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Kultur

Laboratorium für die neue Menschheit

Dresden macht einen neuen Anlauf, den Status Weltkulturerbe zu erlangen: Es bewirbt sich mit der 1909 gegründeten Gartenstadt Hellerau

Dresden und Weltkulturerbe: Das ist die Dissonanz schlechthin. Dresden war der Schuss vor den Bug, den die Unesco abfeuerte, um ihre Autorität in einem Akt der Notwehr zu wahren. Tatsächlich haben die Sachsen damals in ihrem Hochmut geglaubt, sich über die Spielregeln hinwegsetzen zu können. Ihr schlechtes Gewissen sprach einzig aus dem schönfärberischen Namen, den sie der aus 98.000 Tonnen Stahlbeton bestehenden vierspurigen Elbquerung gaben, mit der sie die Unesco brüskierten: „Waldschlösschenbrücke“. Seit 2009 ist der Weltkulturerbe-Titel weg, und bis heute trifft man in der sächsischen Politik Leute, die trotzig sagen, den brauche man auch gar nicht, die Touristen kämen ja sowieso.

Wenn die Sache mit Hellerau schief gehen sollte, dann liegt es an dieser unglaublichen Borniertheit.

Fünf Jahre nach dem Eklat wollen die Dresdner wieder auf die Liste. Nicht mit dem Elbtal, das ist verbrannte Erde, sondern mit den Hügeln nördlich der Stadt, die für jeden, der sich mit dem Design und der Architektur des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigt, ein Mekka bedeuten. Denn auf dem Heller entstand zwischen 1909 und 1914 „ein Laboratorium einer neuen Menschheit“ (Paul Claudel). Eine vom englischen Gartenstadtmodell des Ebenezer Howard inspirierte Mustersiedlung. Gelebte Utopie. Symbiose von Arbeiten – Zentrum waren die Deutschen Werkstätten – und Wohnen, Bildung und Kultur. Magnet für Reformbegeisterte, die aus ganz Europa anreisten, um Augenzeugen des von einem Tischler angestoßenen Experiments zu werden. Absolute Avantgarde.

Aus der kommenden, von der Kultusministerkonferenz (KMK) noch nicht abschließend beratenen Tentativliste – wie man hört, will der Fachbeirat, der die KMK berät, in diesen Tagen zusammentreten – kann Deutschland ab 2015 jedes Jahr eine Bewerbung um den Weltkulturerbetitel einreichen, und Sachsen hat Hellerau auf Platz eins seiner Vorschlagsliste gesetzt. Bundesweit konkurriert es unter anderem mit den Königsschlössern Ludwigs II., dem Branitzer Park des Fürsten Pückler oder dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Die Chancen für Hellerau stehen nicht schlecht, wenn man weiß, dass die Unesco auf europäische Romanik, Gotik oder Barock inzwischen etwas gelangweilt reagiert und sich interessante Vorschläge aus dem 20. Jahrhundert wünscht.

Mehr 20. Jahrhundert als in Hellerau geht gar nicht. Als Karl Schmidt die Gartenstadt konzipierte, war er, obwohl kaum über dreißig, schon ein berühmter Mann. Er hatte erfolgreiche Auftritte auf den Weltausstellungen in Paris und St. Louis hinter sich und gemeinsam mit dem aus München stammenden Architekten Richard Riemerschmid, der ihm „die ersten wirklichen Maschinenmöbel“ entwarf, aus seiner Fabrik in Dresden-Laubegast ein frühes IKEA gemacht: Das „Dresdner Hausgerät“ konnte zerlegt verschickt und vom Kunden zusammengesetzt werden. Allerdings waren die Qualitätskriterien völlig andere. „Wenn wir Holz zu Schundmöbeln verarbeiten“, so Schmidts Credo, „versündigen wir uns“ und „leben auch auf Kosten unserer Kinder und Enkel.“

Nachhaltigkeit, ökologisches Bewusstsein, Können. Peter de Mendelssohn nannte Karl Schmidt einen „Schöpfer“. In seinem Essay „Hellerau, mein unverlierbares Europa“ schrieb er: „Am Anfang war ein Mann namens Schmidt. Wem dies gotteslästerlich vorkommt, der braucht nicht weiterzulesen, denn er wird ohnehin nicht verstehen, worum es sich hier handelt.“

Die Mitarbeiter nannten Karl Schmidt den „Holz-Goethe“. Weil sie ihn deutsch und genial fanden. Karl Schmidt wiederum fand seine Mitarbeiter so wichtig, dass er seinen Fabrikneubau – die alten Produktionsstätten platzten aus allen Nähten – im Grünen plante und die Häuser seiner Arbeiter und Angestellten gleich drum herum. Dazu ein Theater, Schulen, ein Wasch- und Badehaus, ein Ledigenwohnheim, einen Markt und Geschäfte zum Einkaufen. Karl Schmidt erwirkte – und das war eine städtebauliche Sensation – die Befreiung von allen Bauvorschriften, damit Riemerschmid und seine Architektenkollegen Heinrich Tessenow, Hermann Muthesius, Kurt Frick und Theodor Fischer freie Hand hatten, allein „künstlerisch einwandfreie Gebäude“ zu errichten. „Hellerau“, erklärte Schmidt, „wird von selbst ein gewerblicher Mittelpunkt des aufblühenden deutschen Kunstgewerbes. Dabei entspricht es durchaus der natürlichen Entwicklung und den eigensten Aufgaben des deutschen Kunstgewerbes, dass unsere Kunstwerkstätten den Plan einer Betriebsverlegung aufs Land zu einer Gartenstadtgründung erweitern.“

Am 4. Juni 1908 ließ Schmidt die „Gartenstadt Hellerau G.m.b.H“ ins Dresdner Handelsregister eintragen. Die eine Hälfte des Stammkapitals – immerhin 300.000 Mark – brachten die Deutschen Werkstätten ein, die andere kam von philanthropisch gesinnten, reformorientierten Dresdner Bildungsbürgern.

Wohl selten entstand quasi aus dem Nichts etwas so Modernes und Aufregendes wie Hellerau. In nur vier Jahren Bauzeit entstanden zwischen 1909 und 1913 die neue Fabrik, 336 Wohnhäuser, die Geschäftshäuser am Markt, die Waldschänke und die Volksschule. Le Corbusier, Walter Gropius und Mies van der Rohe schauten vorbei, um sich in Hellerau neue Impulse für ihre Arbeit zu holen. Hauptanziehungspunkt war aber schnell die von dem Schweizer Musik- und Tanzpädagogen Emile Jacques-Dalcroze konzipierte „Bildungsanstalt“: das Festspielhaus. Ein bühnenloses Theater, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Angeregt durch Adolphe Appia, entwarf Tessenow einen 12 Meter hohen, 16 Meter breiten und 49 Meter tiefen Raum, in dem Zuschauerbereich und Spielfläche ineinander übergingen und nur fallweise durch einen absenkbaren Orchestergraben getrennt wurden. In dieser gelösten Atmosphäre entstand der Ausdruckstanz. Magisch angezogen von dem, was sie über Jacques-Dalcroze und seine Schülerin Mary Wigman hörten, pilgerten Serge Diaghilew und Waslaw Nijinski nach Hellerau, um sich choreographisch für die Uraufführung von Strawinskys „Sacre du printemps“ inspirieren zu lassen.

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Die ersten Festspiele im Sommer 1913 wurden eine Sensation. Glucks „Orpheus und Eurydike“ wirkte wie die Wiederkehr der griechischen Tragödie durch die Synthese der Künste, von der Wagner und Nietzsche geträumt hatten. Appia schuf den abstrakten Bühnenraum und führte Regie, Jacques-Dalcroze dirigierte die Hofkapelle und die Bewegungschöre. Im Publikum saßen so illustre Gäste wie Gerhart Hauptmann und Max Reinhardt, Harry Graf Kessler und Henry van de Velde. Lou Andreas-Salomé und Annette Kolb. Darius Milhaud und Sergej Rachmaninoff.

Upton Sinclair erinnerte sich noch Jahrzehnte später überwältigt: „Auf einem Hochplateau stand ein großer weißer Tempel mit glatten runden Säulen davor, und zu ihm zogen Menschenscharen, die von Orten überall auf der Erde, an denen Kunst geliebt und geschätzt wurde, gereist kamen.“

Über diesem Tempel prangt bis heute das Yin-Yang-Symbol, das Alexander S. Neill, der 1921 die Internationale Schule in Hellerau gründete, später in sein Summerhill-Schulwappen übernahm.

Der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise haben Hellerau ausgebremst. Der Kreativität tat das keinen Abbruch – Karl Schmidt entwickelte in den Deutschen Werkstätten ein Fertighaus – aber die „Gartenstadt Hellerau G.m.b.H.“ war gezwungen, Grundstücke zu verkaufen. 1921 spitzte sich die Lage derart zu, dass nur ein Eingreifen der Sächsischen Staatsbank und der Landessiedlungsgesellschaft den Bankrott verhindern konnte. Die 1923 vorgenommene Währungsreform überstand Hellerau ohne weiteren Substanzverlust, ab 1925 wurde sogar wieder gebaut: ein neues Rathaus, Reihenhäuser, Schmidts Holz-Fertighäuser. Auf der Dresdner Jahresschau „Wohnung und Siedlung“ sorgten die Deutschen Werkstätten im September 1925 mit dem von Bruno Paul entworfenen „Plattenhaus H 1018“ für eine Sensation. Es bestand aus 100 vorgefertigten Elementen, sah mit seinen raffinierten Schiebefenstern und Klappschiebeläden gut aus und sollte 15.800 Mark kosten. Zu viel? Vielleicht waren die Deutschen Werkstätten ihrer Zeit auch nur zu weit voraus. Es blieb bei dem Modell.

Die Nationalsozialisten haben sich Hellerau „ästhetisch mühelos“ unter „aktiver Mitwirkung von Riemerschmid und Schmidt“ angeeignet, wie Nils M. Schinker in seinem gerade erschienene Buch „Die Gartenstadt Hellerau 1909 – 1945“ schreibt. Zu DDR-Zeiten wurde aus den Deutschen Werkstätten ein „Volkseigener Betrieb“. Sie überlebten auch das. 1992 wurden die Deutschen Werkstätten von der Treuhand privatisiert. Dem Unternehmen geht es wieder gut. Sehr gut sogar. Man sagt es in Hellerau nicht gern so offen, aber was den Innenausbau von Luxusyachten angeht, sind die Deutschen Werkstätten international nahezu konkurrenzlos. Ab und zu machen die Meister aus Hellerau auch etwas im öffentlichen Raum. Sie haben eine spektakuläre Akustikwand für den Sächsischen Landtag gebaut und der neuen Dresdner Synagoge ein kostbares Innenleben gegeben. Sie können Hotels und Konferenzräume. Nur eins bringen sie nicht fertig: zu schludern. Denn jetzt gilt wieder, was Karl Schmidt im Unternehmen einst zum Dogma erhob: „Nach altem Brauch wollen wir in allen Dingen sein, nicht scheinen; darum erachten wir eine saubere, untadelige Ausführung als eine unserer vornehmsten Aufgaben.“

Fritz Straub, der die Deutschen Werkstätten heute leitet, erinnert sich an den Frühlingstag, an dem er zum ersten Mal nach Hellerau kam, so: „Hier stand, im schmeichelnden Sonnenlicht, ein Denkmal deutscher Design-Geschichte – ein heiliger Ort.“ Die Unesco wird kaum vergleichbare Stätten finden, und erst recht keine, die nach 100 Jahren noch immer in Betrieb ist. Dem Unternehmen geht es wieder gut. Sehr gut sogar. Kurzum: Die Unesco wird kaum vergleichbare Stätten finden, und erst recht keine, die nach 100 Jahren noch immer in Betrieb ist.

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