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Deutschland Antisemitismus

„Eine Bankrotterklärung von Polizei und Politik“

Zehn Jahre lang war Stephan Kramer Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Im Frühjahr wechselte er zum American Jewish Committee. Heute ist er Direktor des Europäischen Büros zum Antisemitismus Zehn Jahre lang war Stephan Kramer Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Im Frühjahr wechselte er zum American Jewish Committee. Heute ist er Direktor des Europäischen Büros zum Antisemitismus
Zehn Jahre lang war Stephan Kramer Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Im Frühjahr wechselte er zum American Jewish Committee. Heute ist er Direktor des Europ...äischen Büros zum Antisemitismus
Quelle: Reto Klar
Der Antisemitismusbeauftragte des American Jewish Committee, Stephan Kramer, bezweifelt, dass Juden in Europa sicher sind. Die Reaktion deutscher Behörden auf Gewalt und Hetze verurteilt er scharf.

Die Welt: Herr Kramer, es häufen sich die Berichte über antisemitische Ausschreitungen am Rande von propalästinensischen Demonstrationen in Deutschland. Sehen Sie da eine neue Dimension?

Stephan Kramer: Wir haben ein Niveau von Hass und Gewalt erreicht, was nicht einmal mehr mit den Gewalttätigkeiten bei der letzten Bodenoffensive Israels 2009 vergleichbar ist. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für Frankreich, Großbritannien und andere Länder Europas. Das ist, makaber formuliert, eine neue „Qualität“, die uns sehr zu denken gibt.

Die Welt: Woran liegt das?

Kramer: Ich habe den Eindruck, dass die Scharfmacher der Hamas und von anderen Organisationen hier es darauf anlegen, dass es zu einer Eskalation der Gewalt kommt. Ich habe auch den Eindruck, dass die Polizei vor Ort der Lage nicht mehr Herr wird. Die Deeskalationsstrategien führen in erster Linie zu Appeasement, aber nicht in die Einsicht, dass hier Gewalt kein Mittel sein darf.

Die Welt: Von Demonstrationen aus Frankfurt am Main, Essen und Berlin wird berichtet, dass die Polizei weder ausreichend vorbereitet war noch entschieden genug gegen antisemitische Sprechchöre vorging.

Kramer: Vielleicht sind die Polizisten im Umgang mit islamistischen Gewalttätern schlicht nicht genügend geschult. Ich sehe da aber auch eine gewisse Naivität. Wenn man, wie in Frankfurt geschehen, zur Deeskalation den Demonstranten die Polizei-Lautsprecher zur Verfügung stellt und dann nicht einschreitet, wenn diese damit antisemitische Sprüche skandieren, dann ist das entweder naiv, oder es wird mit zweierlei Maß gemessen. Denn umgekehrt wurden proisraelische Demonstranten aufgefordert, den Platz zu verlassen, anstatt dass sie geschützt wurden.

Das ist dann schon böswillig. Es kann nicht sein, dass man einerseits gewalttätige Demonstranten gewähren lässt und auf der anderen Seite friedliche Demonstranten mitgeteilt bekommen, dass sie selber schuld sind, wenn sie sich dort aufhalten. Das ist eine Bankrotterklärung der Polizei und der Politik. Ich finde, hier müsste der Staat in Form der Polizei seinem staatsrechtlichen Monopol Geltung verschaffen und verhindern, dass hier Gewalt gegen friedfertige Menschen ausgeübt wird.

Die Welt: Wie beurteilen Sie die Reaktionen aus der Politik?

Kramer: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich dankenswerterweise sehr klar zum Gaza-Konflikt positioniert. Ich hätte mir aber gewünscht, dass von führenden Politikern in ganz Europa schon viel früher eine Stellungnahme zu den gewalttätigen Demonstrationen gekommen wäre. Das hat nur Frankreichs Premierminister Manuel Valls getan.

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Ich hoffe, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sich ebenfalls äußert. Wir brauchen ein klares Signal der Politik, dass gewalttätige Demonstrationen auf deutschen und europäischen Straßen nicht toleriert werden. Wenn solche klaren Stellungnahmen nicht kommen, dann wird das Ganze weiter eskalieren und sich zu einem Flächenbrand ausdehnen. Damit werden Konflikte des Nahen Ostens mitten ins Herz Europas getragen.

Die Welt: In Frankreich sind propalästinensische Demonstrationen verboten worden. Wäre das auch für Deutschland sinnvoll?

Kramer: Ein Demonstrationsverbot wäre heikel. Das Recht auf Meinungsfreiheit ist eines der wichtigsten, was wir in unserer Verfassung haben. Aber wenn solche Demonstrationen zuverlässig in Gewalt und Hass umschlagen, gibt es keine Alternative zu einem Verbot. Die Polizei muss umgehend einschreiten, wenn sie Gewalt und Hassparolen vor Ort miterlebt. Das hat sie bei den jüngsten Demonstrationen leider nicht immer getan.

Die Welt: Können sich Juden in Deutschland momentan noch sicher fühlen?

Kramer: Ich neige nicht dazu, in Panik zu verfallen. Aber das, was wir in den vergangenen Tagen erlebt haben, lässt mich daran zweifeln, dass die jüdische Minderheit in Europa sicher ist.

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