Das Machtspiel der Gerichte

Beim Thema Vorratsdatenspeicherung von Metadaten erleben wir auf europäischer Ebene ein juristisches Schattenboxen. Von Ulrich Haltern, Europarechtler

Von Ulrich Haltern, Europarechtler
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Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe findet sich im Kampf mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg um die Vorrangstellung im Grundrechtsbericht wieder. (Bild: Uli Deck / Keystone)

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe findet sich im Kampf mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg um die Vorrangstellung im Grundrechtsbericht wieder. (Bild: Uli Deck / Keystone)

Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung in Europa – also die Speicherung von Metadaten, ohne dass eine Straftat begangen wurde oder ein Tatverdacht vorliegt – erlebt eine juristische Schlappe nach der anderen. Beteiligt daran sind alle grossen Gerichte Europas, vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) bis zu den nationalen Verfassungsgerichten. Viele sehen hierin einen Triumph der Grundrechte, ja einen Sieg des Rechtsstaates über die sammelwütige Sicherheitsparanoia; indirekt scheint sich auch europäische, rechtsbasierte Identität gegen den US-Machtanspruch und die NSA zu manifestieren.

Verfassungsidentität und Souveränität

Nun sind die Anliegen Sicherheit und effektive Strafverfolgung weder illegitim noch unwichtig; und so wundert der einstimmige Chor der Gerichte doch ein wenig. Wie ernüchternd ist es zu sehen, dass es dabei keineswegs vorrangig um Individualrechtsschutz, sondern eher um die eigene Machtposition geht. Die Gerichte übertrumpfen sich im Wettbewerb um die europäische Vorrangstellung im Grundrechtsbereich. Es begann schon bei der Frage, ob die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf die richtige Kompetenznorm der Verträge gestützt wurde. Die wenig überzeugende Antwort des EuGH – nicht die Norm für Strafrecht, sondern die für Harmonisierung des Binnenmarktes sei die richtige – leitete sich institutionell, nicht inhaltlich her: Die Strafrechtsnorm hätte eine (nicht herstellbare) einstimmige Entscheidung der Mitgliedstaaten im Rat erfordert, hätte die Kommission teilentmachtet und die Kontrollmacht des EuGH beschränkt. Hierfür war der EuGH nicht zu haben. Auch die Grundrechtsentscheidungen, die nun überwiegend gelobt werden, sind Teil eines institutionellen Machtspiels. Dass der EuGH im Konkurrenzkampf mit nationalen Verfassungsgerichten steht, ist bekannt. Diese lassen sich nicht gern die juristische Letztkontrolle aus der Hand nehmen, insbesondere wenn es um Verfassungsidentität und Souveränität geht. Genau das muss der EuGH aber tun, will er den Vorrang und die einheitliche Geltung des Unionsrechts sichern. Zu diesem Zweck versucht er die Gerichte ins Vorabentscheidungsverfahren zu zwingen, in dem diese Vorlagefragen an den EuGH formulieren und ihn so in die Entscheidung mit einbeziehen. Mit der Vorratsdatenentscheidung im April 2014 ist ihm exakt dies gelungen.

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2010 die Grundrechtskonformität der Richtlinie nicht bezweifelt, sondern ausschliesslich das deutsche, die EU-Richtlinie umsetzende Recht überprüft. Es ging implizit von der Grundrechtskonformität der Richtlinie aus – diese lasse sich sogar «ohne Grundrechteverstoss ins deutsche Recht umsetzen». Da der deutsche Gesetzgeber die notwendigen Sicherungen etwa hinsichtlich des Abrufens und Auswertens der Daten aber nicht eingezogen habe, kippte das BVerfG das Umsetzungsgesetz, liess aber die EU-Richtlinie ungeschoren. Der EuGH hingegen erklärte die Richtlinie selber emphatisch für nichtig. Dabei beurteilte er die anlasslose flächendeckende Speicherung als Problem, das dazu beiträgt, die Richtlinie als unverhältnismässig scharfen Grundrechtseingriff scheitern zu lassen. Er ging dadurch weit über Generalanwalt und BVerfG hinaus, die die anlasslose Speicherung als solche als unbedenklich angesehen hatten.

Damit ist das BVerfG düpiert: Luxemburg stellt sich als der bessere Hüter der Grundrechte heraus – entgegen dem, was Karlsruhe seit je von sich selbst angenommen hatte. Der Druck auf Karlsruhe, den EuGH durch Vorlagen mit ins Boot zu holen, steigt dadurch unermesslich an. Diese Blamage war vorhersehbar, und auch das BVerfG hat sie antizipiert: Es hat zwei Monate vor dem Urteil des EuGH zum ersten Mal – in einer anderen Sache – dem EuGH vorgelegt. Karlsruhe hat sich nun den Spielregeln des EuGH unterworfen und ist weitgehend eingefangen. Es spielt mit. Der hohe Grundrechtsstandard des EuGH ist also nichts anderes als der Zwang des Mannschaftskapitäns, der dem talentierten Aussenseiter das spieltaktische Korsett anlegt. – Auch im Verhältnis zum EGMR hat sich der EuGH dadurch positioniert. Die EU wird der EMRK beitreten, der EuGH also mit dem EGMR zusammenarbeiten müssen; wie genau, ist noch offen. Da ist es wichtig, sich auch gegenüber Strassburg als Chef im Ring des Grundrechtsschutzes zu zeigen. Der EGMR lief geradlinig auf eine strenge Einschätzung der Vorratsdatenspeicherung zu, hatte aber noch keine Gelegenheit zum Urteil gehabt. Der EuGH hat ihm nun den Wind aus den Segeln genommen.

Lächelnd geführtes Gerangel

Das Verhältnis dieser beiden Gerichte war von jeher ein wechselvolles; wie man in der Schweiz sehr gut weiss, können auch Urteile aus Strassburg den Eindruck eines Staatsstreichs hinterlassen. Die Freundschaftlichkeit, die momentan von beiden signalisiert wird, ist nur die Oberfläche eines lächelnd geführten Gerangels um Vorteile bei der Rechtsprechungsmacht. Auch hier hat sich der EuGH gut positioniert. Ich meine nicht, dass den Gerichten unser Grundrechtsschutz gleichgültig ist und es nur um gerichtliche Macht geht. Doch ist recht deutlich, dass die materiellen Massstäbe bei der Beurteilung der Vorratsdatenspeicherung die Machtinteressen der Gerichte stützen. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Ein böses Erwachen freilich mag es dann geben, wenn den gerichtlichen Interessen einmal durch andere Massstäbe gedient ist.

Ulrich Haltern ist Professor für Europa- und Völkerrecht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (D) und Gastprofessor an der Uni St. Gallen.