Zum Inhalt springen
Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Warum Merkel eine wertelose Digitalpolitik macht

Der Nationale IT-Gipfel konnte den Eindruck erwecken, Angela Merkel sei zögerlich oder würde das Internet nicht richtig verstehen. Doch in Wahrheit wartet die Kanzlerin, bis sich für sie günstige Gelegenheiten ergeben.
Angela Merkel beim Nationalen IT-Gipfel: Warten auf günstige Gelegenheiten

Angela Merkel beim Nationalen IT-Gipfel: Warten auf günstige Gelegenheiten

Foto: Axel Heimken/ dpa

Die Geschehnisse rund um den IT-Gipfel 2014 haben erneut gezeigt, dass Angela Merkel ganz genau weiß, was sie tut. Auch wenn Medienkommentare tendenziell abfällig klingen, auf Blogs fehlendes Verständnis diagnostiziert wird und auf Twitter Hunderte Handflächen vor Hunderte Stirnen geschlagen werden. Die Einschätzungen, sie habe das Internet oder irgendetwas Digitales nicht verstanden, sind sogar dann falsch, wenn sie sachlich richtig sein mögen.

Denn Angela Merkel geht es nicht um das Verstehen, sondern um das Herrschen. Und "Verständnis" in seiner Mehrfachbedeutung zwischen "Verstehen" und "Einfühlungsvermögen" war schon immer hinderlich  für die Machtausübung. Angela Merkel versteht sehr gut die machtarithmetischen Implikationen der digitalen Sphäre. Und alle anderen sind ihr egal, das Netz findet in ihrer Politik nur als Verhandlungsmasse zur Machterhaltung statt. Und leider alles andere auch, inklusive grundgesetzlicher Werte.

Angela Merkel ist damit das Gegenteil von wertkonservativ, man könnte es wertloskonservativ nennen. Dahinter steht die Überzeugung: Wir sind die einzig Guten, die einzig Richtigen, die einzig Vernünftigen. Bei der CSU ist dieses hochkant gebratene Konzentrat politischer Selbstgerechtigkeit am unverhülltesten zu besichtigen, es erklärt die Wendigkeit Seehofers. Aber auch und vor allem Angela Merkels Handeln richtet sich danach (nur geschickter als der plumpe CSU-Style): Weil wir so unglaublich richtig sind, ist das Land mit uns im Sattel in jedem Fall am besten dran, egal, was wir entscheiden. Die Machterhaltung wird zum Selbstzweck, der Rest ist Verhandlungssache.

Während des IT-Gipfels wurde ein neuer Aspekt der Totalüberwachung durch Recherchen des ZDF-Magazins "Frontal 21"  bekannt. "Aspekt" ist tief gestapelt, es handelt es sich um einen weiteren Beweis, dass die "NSA-Affäre" keine solche ist. Sie ist eine Überwachungskatastrophe, an der die Bundesregierung und deutsche Behörden einen Anteil haben, der nicht wesentlich kleiner ist als der der US-Behörden. Das Außenministerium hat 2011 und 2012 in sogenannten Verbalnoten über 100 Unternehmen rechtlich mit den US-Streitkräften gleichgestellt. Private Unternehmen, die weder theoretisch noch praktisch durch das deutsche Parlament kontrolliert werden können, bekamen die Befugnis, soziale Netzwerke und E-Mails in Deutschland auszuschnüffeln. Das einen Überwachungsblankoscheck zu nennen, ist dramatisch untertrieben.

Bundesregierung ignoriert die Totalüberwachung weg

Besonders absurd wirkt das im Kontext von Vizekanzler Gabriels medialem Oeuvre zum Internet, das schwerpunktmäßig aus Forderungen, Beschwerden und Drohungen gegenüber amerikanischen Netzkonzernen besteht. Nur, dass er Google, Facebook und Google meint und nicht eine digitale Privatdivision der US-Armee, die mit Genehmigung des deutschen Außenministeriums alle möglichen Gesetze bricht.

"Frontal 21" zitiert den Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano: "Wenn die Bundesregierung diese Firmen sogar privilegiert, erleichtert sie diesen Firmen Praktiken, die gegen Völkerrecht und auch gegen deutsches Recht verstoßen. Sie macht sich damit mitverantwortlich für diese Tätigkeiten." Solche Verbalnoten werden nicht eigenmächtig von Abteilungsleitern verfasst, Merkel muss davon gewusst haben. Sie stünde in bester CDU-Tradition, denn mithilfe von Verbalnoten erlaubte Konrad Adenauer  den Alliierten 1954 im Prinzip alles unter dem schwammigen Begriff "Schutzmaßnamen". Darauf stützte sich das Überwachungsprogramm Echelon. Allerdings ist nicht mehr 1954. Die politischen Umstände haben sich verändert, was außer Xavier Naidoo alle bemerkt haben müssten.

Die Bundesregierung aber hat beschlossen, die selbst mitverschuldete Totalüberwachung wegzuignorieren. Sollte es bei der SPD noch Kräfte geben, die den eigenen Aussagen aus dem Wahlkampf ("Grundrechtsbruch!", "Bruch des Amtseids der Kanzlerin!" und so weiter) noch irgendeinen Wert beimessen - sie wehren sich nicht mehr. Zu besichtigen auch im unsäglichen Vorgehen der Regierung gegenüber dem NSA-Untersuchungsausschuss. Dieses geschmeidige Einschwenken kann man sogar noch etwas unappetitlicher finden als Merkels Empörung über die Überwachung ihres Telefons bei gleichzeitigem Herunterspielen der Überwachung der gesamten Bevölkerung.

Herausforderungen der digitalen Welt

Der unbedingte Machtwillen von Merkel bestimmt das Vorgehen bei der Totalüberwachung: Was nicht ins Machterhaltungsschema passt, wird ignoriert. Unter diesem Aspekt muss man die Ergebnisse und Nicht-Ergebnisse des IT-Gipfels betrachten, aus der Perspektive der radikalen Machterhaltung, getarnt als Pragmatismus. Deshalb hat Merkel sich halbgar und definitionswurstig  zur Netzneutralität und der Glasfaservernetzung des Landes geäußert.

Deshalb die große Schwammigkeit in fast allen Aussagen, denn fehlende Festlegung und diffuse Definitionen bedeuten, Entscheidungen später treffen zu können - ein hervorragendes Instrument für Verhandlungen und zum Aufbau von politischem Druck. Daher kommt der zentrale Eindruck des IT-Gipfels 2014, Merkel sei zögerlich oder würde nicht richtig verstehen. In Wahrheit agiert sie machtdarwinistisch und wartet, bis sich für sie günstige Gelegenheiten ergeben.

Und das ist das Problem, denn die digitale Gesellschaft in Deutschland steht vor zwei riesigen Aufgaben, deren Lösung durch machttaktische Spielchen immer schwieriger wird:

  • die Wiederherstellung der Grundrechte, die durch den behördlichen Missbrauch des Internets zu Totalüberwachung permanent gebrochen werden,
  • der Ausbau einer digitalen, netzneutralen Infrastruktur, die als Grundlage für kommende Generationen ungleich wichtiger ist als schwarze Nullen.

Angela Merkel weiß ganz genau, was sie tut, auch und in gerade bei diesen zentralen Herausforderungen der digitalen Welt. Sie hat nur andere Prioritäten als die Sachverständigen, oder vielmehr nur eine andere Priorität. Sich selbst.

tl;dr

Merkels unbedingter Machterhaltungswille erklärt ihre wertelose* Digitalpolitik von Überwachung bis Netzausbau. (* Das zweite "e" ist optional.)

Kennen Sie unsere Newsletter?
Foto: SPIEGEL ONLINE