Cover
Titel
Am Wendepunkt. Deutschland und Frankreich um 1945 – zur Dynamik eines ‚transnationalen‘ kulturellen Feldes / Dynamiques d’un champ culturel ‚transnational‘ – L’Allemagne et la France vers 1945


Herausgeber
Oster, Patricia; Lüsebrink, Hans-Jürgen
Reihe
Frankreich-Forum (Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes) 7
Anzahl Seiten
425 S.
Preis
€ 33,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Thiemeyer, Université de Cergy Pontoise

Die transnationalen europäischen Kulturbeziehungen sind ein Forschungsfeld, das in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom erlebt hat. Es gibt inzwischen eine kaum noch überschaubare Menge von Publikationen vor allem zur Theorie transnationaler Beziehungen, in denen umfangreiche Forschungsprojekte skizziert und diskutiert werden. Demgegenüber blieb die Empirie dieser Forschungsansätze bislang sehr dünn, es gibt wenige Arbeiten zur transnationalen Kulturgeschichte, in denen die ambitionierten theoretischen Modelle tatsächlich umgesetzt werden.

Eine Ausnahme bilden hier die deutsch-französischen Kulturbeziehungen vor allem seit 1918. Kaum ein Feld transnationaler Geschichte hat derartige Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden, so dass inzwischen nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich, sondern auch die kulturelle Dimension der Beziehungen zwischen beiden Ländern als recht gut erforscht gelten können. Dies ist vor allem auf die Arbeiten von Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Hans Manfred Bock, Hélène Miard-Delacroix und anderen zurückzuführen, die sich seit einigen Jahren auch der Empirie transnationaler Beziehungen am deutsch-französischen Beispiel angenommen haben. Bemerkenswert an diesem Ansatz ist, dass er nicht nur in politisch-kultureller Hinsicht Grenzen überschreitet, sondern auch verschiedene wissenschaftliche Disziplinen integriert. Geschichtswissenschaftliche Methoden werden mit soziologischen und literaturwissenschaftlichen Ansätzen kombiniert, so dass man hier tatsächlich von gelungener Interdisziplinarität sprechen kann. Gleichwohl bleibt trotz dieser fraglos beachtlichen Forschungsleistungen eine gewisse Ratlosigkeit zurück: Die transnationalen deutsch-französischen Beziehungen sind ein so disparates Forschungsfeld geblieben, dass zusammenfassende Analysen bislang kaum möglich erscheinen. Die Forschungen wirken zufällig, oft wenig zusammenhängend, bisweilen willkürlich. Während dies die Anhänger konstruktivistischer Ansätze erfreuen mag, ist dies für analytisch orientierte Wissenschaftler ein Problem. Zweifellos sind hier auch die Grenzen der Methode zu sehen.

Die hier grob skizzierten Möglichkeiten und Grenzen transnationaler Kulturgeschichte werden auch im vorliegenden Band deutlich. Auch wenn die einzelnen Beiträge sehr interessante, bisweilen überraschende Ergebnisse präsentieren, bleibt man angesichts der Gesamtaussage des Bandes etwas ratlos.

Das Buch versammelt die Beiträge einer Sektion des Saarbrücker Romanistentages, die sich mit der Frage der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen im Übergang vom Zweiten Weltkrieg zur Nachkriegszeit beschäftigte. Drei große Themengebiete stehen im Vordergrund: Zum einen die Intellektuellenforschung, das heißt die Perzeption des jeweils anderen Landes bei französischen oder deutschen Intellektuellen. Martin Strickmann betont in diesem Kontext die Bedeutung der französischen Intellektuellen für den Wandel der Pariser Deutschlandpolitik. Unter dem Begriff „Allemagne Nouvelle“ wurde hier betont, dass es durchaus demokratische und humanistische Traditionen in Deutschland gebe, die den Nationalsozialismus bekämpft hatten. Intellektuelle wie Alfred Grosser, Joseph Rovan, Raymond Aron und andere hätten auf diese Weise die deutsch-französische Aussöhnung vorbereitet. Die Beiträge von Michel Espagne und Michel Grunwald zu den französischen Germanisten und insbesondere zu Robert d’Harcourt ergänzen diese Untersuchungen trefflich.

Eine zweite Sektion behandelt die deutsch-französischen Kulturbeziehungen während der Besatzungsjahre 1940 bis 1944 und ihre Nachwirkungen. Frank Rutger Hausmann stellt hier die auf den ersten Blick überraschende These auf, dass die deutsch-französischen Kulturbeziehungen nie so intensiv waren wie in diesen Jahren. Das Interesse französischer Intellektueller an Deutschland sei groß gewesen, ebenso habe sich die Kulturpolitik des Nationalsozialismus in besonderer Weise um Frankreich gekümmert. Charakteristisch für diese Beziehungen sei, dass sie weitgehend staatlich gelenkt waren, weil enge deutsch-französische Kulturbeziehungen im Interesse beider Regierungen gewesen seien. Nach einer kurzen Unterbrechung zwischen 1945 und 1949 hätten die so entstandenen Netzwerke weitgehend fortbestanden. In dieses Bild passt jedoch gerade nicht der Beitrag von Hans T. Siepe, der zwei bislang unbekannte Texte von Albert Camus vorstellt. Der erste bezieht sich auf die deutsche Besatzung von Paris, der zweite auf die französische Besatzung in Deutschland nach 1945. Karlheinz Stierle schlägt aus philologischer Perspektive einen weiten Bogen der deutsch-französischen Beziehungen vom 9. bis zum 20. Jahrhundert. Seine zentrale These ist, dass gerade der Dialog zwischen dem deutschen und romanischen Kulturraum die Differenzen konstruiert habe. Das trifft sich mit den Ergebnissen der geschichtswissenschaftlichen Nations-Forschung, die gerade im frühen 19. Jahrhundert die Entdeckung „des Anderen“ als konstitutives Element des deutschen und französischen Nationalismus erkannte. Einen methodisch völlig anderen Ansatz verfolgen Béatrice Fleury und Jacques Walter, die sich mit dem Gestapolager Neue Bremm in der Nähe von Saarbrücken als transnationalem, regionalem Erinnerungsort befassen. Während es in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine intensive transnationale Kommunikation über die Neue Bremm gegeben habe, sei diese zwischen 1950 und den 1970er-Jahren weitgehend eingeschlafen. Erst seit den 1980er-Jahren intensivierte sich die Diskussion zwischen saarländischer Landesregierung, Regionalhistorikern und Zeitzeugen wieder.

Die dritte und letzte Sektion befasst sich mit dem bilateralen Kulturtransfer. Der Beitrag von Joseph Jurt ergänzt sich in gewisser Weise mit jenem von Frank Rutger Hausmann, auch wenn Jurt den intensivsten kulturellen Austausch zwischen beiden Ländern nicht in die Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs, sondern während der französischen Okkupation in Deutschland sieht. „Der großen Aufnahmebereitschaft in Deutschland entsprach ein kulturmissionarischer vonseiten der Besatzungsmacht.“ (S. 225) Allerdings habe es keine Gleichwertigkeit gegeben. Einem französischen kulturellen Überlegenheitsgefühl entsprach ein deutsches kulturelles Minderwertigkeitsempfinden. Rainer Hudemann arbeitet noch einmal die komplexe janusköpfige französische Besatzungspolitik heraus. Je nach Perspektive, je nach Politikfeld verschieden mischten sich in der französischen Besatzungspolitik in Deutschland Elemente der Kooperation und der Repression mit je langfristigen Folgen für die Zukunft. Ein wesentliches Medium transnationaler Kulturbeziehungen sind Literatur, Zeitschriften und Schulbücher. Patricia Oster und Fritz Niess untersuchen diese am Beispiel der Zeitschriften „Lancelot“ und „Die Wandlung“ (Oster) und dem Roman „Siegfried“ von Jean-Luois Curtis (Niess). Dorothee Röseberg hat sich die in der DDR genutzten Französisch-Bücher „Ici la France“ vorgenommen und stellt fest, dass diese sehr stark durch die Erfahrung von Exil und die Emigration deutscher Kommunisten während der Zeit des Nationalsozialismus geprägt waren. Der französische Staat nach 1945 wurde hierin als feindlich angesehen, weil er einerseits die französischen Kommunisten, andererseits die algerischen Nationalisten bekämpfte und ausgrenzte.

Einen ganz anderen Ansatz verfolgt schließlich Diemar Hüser, der nicht direkt auf den deutsch-französischen Kulturtransfer blickt, sondern die jeweilige Rezeption US-amerikanischer Populärkultur. Diese war in beiden Ländern von hoher Bedeutung für die Kulturgeschichte der Nachkriegszeit, jedoch mit spezifischen Unterschieden. Diese betreffen einerseits eine Phasenverschiebung in der Rezeption – in Westdeutschland früher als in Frankreich – andererseits war die französische Jugendkultur viel stärker national konnotiert. Auch wenn man amerikanische Vorbilder adaptierte, wurden sie stärker als in Deutschland in die nationale Kultur eingepasst.

Es fällt schwer eine Bilanz der Beiträge zu ziehen und auch die Herausgeber verzichten leider auf eine analytische Zusammenfassung. Gerade aber die Widersprüchlichkeit, die vielfach unabhängig und parallel voneinander vorgetragenen Initiativen, ihr persönlicher, bisweilen privater Charakter scheint ein wesentliches Charakteristikum transnationaler deutsch-französischer Beziehungen zu sein.