Vom Niedergang der Höflichkeit

Noch nie waren schriftliche Umgangsformen so undefiniert wie heute. Höflichkeiten verschwinden, Sender und Adressat sparen Zeit – und haben doch immer weniger davon.

Daniela Kuhn
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Mit der Technik verändern sich auch die Sprache und die Umgangsformen. (Bild: imago/dean pictures)

Mit der Technik verändern sich auch die Sprache und die Umgangsformen. (Bild: imago/dean pictures)

Ein professionell-höfliches Mail geht von der Redaktion dieser Zeitung an einen Professor einer deutschen Universität. Es ist eine Anfrage um eine Auskunft. Mit «Sehr geehrter Herr Professor N.» fängt es an und schliesst mit den Worten: «Gerne erwarten wir Ihren Bescheid und grüssen Sie freundlich.» Die Antwort am nächsten Morgen ist so kurz wie knapp. «Ja, können Sie. N., heute aus Heidelberg.»*

Wer hält noch die Türe auf?

Das Beispiel, so exotisch es hierzulande noch anmuten mag, illustriert einen generellen Wandel der schriftlichen Umgangsformen, der da lautet: Höflichkeit und Etikette sind keine Selbstverständlichkeiten mehr, sie sind schon fast passé. Und dies nicht nur im privaten, sondern auch im beruflichen Kontext. E-Mails, die vor rund zwanzig Jahren das Schreiben von Briefen und mittlerweile auch das Telefonieren weitgehend ersetzt haben, werden ohne Anrede immer üblicher, statt den «freundlichen Grüssen» genügen «Gruss» oder gar die Abkürzungen «Mfg» und «Lg».

Joachim R. Höflich, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Erfurt, bestätigt diese Entwicklung: «Herkömmliche Muster haben sich aufgelöst. Forschheiten nehmen zu.» Wenn er von Studierenden in E-Mails mit «Hallo Herr Höflich» angeschrieben werde, sei dies «noch die freundlichste Form». Oft bleibt es bei «Hallo» oder gar keiner Anrede.

Viele von Höflichs Kollegen sind mittlerweile dazu übergegangen, Mails mit gravierenden Formfehlern nicht mehr zu beantworten, denn die fehlende Form führt nicht selten zu fehlender Distanz. «Assistenten werden per Mail markant attackiert», erzählt Höflich, «in einem Ausmass, das zur Briefzeit nie möglich gewesen wäre.» Wenn er seine Studierenden frage, welche Höflichkeitsformen sie kennten, herrsche grosses Schweigen: «Sie haben den Begriff nicht mehr im Kopf. Höflichkeit gilt für sie als Relikt vergangener Zeiten.» Es versteht sich von selber, dass mit der Höflichkeit auch Respekt verloren geht. Und damit auch soziale Kompetenz, die immer auch ein Ausloten von Nähe und Distanz umfasst. «Doch wer grüsst heute noch oder hält die Türe auf?», sagt Höflich und fügt vielsagend hinzu: «Eine E-Mail kann nicht höflicher sein, als die Gesellschaft, in der sie geschrieben wird.»

Der Kommunikationswissenschafter ist sich zwar bewusst, dass eine Liberalisierung der Ausdrucksformen stets mit neuer Freiheit einhergeht, doch er ist überzeugt: «In jeder Übergangszeit gewinnt man, aber man verliert auch. Und diesen Verlust soll man erwähnen, solange dies überhaupt noch möglich ist.» So sei der Ruf nach einem E-Mail-Kodex in den letzten Jahren zwar immer wieder gefordert worden, aber die Vermischung der Medien und das rasende Tempo, in dem sie sich verändern oder gar wieder verschwinden, erschweren einen Konsens. Kondolenzschreiben werden daher mitunter per E-Mail verschickt, auf einen Brief wird per SMS geantwortet, und eine Studentin bittet ihren Professor per Mail, ihr gewisse Seiten seines Buches zu kopieren und zu mailen. Die Einsicht, dass jedes Medium auch den Inhalt und die Form tangiert, ist vielen Menschen offensichtlich nicht mehr gegeben.

«Vor einem Semester haben die meisten Studenten noch mit SMS kommuniziert. Inzwischen hat sich das komplett zu Whatsapp verschoben. Was hip ist, wird immer neu definiert. Und so bleibt heute keine Zeit, gewisse Dinge zu lernen. Telefoniert wird fast gar nicht mehr», erzählt Höflich. Und hier scheint die Crux zu liegen, denn wenn alles immer mehr in der Art von SMS geschrieben wird, bleibt für Form kein Platz. Eine Reflexion der Smartphone-Kultur tut somit not. «Schulen und Medien sollten sie vermehrt bewusstmachen. Denn wir brauchen anerkannte Regeln, damit die Kommunikation weitergeht», meint Höflich. Damit verbunden wäre auch die Erkenntnis, dass Distanz manchmal kommunikationsfördernd sein kann. Und dass die Entwicklung von Beziehungen Zeit braucht, auch im beruflichen Kontext. Doch Zeit ist Mangelware.

Juliane Schröter, Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich, erklärt dialogartige E-Mails in der Art von SMS mit der «Minderbelastung des Adressaten», will heissen, mit Zeitersparnis. «Wer früher am Ende eines Briefes dem Adressaten noch einen guten Wunsch hinzugefügt hat, signalisierte: Das Gegenüber ist diesen Aufwand wert», sagt Schröter. Heute, in Zeiten der Beschleunigung, könne eine sehr knappe Mail auch bedeuten: «Ich möchte meinem Gegenüber nicht zumuten, noch mehr lesen zu müssen und dabei Zeit zu verlieren.» Eine möglichst kurz gehaltene Mail brauche somit nicht unhöflich zu sein, könne «aber missverständlich wirken, wenn sie dem alten Höflichkeitsprinzip zuwiderläuft». Juliane Schröter nennt noch eine zweite langfristige Veränderung: Früher habe der Schreibende in Briefen Respekt, Anerkennung und Ehrbarkeit angezeigt. Heute seien es Vertrautheit, Nähe und Zuneigung. «‹Sehr geehrter› werde immer weniger verwendet, dafür ‹Hallo› oder ‹Liebe Frau X›», sagt Juliane Schröter. Viele sprachliche Veränderungen stammen aus Deutschland. Was dort vertraulich wirkt, klingt in Schweizer Ohren aber zuweilen anders.

Hochachtungsvoll!

Juliane Schröter gibt zu bedenken, dass es Verschiebungen von privaten Formeln in den beruflichen Kontext schon sehr lange gibt. «Mit freundlichen Grüssen» sei im 19. Jahrhundert vor allem in der privaten Korrespondenz üblich gewesen, während berufliche Briefe bis in die achtziger Jahre mit «Vorzügliche Hochachtung» oder «Hochachtungsvoll» beendet wurden. Dieselbe Entwicklung haben laut Schröter die in den letzten Jahren in beruflichen Schreiben aufgekommenen Formeln «Beste Grüsse» oder «Schöne Grüsse» durchgemacht. Auch sie seien zunächst vor allem in privaten Briefen verwendet worden. Es mag indes kein Zufall sein, dass die «besten» und «schönsten» Grüsse nicht einmal pro forma auf ein Gefühl verweisen, sondern in einer äusserlichen und somit marketingmässig optimalen Kategorie gelandet sind.

Im Pluralismus der schriftlichen Umgangsformen finden sich auch mundartliche Beispiele, die eher unbeholfen wirken, etwa die Anrede «Grüezi Herr X». Ebenso mögen soziokulturelle Unterschiede in der Wahl der Anreden eine Rolle spielen. Wer im Elternhaus keinen konservativen Sprachgebrauch mitbekommen habe, dem seien die Normen oft weniger klar. Die Gründe für die undefinierten und mitunter unhöflich anmutenden schriftlichen Umgangsformen sind somit vielschichtig. Der Zeitdruck scheint allerdings der Hauptgrund zu sein.

Doch auch Vertreter von Berufsgruppen, die täglich einer Flut von achtzig oder mehr neuen E-Mails Herr werden müssen, sind nicht gezwungen, stilistisch aus dem Ruder zu laufen. Der Professor, der heute aus Heidelberg ohne Anrede und Grussformel antwortet, könnte sich beispielsweise an Joachim R. Höflichs Faustregel halten: SMS beantwortet er innerhalb von drei Stunden, E-Mails innert drei Tagen und Briefe im Zeitraum von drei Wochen. Denn er ist der Ansicht: «Wir sollten uns mehr Luft lassen!»

* Initiale und Ort geändert.