Geschäft mit Öl und Gas abhängige Russland steckt in einer Rezession. Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew erwartet einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent. Im Staatshaushalt klafft eine Finanzlücke.
Wegen des starken Ölpreisverfalls ist der Rubelkurs im vergangenen Jahr im Vergleich zum Dollar und Euro massiv eingebrochen. Den Höhepunkt erreichte der Wertverfall Mitte Dezember, als ein Euro vorübergehend fast 100 Rubel kostete - das entspricht einem Absturz von 90 Prozentpunkten seit Januar 2014. In den vergangenen Wochen erholte sich der Rubel ein wenig. Anfang März mussten Russen für einen Euro noch rund 66 Rubel bezahlen, fast doppelt so viel wie ein Jahr zuvor.
Um den schwächelnden Rubel zu stützen, verkauft die russische Zentralbank im großen Stil Devisen, die die Rohstoffmacht mit dem Verkauf von Öl und Gas angespart hat. Die internationalen Währungsreserven schrumpften nach Angaben der Notenbank seit März 2014 um mehr als ein Viertel von fast 500 Milliarden Dollar (etwa 460 Mrd Euro) auf 360 Milliarden Dollar.
Das Leben in Russland wird rasant teurer. Das merken die Menschen vor allem an der Miete und an der Kasse im Supermarkt. Das Wirtschaftsministerium erwartet für dieses Jahr eine Inflation von rund 12 Prozent. Die Preise für Lebensmittel stiegen in den vergangenen Monaten aber im Durchschnitt sogar um rund 20 Prozent. Experten warnen wegen der Krise in Russland vor einer deutlich höheren Inflation. Manche gehen von bis zu 17 Prozent aus.
Der massive Abzug von Kapital aus Russland ist nach Meinung von Ex-Finanzminister Alexej Kudrin ein schwerer Schlag für die heimische Wirtschaft. 2014 wurden nach Angaben der Zentralbank Vermögenswerte im Wert von mehr als 150 Milliarden Dollar (140 Mrd Euro) aus Russland verlegt, fast zweieinhalb Mal so viel wie im Vorjahr. Für 2015 erwarten die Behörden eine Kapitalflucht von bis zu 100 Milliarden Dollar. Wegen der Senkung der Kreditwürdigkeit Russlands durch internationale Ratingagenturen warnen Experten sogar vor Kapitalflucht von bis zu 135 Milliarden Dollar.
Das wirkt wie nur ein Teil der Wahrheit. Verschiedene Strukturreformvorschläge lagen in den letzten Jahren auf dem Tisch. Welche Reformen wurden denn nicht umgesetzt, was wurde verschlafen?
Das ist natürlich nur ein Teil der Wahrheit. In Wirklichkeit liegt das Hauptproblem im ganzen russischen Wirtschaftsmodell: Stabilität auf der Grundlage von Öl und Gas, ohne die Entwicklung anderer Wirtschaftsbereiche. Welche Reformen hat man verschlafen? Man muss zum Beispiel die starke Rolle des Staates in der Wirtschaft einschränken. Die Befreiung von der Dominanz der großen Staatskonzerne ist sehr wichtig. Man hätte einen Privatisierungsprozess beginnen können, wie Tschubais es seinerzeit beim ehemaligen Energiemonopol „RAO EES“ (Aktiengesellschaft Unified Energy System) getan hat. Dazu ist eine flexible Steuerpolitik notwendig, gerade für die kleineren Unternehmen. Es ist notwendig zu deregulieren. Und man sollte sich selbstverständlich mit dem Justizsystem beschäftigen. Wir brauchen ein unabhängiges Justizsystem, das echten Eigentumsschutz garantiert und bei dem man seine Rechte vor Gericht verteidigen kann.