Tanz auf dem Vulkan

Auch in seinem neuen Spielfilm bleibt sich der englische Sozialrealist Ken Loach treu. Er erzählt die Geschichte des Kommunisten James Gralton und des von ihm in Irland gegründeten Gemeindesaals.

Susanne Ostwald
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Jimmy (Barry Ward) und Oonagh (Simone Kirby) sind miteinander im Einklang. (Bild: PD)

Jimmy (Barry Ward) und Oonagh (Simone Kirby) sind miteinander im Einklang. (Bild: PD)

Als Jimmy Gralton 1932 aus New York zurück in seine irische Heimat reist, hat er dafür gute Gründe. Während die USA unter der schwersten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte leiden, blüht Irland nach Jahren des Bürgerkrieges allmählich wieder auf. Nach dem erbitterten Kampf um die Unabhängigkeit und gegen den 1921 geschlossenen Anglo-Irischen Vertrag mit der britischen Regierung, genannt «The Treaty», weht ein neuer Wind der politischen Freiheit. Der Kommunist Gralton, 1886 geboren, sieht die Stunde gekommen, um seinen Klassenkampf für die Rechte der (Land-)Arbeiter wiederaufzunehmen – und eine Institution erneut ins Leben zu rufen, die bereits 1921 gegründet worden war, später aber, während seiner langen Abwesenheit in Amerika, verfiel: die Pearse-Connolly-Hall, benannt nach zwei im Osteraufstand von 1916 getöteten Gewerkschaftern. Dieser in Selbstorganisation betriebene Gemeindesaal diente nicht nur für Tanzveranstaltungen und Kunst- sowie Sportkurse, sondern auch für Tribunale zur Regelung von Landstreitigkeiten. Und jetzt, 1932, wird diese Tradition wiederaufgenommen, sehr zum Missfallen der katholischen Kirche und der Parteigänger der rechtskonservativen Freistaatler – aber zur Freude von Ken Loach, welcher die Geschichte der Institution und ihres Gründers in «Jimmy's Hall» erzählt.

Wider die Feinde der Lebensfreude

Der 1936 geborene englische Filmemacher bleibt sich und seinen sozialistischen Überzeugungen auch in seinem jüngsten Film treu, wobei es ihm wiederum gelingt, sein politisch-gesellschaftliches Anliegen in eine Geschichte zu verpacken, die ohne Didaktik auskommt, dafür vor Lebensfreude und Gefühl nur so strotzt. Dabei kam ihm und seinem langjährigen Drehbuchautor Paul Laverty – es ist die zwölfte Gemeinschaftsarbeit – der Umstand zupass, dass die Geschichte des wahren James Gralton nicht vollständig bekannt ist. Daher nennen sie ihren Film «frei inspiriert», haben Teile davon (eine Liebesgeschichte) und Figuren (u. a. zwei Geistliche) erfunden und den Charakter der Hauptfigur zusammengesetzt aus Fakten und fiktiven Elementen. Um sich selber bei der Entwicklung der Geschichte und ihrer menschlichen Aspekte nicht im Weg zu stehen, haben Loach und Laverty für das Skript, das auf einem Bühnenstück von Donal O'Kelly beruht, die komplexen historischen Zusammenhänge geschickt komprimiert. Eigentlich müsste jeder Kinobesucher die exzellente Dokumentation über die Hintergründe des Films erhalten, welche der Presse zur Verfügung gestellt wurde und die jene Lücken schliesst, die der Film zwangsläufig offenlassen muss.

Loach, der auch Dokumentationen dreht – zuletzt «The Spirit of '45» (2013) –, beginnt seinen Film mit Archivaufnahmen aus New York, die zeigen, wie die Euphorie des Jazz-Age und der Wolkenkratzer-Ära nach dem Schwarzen Freitag von 1929 in Massenarbeitslosigkeit und soziales Elend umkippte. Dem Schwarz-Weiss dieser Bilder steht das saftige Grün Irlands gegenüber, durch welches Jimmy (Barry Ward) nun zu seiner Mutter (Aileen Henry) zurückreist, wo er bei der Landarbeit hilft, schon bald aber von der gelangweilten Dorfjugend dazu gedrängt wird, die Halle – Loach liess das Gebäude für die Dreharbeiten eigens in Irland bauen – wieder in Betrieb zu nehmen. Dank einem mitgebrachten Grammophon und den neuesten Jazzplatten aus New York wird alsbald wieder das Tanzbein geschwungen, unter den Argusaugen des Pastors, der am nächsten Tag von der Kanzel herab die Namen jener Sünder verliest, welche sich der teuflischen «Los-Angelisierung» der irischen Kultur hingegeben haben. Loach liebt die Kontraste, und dem sinnenfrohen Treiben beim Tanz, hinreissend inszeniert, stellt er die strenge Liturgie gegenüber, ohne jedoch den moralinsauren Pater Sheridan (Jim Norton) zur Karikatur verkommen zu lassen. Die smartesten Dialoge des Films sind jene zwischen ihm und Jimmy, zwei Gegnern auf Augenhöhe, die sich trotz ihren fundamentalen Differenzen gegenseitig respektieren. Weit weniger gnädig zeichnet Loach den eifernden und seine lebenslustige Tochter Marie (Aisling Franciosi) prügelnden Freistaatler O'Keefe (Brían F. O'Byrne).

Die Konflikte mit seinen radikalen Gegnern, welche die Kirche und die Staatsmacht auf ihrer Seite haben, spitzen sich für Jimmy im Laufe der Handlung dramatisch zu, denn es geht ihm um weit mehr als das Tanzen. Während sich einerseits die Kirche ganz abgesehen vom Widerstand gegen die in der Halle praktizierten «losen Sitten» das Recht als Distributorin von Bildung nicht nehmen lassen will und sich gegen die ebenfalls angebotenen Lese- und Malkurse wendet, führen andererseits die Auseinandersetzungen mit Landbesitzern, die arme Pächter von ihren kargen Höfen vertreiben, bald zu handfesten Konflikten. Jimmy allerdings ist sich der Solidarität der Dorfbewohner sicher, allen voran seine inzwischen verheiratete alte Freundin Oonagh (Simone Kirby). Sehr zärtlich ergründet Loach diese unerfüllte, nie ganz erloschene Liebe. Mit dem Einsatz dieser umwerfend natürlich wirkenden Schauspielerin hat Loach – so wie bei allen anderen Rollen, die er wie oft in seinen Filmen zum Teil mit lokalen Laien besetzt hat – ein enorm glückliches Händchen bewiesen.

Verteidigung der Freiheit

Mit «Jimmy's Hall» knüpft Loach, wenn auch nicht im Sinne einer eigentlichen Fortsetzung, an seinen Film «The Wind That Shakes the Barley» an, für welchen er 2006 die Goldene Palme von Cannes gewann und der von einem Bruderzwist während des irischen Unabhängigkeitskrieges erzählt. In «Jimmy's Hall» zeigt er, wie sich das Land weiterentwickelte, und Loach hat dabei freilich auch im Sinn, eine gedankliche Brücke zu unserer Zeit zu schlagen, in welcher vielerorts die Freiheit durch religiöse und politische Fundamentalisten bedroht ist. Gleichzeitig ist der Idealist Loach Realist genug, um zu erkennen, wie er im Interview sagt, dass er nicht daran glaube, mittels des Kinos Einfluss auf die politische Debatte nehmen zu können. Aber: «Wenn man ein politisches Bewusstsein hat, hat man keine Wahl», sagt er – und distanziert sich inzwischen von seiner kürzlich gemachten Aussage, «Jimmy's Hall» sei sein letzter Film. Vielleicht wolle er sich noch einen weiteren zum 80. Geburtstag in zwei Jahren schenken, sagt er nun. Ein Geschenk aber wäre es vor allem für sein Publikum.

Kinos Arthouse Piccadilly, Houdini in Zürich.