Kommentar

Wir basteln uns eine böse neue Welt

Heute dürfen immer mehr «unsägliche» Sachen gesagt werden, und die abgestumpfte Gesellschaft nimmt’s hin. So lautet eine populäre These – doch allzu viel Kulturpessimismus wirkt verdächtig.

Lucien Scherrer
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(Illustration: Peter Gut)

(Illustration: Peter Gut)

Unmenschen erkennt man heute weniger an ihren Taten als an ihren Worten. Das zumindest suggerieren deutsche Sprachwissenschafter, indem sie jedes Jahr ein «Unwort» küren. Wer «Gutmensch» und andere zynische Ausdrücke benutzt, so die Botschaft, gehört geächtet und bestraft. Als heisser Anwärter gilt heuer der «Asyltourismus». Verwendet hat ihn unter anderen der bayrische CSU-Ministerpräsident Markus Söder – und damit eine Empörungswelle ausgelöst, die ihn am Ende veranlasste, sich von diesem «rechtsextremen» Ausdruck zu distanzieren.

Dass auch gemässigte bürgerliche Politiker Begriffe wie «Asyltourismus» verwenden, gilt heute als Beleg für eine populäre These: Die «Grenzen des Sagbaren», so lautet sie, würden durch die Agitation rechtspopulistischer Bewegungen systematisch ausgedehnt. Sprich, Donald Trump, die AfD oder die SVP brutalisieren die Sprache, nach dem Motto «Das wird man wohl noch sagen dürfen». Die These vom Unsäglichen erfreut sich nicht nur in deutschen Feuilletons, sondern auch in der Schweiz grösster Beliebtheit. Hier verweisen Politiker und Medien gerne mit masochistischem Stolz darauf, dass man in Sachen «Entgrenzung» schon immer voraus gewesen sei, denn wenn «wir» uns schon nicht für Hitler schämen müssen, dann wenigstens für Blocher und Konsorten.

Enthemmte Grenzwächter

Der «Tages-Anzeiger» behauptete unlängst gar, «Asyltourismus» sei wie Ricola oder Rivella eidgenössischen Ursprungs, sei in den 1990er Jahren von der heute kaum noch existenten Freiheitspartei in die Welt gesetzt worden. Die Folge dieser jahrzehntelangen Berieselung mit bösen Wörtern beschreibt der Autor so: eine abgestumpfte Gesellschaft, in der «wir» uns jede verbale «Grausamkeit» gefallen lassen, denn «der Mensch gewöhnt sich an alles».

Die These von der Entgrenzung klingt zunächst einmal einleuchtend. Kaum jemand würde bestreiten, dass heute viel mehr verbaler Dreck an die Oberfläche kommt, weil sich in den sozialen Netzwerken alle Schreihälse, Hetzer und Verschwörungstheoretiker öffentlich austoben dürfen. Gleichzeitig gehört es zum erklärten Ziel neurechter Parteien wie der AfD, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten. Dass ein Bundestagsabgeordneter wie Alexander Gauland das «Dritte Reich» als «Vogelschiss» in der deutschen Geschichte bezeichnet, wäre früher undenkbar gewesen, genauso wie ein US-Präsident, der fast zwanghaft andere Leute beschimpft.

Doch kann man von den Ausfälligkeiten einzelner Provokateure auf eine generelle Verrohung der Sprache oder gar eine Abstumpfung der Gesellschaft schliessen? Vielmehr scheint der Aufstieg der rechten Parteien zu einer Art Hypersensibilisierung geführt zu haben: Während sich die Rechten als Tabubrecher gefallen und gleichzeitig darüber jammern, «man» dürfe gewisse Dinge ja gar nicht mehr sagen, bauscht eine neue Gilde von moralischen Grenzwächtern jedes polemische Wort und jeden Ausspruch eines geistig Verwirrten zum Skandal auf – stets verbunden mit Warnungen, dass man dies den offenbar übermächtigen Rechtspopulisten zu verdanken habe.

Die Folge: Was früher Mainstream war, gilt heute oft als rechtsextrem, nie da gewesen oder überhaupt unsäglich. Das zeigt ausgerechnet der «Asyltourismus» – ein Begriff, der eigentlich nur die Tatsache benennt, dass es Asylsuchende gibt, die sich gezielt Länder aussuchen, wo sie die besten Sozialleistungen erwarten, wegen Asylanträgen von Land zu Land ziehen oder gar ferienhalber in ihre Heimat zurückreisen, in der sie angeblich verfolgt werden. Eine schweizerische oder rechtsextreme Urheberschaft darf bezweifelt werden; zumindest, wenn man alten Presseberichten glaubt, die lange vor dem Unwort «Lügenpresse» in die Welt gesetzt wurden. So zitiert die NZZ bereits 1977 die Westberliner Polizei, die sich über pakistanische «Asyltouristen» nervt. Ein Jahr später ist das heutige Unwort auch im Bundestag zu hören, und 1985 ist es definitiv in der Schweiz angekommen: In jenem Jahr berichtet die NZZ über eine Parteiversammlung, an der ein Nationalrat ein «markiges Votum» zum Besten gab, gegen «neue Formen eines verabscheuungswürdigen Asyltourismus».

Die Existenz rechtspopulistischer Grenzverletzer dient als Vorwand für politisch motivierte Versuche, die Grenzen des Sagbaren immer enger zu ziehen.

Die Antwort auf die Preisfrage, wie der Herr Nationalrat wohl geheissen hat, lautet weder «Christoph Blocher» noch «Michael E. Dreher», sondern «Peter Hess». Genau: Das ist jener Christlichdemokrat, der später als Mandatesammler, aber nie wegen rechtsextremer Gesinnung auffiel. Auch die freisinnige Geneviève Aubry zieht 1986 laut einem «Bund»-Bericht gegen den «leidigen Asyltourismus» vom Leder, während sie echte Flüchtlinge in Schutz nimmt. Anfang der 1990er Jahre schlägt die FDP überhaupt ziemlich harte Töne an: «Unser Land wird überschwemmt von Asylanten», heisst es da in einem Inserat, «die weitaus meisten sind Einwanderer, die einfach an unserem Wohlstand teilhaben wollen und missbräuchlich Asylgesuche stellen.»

Heute, da angeblich immer mehr Unsägliches gesagt werden darf, ginge so etwas locker als «rechte Hetze» durch. Denn gemäss einer Fatwa der vom deutschen Staat alimentierten und von einer ehemaligen Stasi-Informantin geführten Amadeu-Antonio-Stiftung erfüllt bereits der Begriff «Wirtschaftsflüchtling» den Tatbestand der Hetze. Die Existenz rechtspopulistischer Grenzverletzer dient damit als Vorwand für politisch motivierte Versuche, die Grenzen des Sagbaren immer enger zu ziehen.

Wie das geht, zeigt der Fall der deutschen «Zeit»-Journalistin Mariam Lau. Sie hatte es gewagt, das Gebaren von NGO-Flüchtlingshelfern im Mittelmeer zu hinterfragen. Prompt wurde ihr vorgeworfen, sie wolle Migranten ersaufen lassen, «Die Zeit» und der deutsche Journalistenverband ergingen sich in weinerlichen Distanzierungen, dazu setzte es kübelweise Hass und Folterphantasien jenes Mobs ab, der sich selber für linksliberal und anständig hält. Enthemmung? Brutalisierung? Auf jeden Fall, aber gewiss nicht bei Frau Lau.

Unter dem Vorwand, man müsse das neuerdings Unsägliche bekämpfen, werfen sich selbst die Täter von einst in die Pose der moralischen Grenzwächter von heute. So klagt mittlerweile auch der «Blick» mit Verweisen auf Lau und andere Fälle, es dürfe «immer mehr Unsägliches gesagt werden». Schlimmer noch: «Worte wirken, und nicht selten folgen auf Worte Taten. Wohin das führen kann, beweist genau der deutsche Nationalsozialismus.»

Wenn das stimmte, hätte der «Blick» die Schweiz schon lange in ein Mörderlager verwandelt. Denn diese Zeitung lebt bekanntlich seit ihrer Gründung anno 1959 von Busen, Bingo und gezielten Grenzverletzungen. In den 1980er Jahren bekamen das besonders die Tamilen zu spüren, die der «Blick» systematisch als kriminelle Bölimänner und Vergewaltiger an den Pranger stellte. Tenor: «Die Schweiz will die Tamilen nicht». Das ging so weit, dass sich die Nationale Aktion ihr ausländerfeindliches Werbematerial einfach aus «Blick»-Artikeln zusammenbasteln konnte.

Überall Extremisten

Anders, als die Legende von der «Ausweitung des Sagbaren» suggeriert, funktioniert die soziale Kontrolle heute auch im Fall von echten Grenzverletzungen oft viel besser als in den angeblich guten alten Zeiten, manchmal sogar bis zum Exzess. Zu nennen wäre etwa der grüne Ex-Nationalrat Jonas Fricker, der im «Blick» und anderswo als Beweis dafür herhalten musste, dass «die Ausweitung des Sagbaren» das «rechtsnationalistische Lager längst verlassen» habe. Fricker hat bekanntlich während einer Debatte gesagt, Schlachtschweine seien noch schlechter dran als einstige Auschwitz-Häftlinge, denn die hätten zumindest eine kleine Überlebenschance gehabt.

Gewiss ein unsäglicher Vergleich, für den der Nationalrat jedoch teurer bezahlen musste als mancher gerichtlich verurteilte Schläger: Obwohl er sich bei jüdischen Verbänden glaubhaft entschuldigt hatte, wurde er medial lustvoll zertreten und von der eigenen Partei zum Rücktritt gedrängt. Dabei, und das ist das Verlogene an der Entrüstung über die angeblich neue Dimension des Unsäglichen, geistern derartige Vergleiche seit Jahrzehnten herum, in radikalen Tierschützerkreisen ebenso wie im links-grünen Milieu. Dort ist man sogar weit Unsäglicheres gewohnt. So durfte der libysche «Leader» Muammar al-Ghadhafi den Lesern der «Poch-Zeitung» 1986 persönlich erklären, die israelischen «Zionisten» behandelten «das palästinensische Volk wie Hitler die Juden».

Hinter solchen Äusserungen versteckt sich ganz kommuner Antisemitismus. Umgekehrt muss nicht hinter jedem abwertenden Gerede ein Unmensch lauern oder gar ein Absturz in die Barbarei drohen, wie heute gerne suggeriert wird. Zweifellos werden Ausdrücke wie «Asyltourismus» von Extremisten dazu missbraucht, sämtliche Asylbewerber als Spass suchende Betrüger zu diffamieren. Dieses Missbrauchspotenzial bergen jedoch auch ganz nonchalant verteilte Labels wie «Abzocker», «Heuschrecken» oder «Bonzen», über die sich bezeichnenderweise niemand empört, weil sie ja nur «Reiche» treffen. Der bei SP und Jungsozialisten besonders beliebte Begriff «Bonzen» etwa diente Maos Roten Garden als Vorwand, um Tausende chinesische Kleingewerbler, Professoren und andere «Blutsauger» durch die Strassen zu jagen, zu misshandeln und totzuschlagen.

Worten können Taten folgen, aber für eine Brutalisierung der Gesellschaft braucht es meist mehr als Worte. Barbarische Bewegungen zeichneten sich gerade dadurch aus, dass sie in Zeiten kriegerischer Verrohung entstanden, die Demokratie verachteten und von Anfang an auf physische Gewalt setzten – von den Nazis über die Roten Khmer bis zu den von hiesigen 68ern bejubelten Maoisten. Wer obsessiv Worte skandalisiert, wird irgendwann überall Wegbereiter der Barbarei erkennen. Die wirklichen Extremisten wird’s freuen, denn wo lauter Unmenschen sind, sieht man sie überhaupt nicht mehr.