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Absturz von Flug MH17 Das seltsame Schweigen der Ermittler

Der Absturz von Flug MH17 über der Ukraine wirft immer noch viele Fragen auf. Um die Ermittlungen ist es auffällig still geworden. Kritiker werfen dem Westen vor, Beweismaterial zurückzuhalten - zu Recht?
Von Rainer Leurs und Markus Becker
Helfer an der Absturzstelle nahe Donezk (am 17. Juli): "Wenig eindeutige Indizien"

Helfer an der Absturzstelle nahe Donezk (am 17. Juli): "Wenig eindeutige Indizien"

Foto: MAXIM ZMEYEV/ REUTERS

Erfolgsmeldungen sind es nicht gerade, mit denen der niederländische Sicherheitsrat OVV zuletzt an die Öffentlichkeit ging. "Die Untersuchung wird von Den Haag aus fortgesetzt ", teilte die bei den Ermittlungen zu Flug MH17 federführende Behörde kürzlich mit. Gemeint war: Weil es an der Absturzstelle in der Ukraine nicht sicher ist, kehren die 25 internationalen Ermittler in die Niederlande zurück.

Kein einziges Mal hatten es die Experten bis dahin geschafft, zu den Trümmern der am 17. Juli abgestürzten Boeing 777 vorzudringen, um Wrackteile oder mögliche Raketenfragmente einzusammeln. Lediglich unter Leitung der Ukraine waren kurz Ermittler vor Ort, außerdem Einsatzkräfte zur Bergung der Todesopfer.

Bei so wenig Material aus erster Hand kommt anderen Daten zum Absturz besondere Bedeutung zu: Radaraufnahmen der Flugsicherung etwa, Satellitenbildern und nicht zuletzt den Daten der Flugschreiber. Publik wurde bislang jedoch kaum etwas. Stattdessen ist es nach gut einem Monat eigenartig still geworden um die Katastrophe von Flug MH17 - der OVV verweist lediglich auf seinen Zwischenbericht, der Anfang September erscheinen soll. Teilergebnisse, etwa zur Analyse der Blackbox, werde man nicht veröffentlichen.

Das ruft Verschwörungstheoretiker auf den Plan, sorgt aber auch bei einigen seriöseren Beobachtern für Verwunderung. Nachdem die USA und andere westliche Regierungen bald nach dem Absturz die Schuldigen ausgemacht zu haben schienen, sind bis heute keine klaren Beweise dafür veröffentlicht worden, wer die Boeing mit 298 Menschen an Bord abschoss. Nach wie vor bezichtigen sich die Konfliktparteien gegenseitig - Russland und die Separatisten auf der einen, die Regierung in Kiew und die Nato auf der anderen Seite.

"Ich stelle fest, dass einige Teile des Gesamtbilds fehlen"

"Ich möchte mich nicht an Verschwörungstheorien beteiligen", sagt Luftfahrtexperte David Cenciotti , ein ehemaliger Leutnant der italienischen Luftwaffe. "Aber ich stelle fest, dass einige Teile des Gesamtbilds fehlen." Zu wenige Details zum Absturz seien bislang bekannt.

Bereits Ende Juli hatte sich dazu eine Gruppe von US-Geheimdienstveteranen in einem offenen Brief an Barack Obama gewandt  und ihn aufgefordert, die Erkenntnisse zum Absturz von Flug MH17 publik zu machen. "Vorwürfe gegen Russland sollten auf überzeugenden, handfesten Beweisen beruhen, gerade bei einem so brisanten Vorfall", heißt es in dem Schreiben, das unter anderem vom Whistleblower und ehemaligen Technischen NSA-Direktor William Binney  unterzeichnet ist. Stattdessen würden "auf amateurhafte Weise fadenscheinige und wenig eindeutige Indizien präsentiert".

In die gleiche Kerbe schlägt ein Kommentator der großen malaysischen Tageszeitung "New Straits Times". "Es ist eine Farce: Das Land mit dem besten Spionageapparat der Welt ist so weit gesunken, dass es körnige YouTube-Videos als Grundlage seiner politischen Entscheidungen präsentieren muss", schreibt dort der Journalist Nile Bowie .

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Flugzeugabsturz in der Ukraine: Das tragische Ende von Flug MH17

Foto: Dmitry Lovetsky/ AP

Ohne Zweifel tobt seit dem Absturz der Malaysia-Airlines-Maschine eine Propagandaschlacht, die vor allem über die Medien ausgetragen wird. Für etwas Klarheit könnte der Zwischenbericht des OVV sorgen - aber auch zu diesem Dokument gibt es bereits Irritationen. So meldet die "New Straits Times" unter Berufung auf den malaysischen Transportminister , der Bericht sei fertig und liege allen beteiligten Staaten vor. Nur die Öffentlichkeit müsse noch bis Anfang September warten.

Auf Anfrage will sich der OVV nicht dazu äußern, wie weit die Arbeit fortgeschritten ist. Allgemeiner lässt der Sicherheitsrat jedoch wissen, vor der Veröffentlichung würden Konzeptversionen des Papiers besprochen  - und zwar innerhalb des Ermittlerteams, an dem neben den Niederlanden eben auch Malaysia beteiligt ist. Gut möglich, dass auf diesem Weg ein Exemplar nach Kuala Lumpur kam.

Bemerkenswert ist, dass einige der von Kritikern am lautesten eingeforderten Beweismittel dem OVV wohl durchaus vorliegen. "In den vergangenen Wochen haben die Ermittler Daten der Flugsicherung, Radarbilder und Satellitenaufnahmen gesammelt", sagte der niederländische Koordinator für Terrorismusbekämpfung, Dick Schoof, in der vergangenen Woche bei einer Fragestunde im Parlament . "Auch die Flugschreiber liefern Informationen. Diese Daten werden momentan miteinander verglichen und analysiert."

Deutscher Beamter an Blackbox-Analyse beteiligt

Die Bundesregierung dürfte über die Ermittlungen ohnehin bestens informiert sein: Experten der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) gehören dem Ermittlerteam an. Wie ein BFU-Mitarbeiter bestätigte, war der Direktor der Behörde persönlich beim Auslesen von Flugdatenschreiber und Stimmenrekorder im britischen Farnborough dabei. Mehrere Tage habe man sich dort mit dem Inhalt der Blackbox beschäftigt.

Fraglich ist allerdings, ob die Aufzeichnungen der Flugschreiber komplett veröffentlicht werden. So scheint der Sicherheitsrat in seiner neuesten Mitteilung die Erwartungen bremsen zu wollen. Materialien, die bei der Untersuchung genutzt würden, seien rechtlich geschützt, heißt es darin; nicht alle Daten würden publiziert. Der OVV geht nach eigener Aussage nicht der Schuldfrage nach, sondern lediglich der Absturzursache. Strafrechtlich wird der Fall separat aufgearbeitet, auch hierbei haben die Niederlande die Führung übernommen.

Bis es so weit ist, dürften sich die vielen alternativen Erklärungsversuche und Verschwörungstheorien zu Flug MH17 hartnäckig halten. Popularität genießt etwa die These, wonach die Boeing nicht (nur) mit einer Boden-Luft-Rakete, sondern mit der Bordkanone eines Militärjets abgeschossen wurde - eine Theorie, die für die ukrainische oder russische Regierung als Schuldigen spräche, denn die Separatisten besitzen keine Luftwaffe.

Experten über die Bordkanonen-Theorie

Als Beleg ziehen die Anhänger dieser Theorie Fotos von Trümmerteilen heran, die angeblich Einschusslöcher durch MG-Feuer  zeigen. Militär- und Ballistikexperten zeigten sich auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE jedoch skeptisch. "Eine eindeutige Bestimmung kann anhand der Bilder nicht durchgeführt werden", schreibt Manuel Fließ, Waffentechnik-Ingenieur und Sachverständiger für Schusswaffenspuren. Ausschließen könne er allerdings "aufgrund der Morphologie der Beschädigungen weder den Beschuss durch eine Boden-Luft-Rakete, noch durch eine Bordkanone".

Nach Angaben des Rüstungskonzerns MBDA, der unter anderem Boden-Luft-Raketen herstellt, ist anhand von öffentlich verfügbaren Fotos der MH17-Wrackteile "keine zweifelsfreie Bewertung" der Absturzursache möglich. Experten der Firma hätten bei der Analyse der Bilder aber durchaus Erkenntnisse gewonnen. So deute die dichte Verteilung der Löcher in der Außenhaut des Flugzeugs auf die "Detonation eines relativ großen Splittergefechtskopfs mit natürlicher Splitterverteilung (breites Spektrum an Splittergrößen)" hin. Dies würde zum "Buk"-Abwehrsystem passen: Seine Raketen nutzen großformatige Fragmentationssprengköpfe, die in der Nähe des Ziels detonieren.

Zudem haben die Fachleute nach Angaben einer MBDA-Sprecherin auch Anzeichen gefunden, die gegen den Beschuss mit der Bordkanone eines Kampfflugzeugs sprechen: Zum Beispiel müssten die Einschusslöcher kleiner sein, da Geschosssplitter von Bordkanonen kleiner seien. Der Beschuss mit einer Bordkanone würde das zivile Flugzeug auf Reiseflughöhe zudem nicht so stark beschädigen, dass die Trümmer und Leichen auf dem Boden so weit verteilt wären, wie es der Fall war.

Luftwaffenexperte David Cenciotti ist ebenfalls skeptisch, was die Bordkanonen-Theorie betrifft. "Das würde bedeuten, dass es ein Abfangszenario durch Kampfjets gegeben hätte. Auf den Radarschirmen in Russland und der Ukraine wäre das aber sehr deutlich zu sehen gewesen - und das ist etwas, woran ich nicht glaube."

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