«Die Stimmung ist gefährlich»

Gehen im Nahen Osten die Wogen hoch, wird auch der Antisemitismus sichtbarer − besonders in sozialen Netzwerken. Jetzt schalten sich Schweizer Politiker ein und warnen vor dessen neuer Salonfähigkeit.

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(flj. Bern)

«Nur ein toter Jude ist ein guter Jude»; «Wir müssen die Juden ausrotten»; «Hitler soll da weitermachen, wo er aufgehört hat»: Es sind schockierende Aussagen, welche im Vorfeld der Solidaritätskundgebung für Palästina Mitte Juli in Zürich auf Facebook gemacht wurden. Jemand rief dazu auf, die Demonstration ins «Judenviertel» zu verlegen und dort Gewalttaten zu begehen. Dass antisemitische Parolen während Kriegshandlungen im Nahen Osten zunehmen, ist nicht neu. Doch der Hass habe neue Dimensionen erreicht, beklagen jüdische Organisationen wie der Schweizerische Israelitische Gemeindebund. Auffällig ist auch, dass viele der Absender obiger Äusserungen junge Leute türkischer, albanischer, kosovarischer oder arabischer Herkunft sind. Martine Brunschwig Graf, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, spricht von einer «gefährlichen Stimmung». Die hemmungslosen Aussagen und die Aufrufe zur Gewalt seien nicht tolerierbar.

Tiefere Hemmschwelle

Trotz diesen besorgniserregenden Tendenzen blieben Schweizer Politiker bisher merkwürdig ruhig. Doch jetzt melden sich zwei Zürcher Bundespolitiker zu Wort: der jüdische SP-Nationalrat Daniel Jositsch sowie Felix Gutzwiller, FDP-Ständerat und Präsident der Aussenpolitischen Kommission. «Es scheint so, als wäre der Antisemitismus wieder salonfähig», sagt Jositsch. Die Hemmschwelle für antisemitische Äusserungen sei tiefer geworden. Deshalb müsse sich die Politik jetzt einschalten. Felix Gutzwiller teilt diese Meinung. Es gelte, klare Grenzen zu setzen. Kritik an Israel sei zwar legitim, aber es brauche eine klare Absage an den Antisemitismus.

Martine Brunschwig Graf, ehemalige FDP-Nationalrätin, erhofft sich ebenfalls mehr Engagement vonseiten der Politik. Strafrechtliche Verfahren, wie sie jetzt teilweise gegen die Urheber der antisemitischen Parolen eingeleitet wurden, reichten nicht. «In ihren Reden zum 1. August haben die Politiker nun Gelegenheit, klar Stellung zu beziehen gegen jegliche Form von Rassismus und Antisemitismus», sagt sie.

Auffällig ist vor allem das Schweigen derjenigen – meist linken – Politiker, die sich sonst den Kampf gegen Rassismus auf die Fahne geschrieben haben. Immerhin hat sich Daniel Vischer, Nationalrat der Grünen und Teilnehmer an der Pro-Palästina-Demonstration in Zürich, öffentlich vom Antisemitismus im Umfeld der Kundgebung distanziert. Dennoch gibt Daniel Jositsch zu bedenken, dass politische Akteure, die sich in dieser Thematik engagierten, eine besondere Verantwortung trügen, keine zusätzlichen Emotionen zu schüren.

Empirische Daten fehlen

Ob der Antisemitismus hierzulande tatsächlich zugenommen hat, lässt sich nicht objektiv beurteilen. «In der Schweiz fehlt dazu eine seriöse empirische Datenbasis. Wie in anderen Ländern Europas müsste längst ein glaubwürdiges Rassismus- und Antisemitismus-Monitoring eingeführt werden», sagt Yves Kugelmann, Chefredaktor des jüdischen Wochenmagazins «Tachles». Latenten Antisemitismus gebe es in der Schweiz seit je. Während Nahostkrisen werde er immer wieder sichtbar. Im jüngsten Gaza-Konflikt spielten aber soziale Netzwerke eine grössere Rolle als früher. «Vermutlich hat der Antisemitismus kaum zugenommen», so Kugelmann, «aber er verändert sich laufend in Form und Absender.»