Zum Inhalt springen

Thüringer Abschlussbericht Warum der NSU so lange morden konnte

Ein "einziges Desaster" - so fasst der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss die jahrelange Fahndung nach den untergetauchten Neonazis zusammen. Die Abgeordneten glauben: Man hätte das Trio ausfindig machen können.
Undatierte Aufnahme von Mundlos, Zschäpe, Böhnhardt: Jahrelang unerkannt im Untergrund

Undatierte Aufnahme von Mundlos, Zschäpe, Böhnhardt: Jahrelang unerkannt im Untergrund

Foto: REUTERS/ Bundeskriminalamt

Der Auftrag an "Ralf" war klar: Er solle bei "Bönis Eltern" Kleidung abholen, außerdem Geld, "viel Geld", um dann mit den Sachen zu einem bekannten Treffpunkt zu kommen. Diese Worte vernahmen Ermittler des Thüringischen Landeskriminalamts, als sie im April 1998 den Telefonanschluss eines Jenaer Rechtsextremisten abhörten.

Die Beamten waren auf der Suche nach den untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. "Bönis Eltern" - die Zuordnung fiel nicht sonderlich schwer. Und auch "Ralf" stellte die Ermittler offenbar vor keine großen Rätsel: Ralf Wohlleben, der heute als mutmaßlicher Unterstützer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) vor Gericht steht.

Wohlleben kannte Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt seit den frühen Neunzigerjahren aus der Thüringer Neonazi-Szene, und die Behörden kannten ihn. Hatte also Wohlleben Kontakt zu den Untergetauchten? Die Schlussfolgerung lag nahe, das Landeskriminalamt reagierte: Am 22. April 1998 wurde Wohlleben fünf Stunden lang observiert. Aber dann passierte kurioserweise lange nichts mehr, die nächste Observation erfolgte erst im August 1999, also rund 16 Monate später.

Für die Abgeordneten des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses ist dieser merkwürdige Umstand nur einer von vielen, die zu einem vernichtenden Urteil über die Arbeit der Landesbehörden führten: Die Suche nach den Untergetauchten lasse sich zusammenfassend als "einziges Desaster" beschreiben, heißt es in dem fast 1800 Seiten langen Bericht, der SPIEGEL ONLINE vorliegt und am Vormittag offiziell vorgestellt werden soll.

Schlimmer noch: Die "Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen" und das Ignorieren von Standards lasse sogar "auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu", heißt es in dem Dokument.

Der Bericht der Erfurter Abgeordneten ist von besonderer politischer Bedeutung, denn in Thüringen wuchsen Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos auf. Dort lernten sie sich kennen, dort radikalisierten sie sich. Dort wurden also die Wurzeln gelegt für die zehn Morde, die dem Trio zur Last gelegt werden.

Konkurrenzdenken zwischen Behörden

Das Versagen der Ermittler ist demnach eine Mischung aus Überlastung, fehlendem Personal, falschen Einschätzungen, mangelnder Qualifikation und unzureichender Zusammenarbeit der verschiedenen Behörden. So kommt der Bericht, für den Tausende Akten gewälzt und Dutzende Zeugen befragt wurden, zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis zwischen dem Thüringer Landeskriminalamt und dem dortigen Landesamt für Verfassungsschutz in den Neunzigerjahren "von Konkurrenzdenken überlagert gewesen" sei.

Merkwürdigkeiten gab es auch in der täglichen Arbeit des Erfurter Nachrichtendienstes: So berichtete etwa der ehemalige V-Mann-Führer Jürgen Z., die Informanten seien mehr oder weniger freihändig geführt worden, schriftliche Vorgaben habe es dafür nicht gegeben. Geld sei das einzige Mittel gewesen, um Quellen zu führen, bekannte sein früherer Kollege Reiner B. erstaunlich freimütig. Dass die staatlichen Mittel zu einem Gutteil auch in den Aufbau der Strukturen flossen, deren Zerschlagung die eigentliche Aufgabe gewesen wäre, bezeichnete der Beamte als "normal".

Bei der Fahndung nach dem untergetauchten Trio scheint der Dienst eine noch unsäglichere Rolle gespielt zu haben. Der Zielfahnder des Landeskriminalamts, Sven W., hegte derartiges Misstrauen, dass er einen Vermerk schrieb. Es habe deutliche Anzeichen gegeben, dass der Verfassungsschutz nicht nur Dinge verheimlicht, sondern ihn sogar belogen habe, erklärte der Kriminalhauptkommissar später auch dem Untersuchungsausschuss. Seine Arbeit sei sogar "sabotiert" worden.

Überrascht zeigten sich die Erfurter Abgeordneten auch darüber, dass der Nachrichtendienst in den Neunzigerjahren mehrere Stellen mit "fachfremden Universitätsabsolventen" besetzte. Aber auch im Landeskriminalamt schien man es mit der Eignung des Personals nicht immer ganz genau zu nehmen: Der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar, der im Januar 2002 mit der Fahndungsauswertung zum untergetauchten Trio betraut wurde, hatte bei seiner Versetzung in den Staatsschutz "keinerlei Vorkenntnisse zum Themenfeld Rechtsextremismus", wie es in dem Bericht heißt.

Eine Telefonliste bleibt jahrelang ungenutzt

Die dokumentierten Versäumnisse und Fehler bei der Fahndung zogen sich über Jahre. So verweisen die Parlamentarier unter anderem darauf, dass Ermittler auch eine Telefonliste mit Kontakten der Neonazi-Szene entdeckten, als sie 1998 die von Zschäpe angemietete Garage durchsuchten und dort Material zum Bombenbau fanden. Die Liste sei den Zielfahndern aber unbekannt geblieben und erst 2011 "in neu zusammengestellten Akten" wieder aufgetaucht.

2002 wiederum sei das Landeskriminalamt Hinweisen, Mundlos sei in Jena gesehen worden, nicht ernsthaft nachgegangen. Gleiches gelte für entsprechende Hinweise auf Böhnhardt ein Jahr später.

Es hätte offenbar Möglichkeiten gegeben, den Untergetauchten auf die Spur zu kommen, doch die Behörden versagten, resümiert der Untersuchungsausschuss: "Aufgrund der Nichtverarbeitung wichtiger Informationen und der Nichtverfolgung zahlreicher Fahndungsansätze wurden die drei Flüchtigen nicht gefasst."