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Fragen zu Schottlands Unabhängigkeits-Referendum Wird aus Großbritannien bald Restbritannien?

Vier Millionen Schotten stimmen über die Unabhängigkeit ab. Was würde ein Ja bedeuten? Was ein Nein? Für beide Fälle gibt es viele offene Fragen: von der Schuldentilgung bis zu einer neuen Flagge.
Von Michael Streck, London

Am Freitagmorgen zwischen sechs und sieben Uhr werden Alex Salmond und David Cameron telefonieren. Einer wird dem anderen gratulieren müssen, entweder Cameron, britischer Premierminister, seinem schottischen Kollegen oder umgekehrt. Dann wird entweder Salmond mit seinen Schotten eigene Wege gehen oder in der Union mit dem Nachbarn bleiben. So viel ist sicher, doch damit erledigen sich die Klarheiten auch schon.

Denn nach dem Referendum beginnt die Zeit der Fragen, ganz gleich, wie es ausgehen wird, ob Großbritannien also so bleibt wie es ist oder ob es künftig ohne Schottland zu einem Kleinbritannien schrumpfen wird. Auf viele Frage gibt es (noch) keine Antworten. Auf einige schon. Egal wie die Schotten entscheiden: Großbritannien wird am Freitagmorgen ein anderes Land sein. So oder so.

Wenn Schottland Ja sagt

Wann würde Schottland seine Unabhängigkeit erklären?

Angepeilt als "Independence Day" ist der 24. März 2016, ein in doppelter Hinsicht historisches Datum. Am 24. März 1603 wurde der schottische König James VI. auch König von England, und am 24. März 1707 unterzeichneten Schottland und England das Abkommen über die Union. Man mag es nostalgisch im Norden. Aber ob die gerade mal 18 Monate Transformation auch realistisch sind? Eher nein. Die Verhandlungen über die Loslösung könnten sich Jahre hinziehen. Der renommierte Politikwissenschaftler Robert Hazell aus London geht von drei bis fünf Jahren aus und zitiert als Beispiel die sanfte Scheidung von Tschechen und Slowaken vor 22 Jahren. Es benötigte 31 Staatsverträge und fast 2000 bilaterale Vereinbarungen. Und obwohl in aller Gütlichkeit. zog sich die sanfte Scheidung fast zehn Jahre hin.

Was passiert dann mit dem Pfund?

Salmonds Nationalisten möchten es behalten. Aber alle drei großen Parteien im Süden wollen das verhindern. Der Euro käme für die kleine Nation solange nicht in Frage, wie Schottland nicht Mitglied der Europäischen Union ist. Theoretisch können die Schotten das Pfund weiterhin benutzen, hindern kann London sie daran nicht. Alistair Darling, Schotte und Vertreter der No-Kampagne, scherzte während einer TV-Debatte mit Salmond, Schottland könne auch Yen oder Rubel einführen. Oder den Dollar. Einige karibische Staaten nutzen als offizielle Währung ja auch den Dollar. Allerdings würde der neuen Regierung der Rückhalt der englischen Notenbank fehlen. Vermutlich würden sich Edinburgh und Westminster irgendwie doch einigen. Denn auch das verbliebene Rest-Britannien kann sich einen schwächelnden Nachbarn nicht erlauben. Finanzexperten orakeln jetzt schon von einem drohenden Kurssturz des Pfund von bis zu 15 Pence.

Wird Schottland auch Mitglied der EU?

Auf Dauer ganz gewiss. Aber auch das ist eine Frage der Zeit. Das Land müsste erst formell austreten, sich dann wieder bewerben und darauf hoffen, dass alle Mitgliedsstaaten dem Wiederbeitritt auch zustimmen. Formsache? Von wegen. Vor allem die Spanier sperren sich dagegen. Sie befürchten einen Präzedenzfall, der den Katalanen bei einer möglichen Abspaltung auch den Weg nach Europa ebnen könnte. Kompromiss: Schottland wird aufgenommen, ein freies Katalonien aber nicht. Es wird ein ziemlicher bürokratischer und langwieriger Akt mit bis zu fünf Jahren Wartezeit.

Wird es eine richtige Grenze mit Grenzposten zwischen England und Schottland geben?

Damit hat Labour-Chef Ed Miliband zwischenzeitlich gedroht. Und wurde sowohl in England und Schottland dafür belächelt. Aber er lag gar nicht mal so falsch. Denn sollte das Rest-Königreich im Jahr 2017 für den Austritt aus der EU stimmen und Schottland irgendwann Mitglied, würden Grenzkontrollen in der Zwischenzeit sogar unvermeidlich sein. Wie das dann sein wird, haben ein paar Spaßvögel ausprobiert: An der Grenze kontrollierten die Künstler Pässe und Reisende. Um die Atmosphäre aufzulockern, wie sie in diesem Beitrag sagten.

Gibt es dann auf der ganzen Welt auch schottische Botschaften?

Das Land hat bereits 22 Konsulate weltweit. Geplant wären weitere 80. Das Vereinigte Königreich betreibt insgesamt 270 diplomatische Vertretungen. Die Schotten würden versuchen, hier und dort als eine Art Untermieter bei der südlichen Verwandtschaft unterzukommen.

Wem gehört dann das Öl?

Zu 91 Prozent den Schotten. Verlängert man die Landesgrenze weiter in die Nordsee - und so wird das nach internationalem Recht getan - ist der Großteil der Ölfelder schottisch. Was diese 91 Prozent dann wert sind, ist strittig. Die Nationalisten gehen ziemlich optimistisch von 24 Milliarden verbleibenden Barrel aus (das entspricht in etwa der weltweiten Fördermenge pro Jahr). Die Gegenseite hält das für illusorisch und rechnet mit maximal zehn Milliarden Barrel. Beide Seiten erzielen aber in einem Punkt Übereinstimmung: Die Reserven sind endlich.

Kann Großbritannien dann noch Großbritannien heißen?

Der Name kam formell mit der Union von England und Schottland im Jahre 1707 zustande. Und die gäbe es ja dann nicht mehr. Großbritannien im klassischen Sinne wäre tot. Also Little Britain? Natürlich nicht. Obschon in den vergangenen Wochen und Monaten ein ähnlicher Begriff auftauchte: rUK (rest of the UK) auftauchte. Liest sich komisch und hört sich noch komischer an. Wahrscheinliche Lösung ist eine abgespeckte Version des Vereinigten Königreichs, nämlich: The United Kingdom of England, Wales and Northern Ireland. Viel Spaß bei den neuen Briefmarken...

Bliebe Elisabeth II. Königin?

Ja. Zumindest vorerst. Die Queen ist Oberhaupt des Königreichs und 15 weiterer Staaten des Commonwealth. Kleiner Rückblick: Die Vereinigung der Königshäuser erfolgte im Jahre 1603, mithin ein gutes Jahrhundert vor der politischen Union. Die Schotten könnten allerdings irgendwann beschließen, eine souveräne Republik auch außerhalb des Commonwealth zu werden. Dafür brauchten sie ein - richtig: Referendum. Und streng theoretisch könnte sogar ein Deutscher den Thron besteigen, genauer ein Bayer. Herzog Franz, ein Wittelsbacher und direkter Nachfahre einer Tochter von Charles I. aus der Linie der Stuarts. Wie es heißt, hat der Franz aber keine Lust. Und außerdem haben die Schotten ja noch Elisabeth.

Wie sieht die Flagge aus?

Darüber wird eifrig und sehr kreativ spekuliert. Das UK Flag Institut - ja, das gibt es wirklich - ließ die Bürger befragen, und 72 Prozent sprachen sich für eine neue Fahne aus. Die müsste ohne das schottische blau auskommen. Vermutlich würde der Hintergrund schwarz, darauf das rote St. Georg Kreuz, eingefasst vom walisisch-gelben St.David-Kreuz. Was sich schon kompliziert liest, sieht auch kompliziert aus.

Was passiert mit den Schulden?

Die 5,5 Millionen Schotten stellen 8,4 Prozent der gesamtbritischen Bevölkerung und müssten vermutlich einen entsprechenden Anteil der Staatsverschuldung tragen. Nach heutigem Stand wären das zwischen 110 und 120 Milliarden Pfund. Salmond benutzt diesen Umstand sogar als politischen Hebel in der Währungsfrage: Ein unabhängiges Schottland werde seine Schulden nur dann zurückzahlen, falls es das Pfund Sterling in einer Währungsunion behalten dürfe. Man wird sehen.

Braucht das Land eine Armee?

Schottlands Geschichte ist eine der historischen Schlachten - viele gegen England und die meisten davon verloren. Das Referendum ist die vorerst letzte und sogar friedliche Schlacht. Das kleine Land würde sich eine kleine Armee leisten. 3500 Soldaten, zwölf Düsenjets, zwei Herkules-Transporter und eine Helikopter-Staffel. Viel wichtiger aber fürs nationale Wohlbefinden: Im Fall des Sieges wäre Schottland binnen sechs Jahren atomwaffenfrei, so steht es im Weißbuch, dem Fahrplan der Unabhängigkeit. Die britischen Atom-U-Boote der Trident-Klasse müssten ihre Basis in Faslane bis zum Jahr 2020 aufgeben.

Müssten die englischen Parlamentswahlen im kommenden Mai verschoben werden?

Es wird gemutmaßt, aber wahrscheinlich ist es nicht. Auf jeden Fall wird’s chaotisch. Denn die dann noch nicht unabhängigen Schotten sind natürlich wahlberechtigt. Sie stellen in Westminster 59 Abgeordnete, 41 von ihnen Labour. In diesen zehn Monaten zwischen Wahl und Unabhängigkeit dürften sie auch über Dinge entscheiden, die ausschließlich Englands Zukunft angehen. Ehe sie dann im Frühjahr das Haus endgültig verlassen und Richtung Norden ziehen müssten. Dagegen laufen einige Tory-Abgeordnete nun schon Sturm. Die politische Statik des Königreichs würde sich jedenfalls massiv verändern. Schon wird diskutiert, ob Labour in Zukunft überhaupt noch eine Regierung stellen kann. Oder, auch kein unrealistisches Planspiel: Labour gewinnt im kommenden Mai dank schottischer Hilfe die Parlamentswahlen. Und ist kaum zehn Monate später nach dem Auszug seiner schottischen Abgeordneten die Mehrheit wieder los. Rule Britannia?

Könnte David Cameron noch im Amt bleiben?

Er könnte. Aber der Druck auf den Premier würde ungemütlich hoch. Cameron ginge auf jeden Fall in die Geschichte ein. Als der Premier, der die Union verlor. Selbst Konservative gehen davon aus, dass dann die Vertrauensfrage gestellt wird. Eine historische Parallele gibt es im Übrigen: Lord Frederick North trat 1782 als Premier zurück, nachdem die amerikanischen Kolonien unabhängig wurden.

Wenn Schottland Nein sagt

Wäre damit das Thema unabhängiges Schottland beendet?

Ganz sicher nicht. Dafür benötigte die Nein-Fraktion schon einen gewaltigen Sieg mit etwa 20 Prozentpunkten Vorsprung. Aber den wird es nicht geben. Denn: Der Geist ist aus der Flasche. Und das sagen nicht nur die Separatisten. Die Debatte wird nicht mehr verschwinden, sie ist nun da und bleibt. Und ein neues Referendum wäre nur eine Frage der Zeit. Vielleicht nicht in fünf Jahren, aber bestimmt auch nicht in 50. Denn selbst wenn die Nein-Seite knapp verlieren sollte, wäre das ein Sieg.

Muss London trotzdem Zugeständnisse machen?

Große sogar. Alle Parteien haben einvernehmlich beschlossen, das schottische Parlament mit mehr Macht und Befugnissen auszustatten. Vor allem in Gesundheits-, Wohlfahrts- und Steuerfragen. Die Konservativen gehen dabei sogar noch weiter als Labour und würden Schottland die Verantwortung für bis zu 40 Prozent des Haushalts übertragen.

Was wird aus Schottlands First Minister Alex Salmond?

Er ist der mit Abstand populärste Politiker des Landes und vielleicht der beste Taktiker und Redner auf der Insel überhaupt. Seine National Party gewann die letzten Wahlen für das schottische Parlament vor allem dank seiner Strahlkraft. Salmond hat sich komplett dem Kampf für die Unabhängigkeit verschrieben und angekündigt, selbst im Fall einer Niederlage weiterzumachen. Er hat aber mit Nicola Sturgeon bereits seine Nachfolgerin aufgebaut. Sie wird seinen Kampf weiterführen.

Gibt es ähnliche Abspaltungsbestrebungen auch in Wales und Nordirland?

Separatismus nach schottischem Vorbild nicht. In Wales beispielsweise würden gerade mal zwölf Prozent der Bevölkerung für die Trennung stimmen. Allerdings hat die Schottland-Debatte auch den Süden erfasst. Immer mehr Politiker befürworten föderale Strukturen nach deutschem oder amerikanischem Vorbild. Gerade im Norden Englands verfolgten viele Menschen das Referendum mit gewisser Sympathie für die nördlichen Nachbarn. Oft gehört im ganzen Land: "Westminster ist zu weit weg, das Establishment versteht uns nicht. Am liebsten würden wir auch unser eigenes Ding machen." Diese Debatte folgt auf das Referendum, das ist unweigerlich. Sie hat jetzt schon begonnen und nimmt Fahrt auf, vom Norden Richtung Süden.

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