Voreiliger Abgesang

In Deutschland ist oft vom Niedergang der Mittelschicht die Rede. Sie hat aber die Umwälzungen der letzten Jahre gut überstanden. Allerdings ächzt sie unter einer hohen Sozialabgaben- und Steuerlast.

Matthias Benz, Berlin
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Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg muss die Mittelschicht nicht über zu kleine Kuchenstücke jammern. (Bild: Max Lautenschlaeger / VISUM)

Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg muss die Mittelschicht nicht über zu kleine Kuchenstücke jammern. (Bild: Max Lautenschlaeger / VISUM)

Die Berliner Stadtteile Mitte und Prenzlauer Berg sind nicht gerade repräsentativ für Deutschland. In den «gentrifizierten» Szenevierteln finden sich trendige Läden und Lokale, eine junge, urbane und überdurchschnittlich gebildete Bevölkerung hat sich niedergelassen. Dennoch herrscht auch hier deutsche Normalität. Auf dem Spielplatz sitzt die gutsituierte Richterin mit der als Lebenskünstlerin bekannten Fotografin zusammen. Man unterhält sich über die Kinder und über Alltagsprobleme, man nimmt Anteil am Leben der anderen, man lädt sich gegenseitig ein. Wenn eine solche soziale Durchmischung über breite Einkommensklassen hinweg weiterhin möglich ist, kann es um den deutschen Mittelstand kaum allzu schlecht bestellt sein.

Alarmistische Szenarien

In den vergangenen Jahren ist der deutschen Mittelschicht wiederholt der Niedergang attestiert worden. Immer wieder sorgten Studien für Aufregung, die ein Schrumpfen der Mittelschicht postulierten . Es war die Rede von «Statuspanik» und «neuen Abstiegsängsten». Man sorgte sich, dass sich die soziale Schere öffne – und dass damit die Funktion der Mittelschicht als breite Stütze von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft untergraben werden könnte.

Die verfügbaren Daten geben allerdings solche alarmistischen Szenarien nicht her. Wie in anderen Ländern wird als Mittelschicht in Deutschland meist der Teil der Bevölkerung bezeichnet, der zwischen 70% bzw. 80% und 150% des Medianeinkommens zur Verfügung hat; bisweilen werden auch ein mindestens mittleres Bildungsniveau und andere soziokulturelle Charakteristika vorausgesetzt. Die so definierte Mittelschicht hat sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten ziemlich stabil entwickelt (vgl. Grafik). Zudem gilt sie im internationalen Vergleich als breit.

Praktisch alle Analysen zeigen ein vergleichbares Bild. In den Jahren von 1991 bis 1998 wuchs die Mittelschicht in Deutschland. Das war vor allem eine Folge der Wiedervereinigung, als in Ostdeutschland viele Menschen in einem Prozess der «nachholenden Vermittelschichtung» zu mehr Wohlstand kamen. Bis ungefähr 2005 schrumpfte dann die Mittelschicht. Es war die Zeit, als Deutschland als «kranker Mann Europas» galt und mit Wirtschaftsschwäche und hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte. Nach der Reformära unter Kanzler Schröder blieb die Grösse der Mittelschicht praktisch konstant. Bezeichnenderweise hat sich auch die Einkommensungleichheit in Deutschland ähnlich entwickelt. Entgegen der populären Wahrnehmung vergrösserte sie sich in den vergangenen Jahren nicht, während sie vor allem in den Problemjahren bis ungefähr 2005 zunahm (vgl. Grafik).

Auf der Insel der Seligen

Die Mittelschicht hat sich also durch die Umwälzungen der jüngeren deutschen Geschichte hindurch ziemlich gut behauptet. Dies gilt auch für die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008, die den grössten Konjunktureinbruch der Nachkriegszeit mit sich brachte. Im Gegensatz zur breiten Bevölkerung in vielen anderen Ländern litt die deutsche Mittelschicht kaum. Ja, es ging ihr dank einem Nachkrisenboom bald so gut wie seit langem nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit sank auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Das bedeutete nicht nur bessere Aufstiegschancen für ärmere Menschen, sondern es hiess auch, dass man sich in der Mittelschicht weniger Sorgen um den Verlust des Arbeitsplatzes machen musste. Ebenfalls stiegen erstmals seit längerem die Realeinkommen spürbar.

Wenn man die Situation etwa mit jener in Südeuropa vergleicht, kann man nur zum Schluss kommen: Der deutsche Mittelstand lebt derzeit auf einer Insel der Seligen. Und auch die Zukunftsaussichten sind grundsätzlich nicht schlecht. So ist in Deutschland immer wieder von einem wachsenden Fachkräftemangel die Rede. Wenn diese Diagnose stimmt, werden gerade die klassischen Mittelschicht-Berufe in den kommenden Jahrzehnten auf dem Arbeitsmarkt gefragt sein. Das verspricht nicht nur gute Beschäftigungschancen, sondern auch tendenziell überdurchschnittliche Lohnsteigerungen.

«Die Trottel der Nation»

Allerdings trübt ein grosser Schatten das Bild. In wenigen anderen Industrieländern muss die Mittelschicht eine so hohe Sozialabgaben- und Steuerbelastung schultern wie in Deutschland. Laut Analysen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) betrug der Steuerkeil im Jahr 2013 knapp die Hälfte der Arbeitskosten für einen Alleinstehenden mit Durchschnittsverdienst und rund ein Drittel für ein Familienoberhaupt mit zwei Kindern. Deutschland stand damit unter den 34 untersuchten OECD-Ländern auf dem zweitobersten Rang (Alleinstehende) bzw. auf Rang 11 (Familien).

Die staatliche Belastung ist nicht nur per se hoch, sie dämpft auch die Anreize für Leistung und wirtschaftlichen Aufstieg. In der öffentlichen Diskussion wird meist etwas verharmlosend vom «Mittelstandsbauch» gesprochen. Damit gemeint ist, dass die Steuer- und Abgabenbelastung im Bereich der mittleren Einkommen (50% bis 150% des Durchschnitts) ausgesprochen stark zunimmt (vgl. Grafik). Da muss man sich als Mittelstandsfamilie schon fragen, ob sich der Aufwand lohnt, 500 € zusätzlich zu verdienen. Die sogenannte Grenzbelastung nimmt dann bei den oberen Einkommen (über 150%) wieder leicht ab. Das liegt daran, dass die Sozialabgaben ab diesem Bereich gedeckelt sind. In der Konsequenz ist für die oberen Einkommensschichten die Einkommenssteuerbelastung der gewichtigere Faktor, während die Mittelschicht vor allem unter den staatlichen Sozialabgaben ächzt.

Der liberale Publizist Günter Ederer hat diesen Umstand einmal mit den Worten beschrieben, die Fachkräfte aus der Mittelschicht seien die «Trottel der Nation»: Wer arbeite, werde abgezockt. Das mag drastisch formuliert sein, aber es trifft einen wahren Kern. In der Tat ist erklärungsbedürftig, warum der deutsche Mittelstand eine so grosse staatliche Last zu tragen hat. Ein auch von Politikern immer wieder vorgebrachtes Argument lautet, die Bevölkerung wünsche sich eben einen grossen Staat. So sagte der deutsche Finanzminister Schäuble einmal im Interview mit dieser Zeitung: «Die Steuer- und Sozialabgabenlast in Deutschland korrespondiert mit den Erwartungen des Volkes an staatliche Leistungen wie Infrastruktur und soziale Sicherheit.»

Dunkle Wolken am Horizont

So einfach ist es allerdings nicht. Das zeigt sich etwa daran, dass sich die Bevölkerung vor allem in den Krisenjahren Anfang des Jahrtausends der staatlichen Abgabenlast durchaus entzog. Das Ausweichen in die Schattenwirtschaft war ausgeprägt, die Steuerflucht endemisch, und für einige Jahre wanderten viele Fachkräfte und Hochqualifizierte aus Deutschland aus (u. a. in die Schweiz). Diese Anzeichen von «Exit» spiegelten Unzufriedenheit mit der Staatstätigkeit. Die Politik reagierte darauf mit Bemühungen, die Sozialabgaben- und Steuerlast einzudämmen.

Dies gelang streckenweise. So wurden die Steuersätze für Einkommen und Kapitaleinkünfte gesenkt, und die im internationalen Vergleich hohe Sozialabgaben-Quote konnte in den vergangenen Jahren tendenziell reduziert werden. Diese Entwicklung erklärt teilweise, warum die Absetzbewegungen in der deutschen Mittelschicht heute geringer sind als noch vor zehn Jahren.

Allerdings zeigen sich bereits wieder dunkle Wolken am Horizont. Die derzeit regierende grosse Koalition hat sich dem Eindruck hingegeben , dass die staatliche Abgabenlast nicht mehr zwicke, dass eine gute Wirtschafts- und Beschäftigungslage herrsche und dass man sich deshalb wieder teure staatliche Wohltaten leisten könne. Ein Ausdruck davon ist das Rentenpaket mit höheren Rentenleistungen für Mütter und mit der «Rente mit 63». Auch in anderen Sozialwerken wie der gesetzlichen Pflegeversicherung will die Regierung mehr Geld ausgeben. In der Summe werden die Sozialabgaben in den kommenden Jahren wieder deutlich steigen . Dazu gesellt sich der grundsätzliche Aspekt, dass die arbeitende Mittelschicht wegen des demografischen Wandels künftig noch stärker zur Finanzierung des Sozialstaates herangezogen werden wird.

Das sind keine schönen Aussichten. Eigentlich wäre klar, was getan werden müsste, um die Mitte vor Überlastungen zu schützen. Die Sozialversicherungen wären auf eine solide Grundlage zu stellen, und der Umfang des deutschen Sozialstaats wäre zu reduzieren. Auch müsste das Steuersystem mittelstandsfreundlicher ausgestaltet werden, etwa mit einer Eliminierung des «Mittelstandsbauchs». Jedoch packt die grosse Koalition nichts von alldem an.

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