Russland mit echten Wirtschaftssanktionen zu belegen, das hat die Europäer einige Überwindung gekostet. Wirklich weit sind sie nicht gegangen mit dem, was seit Ende Juli beschlossen ist. Die Menschen in Russland bemerken jedenfalls die Folgen so gut wie nicht – 92 Prozent der Befragten behaupteten dies in der jüngsten Erhebung der staatlichen russischen Meinungsforscher von WZIOM. Vielleicht ist das Ergebnis des eher regimefreundlichen Moskauer Instituts überzogen, doch die Tendenz stimmt: Für die meisten Russen hat sich im Alltag in der Tat noch kaum etwas verändert.

Was aber passiert, wenn die russische Bevölkerung die Folgen der westlichen Sanktionspolitik zu spüren bekommt? Schon bald könnte dies der Fall sein. Würde dann der Druck auf Präsident Wladimir Putin wachsen und für die Kreml-Führung zum Problem werden?

Auf den ersten Blick heißt die Antwort: Nein. Das liegt zuallererst daran, dass die Sanktionen in Russland völlig anders gesehen werden als im Westen. Sie werden missverstanden.

Laut der WZIOM-Umfrage glauben 32 Prozent der Bevölkerung, dass Europa mit den Maßnahmen Russland einfach schwächen will. 14 Prozent sind der Meinung, dass sich die EU von den USA gängeln lässt. Und 13 Prozent sehen die Sanktionen schlicht als einen Versuch Europas, seinen Einfluss zu zeigen.

Nur 10 Prozent interpretieren die Sanktionen so, wie sie gemeint sind – als Bestrafung für die Annexion der Krim (5 Prozent) und als Protest gegen die russische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine (weitere 5 Prozent).

Die Mär vom bösen Westen

Für Putin scheint die Gleichung aufzugehen: Je härter die Sanktionen sind und je mehr Russland darunter leidet, desto größer ist seine Unterstützung in breiten Teilen der Gesellschaft. Damit erreichen sie vorerst das genaue Gegenteil dessen, was die Entscheidungsträger in Brüssel und Washington erhoffen.

Vor diesem Hintergrund wirken dann auch die russischen Gegensanktionen nicht mehr so merkwürdig, die viel eher eine Belastung für die eigenen Bürger darstellen. In den Köpfen der einfachen Russen existieren die Importverbote für europäische Lebensmittel nicht als einzelne Tatsache, sie werden immer nur im Zusammenhang mit den Sanktionen aus Europa und den USA gesehen. Die Mär vom bösen Westen prägt maßgeblich die Stimmung in der Gesellschaft, gerade in dieser Frage.

Nun kann Europa in der jetzigen Lage kaum seine Sanktionspolitik plötzlich aufgeben, dafür ist man schon zu weit gegangen. Ein einseitiger Rückzug wäre kontraproduktiv, den Weg zu einer wirtschaftlichen Deeskalation können nur beide Seiten zusammen gehen. Was der EU übrig bleibt, ist letztlich nur abzuwarten und ihren Weg weiterzuverfolgen. Einfluss auf die russische Gesellschaft dürfte sie in diesen Tagen nur schwerlich haben: Die Sicht der staatlichen Medien überlagert und ideologisiert alles.

Wohlstand opfern für ein edles Ziel

Doch Putin spielt mit dem Feuer: Lebensmittelmangel und rasante Preiserhöhungen könnten schnell zum Problem werden. Allein in den vergangenen Tagen sind die Preise für manche Lebensmittel in Moskau um bis zu sechs Prozent gestiegen.

Noch hält die Bevölkerung still und trägt Putins Kurs euphorisch mit. Allein der Westen wird als Schuldtragender betrachtet. Und die meisten Menschen sind dazu bereit, einen Teil ihres Wohlstands für ein edles Ziel, den Schutz ihres Landes, zu opfern.

Wenn aber das Geld in den Taschen der Bürger wirklich knapp wird und die Regale in den Läden halb leer oder nur mit unerschwinglich teuren Lebensmitteln gefüllt sind, könnte die Stimmung kippen. Putin läuft Gefahr, selbst in die Grube zu fallen, die er jetzt dem Westen gräbt. Insbesondere wenn die Ukraine trotz aller Konflikte die ersehnte politische Stabilität erreicht und mit Unterstützung des Westens wirtschaftlich auf die Beine kommt.

Dann wirkt auch das Argument nicht mehr, das heute in der russischen Gesellschaft als Vorwurf gegen Kreml-Kritiker gilt: "Schaut auf die Ukraine, die nach dem Staatsstreich in Trümmern liegt! Wollt ihr dasselbe auch in Russland?"