Die Tiger der Sundarbans – gut 180 soll es noch geben – sind clever. Sie beobachten ihre Beute und warten auf einen günstigen Moment. Dann greifen sie an. (Bild: Mauritius)

Die Tiger der Sundarbans – gut 180 soll es noch geben – sind clever. Sie beobachten ihre Beute und warten auf einen günstigen Moment. Dann greifen sie an. (Bild: Mauritius)

Die tödlichen Wächter des «schönen Waldes»

Sie leben in den Sundarbans, den riesigen Mangrovenwäldern am Golf von Bengalen: Sumpftiger, die vielleicht gefährlichsten Raubkatzen. Sie jagen auch Menschen,
wenn diese in ihr Revier eindringen.

Sascha M. Kleis
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Jemand hat einmal gesagt: Wenn du einem Tiger folgst, sei dir sicher, dass du ihm auch wirklich begegnen willst! Seit ich in den Sundarbans bin, denke ich darüber nach. Nirgendwo auf der Welt sind sie gefährlicher als hier, in den morastigen Wäldern des Flussdeltas zwischen Indien und Bangladesh, an der Bucht von Bengalen. Und nirgendwo sonst hört man so abenteuerliche und unheimliche Geschichten über sie: Aus dem Nichts sollen sie auftauchen, wie Krokodile aus dem Wasser schnellen, Boote verfolgen, sogar attackieren – die Tiger der Sümpfe gelten als Menschenfresser. Und man sagt ihnen eine beängstigende Kenntnis unseres Verhaltens nach. Das wilde Naturell der hier lebenden Königstiger unterscheidet sie von allen anderen ihrer Art. Manche nennen sie Sundarbantiger, andere Sumpftiger. Um ihnen nahe zu kommen, muss man in ihr Revier eindringen.

Seit dem frühen Morgen arbeitet sich das kleine Schiff entlang verschlungener Wasserwege. Mit an Bord ist Shakti Banerjee. Der ehemalige Regionaldirektor des WWF kennt die Gegend und begleitet mich. Die Sonne ist noch zu kraftlos, sich ihren Weg durch die morgendlichen Nebelschleier zu bahnen. Wie Spinnweben hüllen sie die kaum erforschten Sümpfe ein und lassen sie wie eine Traumlandschaft erscheinen. Banerjee hat etwas im Dickicht gesehen. Der Kapitän drosselt die Geschwindigkeit. Im Schritttempo gleiten wir am nebelverhangenen Ufersaum entlang und starren angespannt in die Büsche. Vergeblich. Kurz darauf klart es auf: Es ist ein Axishirsch, ein häufiges Beutetier des Tigers.

Wasserwege führen durch die dichten Mangrovenwälder der Sundarbans. (Bild: Imago)

Wasserwege führen durch die dichten Mangrovenwälder der Sundarbans. (Bild: Imago)

Stunden später steuern wir einen Beobachtungsturm an, mit einsehbaren Freiflächen und einer Wasserstelle. Hier sollen öfter mal Tiger aufkreuzen. In tropischer Schwüle ist nun Geduld gefragt. Und ein Fernglas. Zwei Wildschweine wagen sich aus der Deckung. Ängstlich eilen sie zum Wasserloch. Doch nach nur einem Schluck schlagen sie sich grunzend und überhastet in die Büsche. Liegt ein Tiger auf der Lauer? Von Wildschweinen ist bekannt, dass sie über einen hervorragenden Geruchssinn verfügen und Gefahren von Mensch und Tier auf bis zu 300 Metern Entfernung wittern können. Doch es ist nichts zu sehen. Im Gegensatz zum Löwen hält sich der Tiger nur selten in freiem Gelände auf. Er ist verflixt geheimnistuerisch.

Etwa 100 Opfer jährlich

Und er tötet nirgendwo so viele Menschen wie hier: 30 bis 40 Opfer jährlich allein im indischen Teil, der 40 Prozent der 10 000 Quadratkilometer grossen Sundarbans ausmacht; mit Bangladesh zusammen sind es 100 Opfer, doch die Dunkelziffer liegt höher. Hinzu kommen tödliche Attacken durch Krokodile und Giftschlangen. Es heisst, in den Sümpfen hätten schon so viele Menschen ihr Leben verloren, dass sie voll von ihren Geistern seien.

Der «schöne Wald», so die wörtliche Bedeutung der Sundarbans, ist oft keine zehn Meter hoch und erstreckt sich über viele Inseln. Er ist durchzogen von Flussläufen und Kanälen, die sich wie Blattadern auffächern und deren Wasser manchmal so dick und träge dahinfliesst wie Blut. Jedes Kartenprojekt mit detailliertem Anspruch ist hier schon veraltet, bevor es abgeschlossen ist: Flussbetten verschieben sich, Uferbänke werden weggespült, Kanäle versanden, um sich anderswo neue Wege zu bahnen. In dieser sich permanent wandelnden Welt, einem artenreichen, von Zyklonen heimgesuchten Ökosystem, liegt eines von 50 Tigerreservaten Indiens. 1973 gegründet, verteilt sich das 2585 Quadratkilometer grosse Areal mit dem Weltnaturerbe des Sundarbans-Nationalparks auf eine Kern- und eine Pufferzone. 76 Tiger sollen hier, im indischen Teil der Sundarbans, gegenwärtig leben, im benachbarten Gebiet von Bangladesh 106. Mit insgesamt 182 Tigern stellen die Sundarbans rund 5 Prozent des weltweiten Bestandes, der bei knapp 4000 liegt. Über die Hälfte von ihnen, etwa 2200, streifen durch Indiens Wälder.

Am Rande der Pufferzone lebt Anil Mistry von der Tierschutzorganisation WPSI. Tiger würden hier eher selten gewildert, sagt er. Anderswo in Indien aber umso häufiger, vor allem wegen ihrer Knochen und anderer Körperteile. In Ost- und Südostasien sind sie in der traditionellen chinesischen Medizin begehrt und als Potenzmittel gefragt. In Indien gibt es keinen Markt dafür. Laut WPSI wurden landesweit rund 1150 Tiger in den letzten 25 Jahren gewildert, im Schnitt über 40 pro Jahr; doch auch hier ist die Dunkelziffer höher.

Tiger sind Einzelgänger. Hier die Spuren eines Exemplars. (Bild: Imago)

Tiger sind Einzelgänger. Hier die Spuren eines Exemplars. (Bild: Imago)

Mistry kennt die einzelgängerischen Tiger gut. In anderen Nationalparks fiel ihm auf, dass sie durch den Tourismus oftmals konditioniert sind und kaum reagieren, selbst wenn sie Menschen auf Jeep-Safaris vor sich haben. «Die Tiger dort sind ruhiger, sie bleiben cool. In den Sundarbans sind sie wilder, unberechenbarer, aggressiver. Sie brüllen mehr. Und sie sind stets hungrig.» Querfeldein-Safaris sind nicht möglich, das sumpfige Areal gilt wegen der Tiger, Krokodile und Giftschlangen als lebensgefährlich. Auf Bootstouren kann man dafür Rand- und Pufferzone erkunden, hier und dort an Land gehen, auf Beobachtungstürme steigen und nach Tigern Ausschau halten, auch Dörfer besuchen. Die 1700 Quadratkilometer grosse Kernzone bleibt jedoch tabu, ausser für Forstbeamte, die sich nur bewaffnet und mit Körperschutz auf Patrouille wagen. Trotzdem kamen manche um, einer mit dem Finger am Abzug: Er schaffte es nicht einmal mehr abzudrücken. «Eine Sekunde ist eine lange Zeit im Dschungel», bemerkte einst Tahawar Ali Khan, ein abgebrühter Tigerjäger längst vergangener Tage. «Und ein Zehntel davon kann entscheiden über . . . Leben und Tod.»

Den Rücksichtslosen und Gierigen präsentiert der Wald die Rechnung. Der Tiger kassiert, gezahlt wird mit dem Leben.

Das weiss auch Idrish Ali, der vor Jahren nur knapp dem Tod entronnen ist. Er zog als Honigsammler los. Alljährlich begeben sich Männer von April bis Juni für das süsse Gold tief in den Wald. Das Risiko ist allen bewusst. Doch die Armut ist gross und die Bezahlung gut. Fast immer kommt es zu Tigerattacken, gibt es Verletzte und Todesopfer, was dem Sundarbanhonig den Namen Bluthonig einbrachte. Auch Tiger mögen ihn. Wenn die Männer kommen, lauern sie hinter dem Busch. «Wir waren sieben Mann», erzählt Ali. «Ich ging voran. Plötzlich erschien aus dem Nichts ein Tiger und schoss wie ein Pfeil auf mich zu!» Die Wucht des Angriffs schleuderte ihn gegen einen Baum, der Aufprall machte ihn fast bewusstlos. «Eine Tigerpranke war auf meiner Brust, die andere auf meinem Kopf.» Seine Begleiter eilten zu Hilfe und vertrieben den Tiger mit Stöcken und Geschrei. Ali überlebte, schwer verletzt.

Tiger sind blitzschnell und in den Sundarbans amphibisch, im Wasser wie auf dem Land gefährlich. Sie gelten als starke Schwimmer. Ein Boot, das nur von einem Mann gerudert wird, sollen sie einholen können. Und sie sind clever. Mistry weiss noch, wie ein Tiger ihn und seine Begleiter im Boot einmal abpassen wollte – er folgte ihnen hinter den Büschen. Doch sie bemerkten es. «Der Tiger beobachtet seine Beute und wartet auf einen günstigen Moment. Dann greift er an.»

1500 Franken für ein Leben

Kürzlich habe es einen alten Krabbenfischer getroffen, erzählt mir Banerjee auf dem Schiff. Immer tiefer schiebt es sich ins Labyrinth, durch enger werdende Kanäle, deren Ufer nun näher rücken. Ein Krokodil kühlt sich im Schlamm. Auch sie werden von Bengalen als Menschenfresser gefürchtet. Eisvögel lassen sich blicken, Axishirsche, Warane, Rhesusaffen; nur keine Tiger. Im Dorf arrangieren wir ein Treffen mit Koushalya, der Witwe des Krabbenfischers, und ihrem Sohn Krishnapada. Als Banerjee den Polizeireport vorliest, bricht sie fast zusammen – sie ist nun eine Tigerwitwe. Am Morgen um 4 Uhr 30 attackierte ein Tiger das am Ufer liegende Boot. Er kam von hinten, packte ihren Mann vor den Augen der zwei Begleiter und schleifte seinen Körper in den Dschungel – man fand ihn nie wieder. Banerjee sagt, dass sie eine staatliche Entschädigung erhalten werde, da ihr Mann eine Genehmigung gehabt habe: umgerechnet 1500 Franken – für ein Leben; dazu 1500 Franken von der Lebensversicherung. Krishnapada erwägt, damit einen Laden zu eröffnen. Die beiden seien noch gut dran, meint Banerjee. Wer illegal in den Wäldern unterwegs ist, wird bestraft, und die Hinterbliebenen erhalten im Todesfall nichts. Also schweigen sie. Und trauern leise.

Das Leben in den Sundarbans ist ein ständiger Kampf. (Bild: Imago)

Das Leben in den Sundarbans ist ein ständiger Kampf. (Bild: Imago)

Trotzdem zieht es die verarmten Bewohner in die Wälder, auch wenn es illegal ist. Sie fischen, fällen Bäume, sammeln Holz. Manche wildern auch, was die Beutetiere der Tiger verknappt. Und so kommen die Raubkatzen in die Dörfer. «Du hörst sie nicht», sagt Mistry. «Aber plötzlich wird es totenstill.» Die Tiere geben keinen Mucks von sich. Sie wissen: Der Tod geht um. «Der Tiger kommt aber nicht, um Menschen zu töten. Er sucht nur Vieh. Da ist mehr dran.» Wie Banerjee ist er überzeugt, dass Sundarbantiger keine notorischen Menschenfresser sind. «Dringen Menschen ins Revier des Tigers ein, betrachtet er sie als Beute.» Doch wenn ein Tiger ins Dorf kommt, passiert oft nichts; er weiss, dass dies nicht sein Revier ist, und verhält sich anders. Unglücksfälle geschehen meist, weil Tiger, provoziert und von Menschen umringt, in die Enge getrieben werden. Sie sehen dann keinen Ausweg mehr und greifen an, was für sie oft tödlich endet, weil sich die Menge rächt. Einmal, erzählt Mistry, habe sich ein Tiger nachts ins Haus eines alten Mannes geschlichen. «Er sprang aufs Bett, trat sogar auf den schlafenden Mann. Aber er liess ihn in Ruhe!» Doch im Wald jagt er alles, nimmt, was er kriegen kann – auch Menschen. Denn das Terrain ist schwierig und die Beute rar.

Tigerangriff aus dem Wasser

Sogar aus dem Wasser heraus sollen Tiger in Boote gesprungen sein, um Menschen zu attackieren. «Zwei Mal habe ich es erlebt», sagt Anil Mandal. Über 50 Jahre war er in den Sümpfen unterwegs. Er erlebte es im Mondlicht. Der Tiger schwamm vom Ufer zum Boot vor ihm, wuchtete sich hinein und griff an. Er packte den Mann, schwamm mit ihm zurück und zerrte den Körper in den Dschungel.

Die Dämmerung bricht herein. Ich bin allein an Deck. Zikaden und Frösche lassen das Abendkonzert erklingen, während sich weiter weg drei Fischerboote an einer Flusskreuzung sammeln. Kleine Kochfeuer werden entfacht. Auch Schmuggler und Piraten treiben sich in den Sümpfen herum. Mancher Bengale wurde schon wegen Lösegeld entführt. Oder er verschwand spurlos, nachdem er eingeschlafen und sein Boot ans Ufer getrieben war, wo die Tiger lauern. Die Axishirsche, die eben noch schräg gegenüber auf der Insel grasten, sind plötzlich weg, abgetaucht ins Dickicht. Was hat sie verschreckt? Das, was da im Fluss schwimmt? Es macht Wellen. Sollte das etwa . . . Aufgeregt blicke ich durch mein 8×56-Glas: ein Tiger! Shir Khan wechselt das Ufer.

Manche Bengalen glauben, dass die Tiger den Wald bewachen, dass sie die Respektlosen und Gierigen bestrafen, wenn sie ihn plündern und mehr nehmen, als sie brauchen. Dann präsentiert der Wald die Rechnung: Der Tiger kassiert, gezahlt wird mit dem Leben. Seine Macht, so beschrieb es die Naturforscherin Sy Montgomery einmal, durchzieht die Sümpfe, wie das Salz den Flüssen Geschmack verleiht. Nicht wenige Bewohner der Sundarbans schreiben dem Tiger übernatürliche Kräfte zu. In meinen Gesprächen mit ihnen spürte ich, dass sie ihn nicht lieben, aber respektieren. Sie fürchten ihn, aber hassen ihn nicht. Und vielen ist klar, dass die Mangrovenwälder nur noch stehen, weil die Tiger da sind. Sie sind die Wächter des «schönen Waldes».

Gut zu wissen

Tiger: Mehr Informationen unter WPSI - Wildlife Protection Society of India und National Tiger Conservation Authority.

Anreise: Von Kolkata/Kalkutta per Überlandfahrt und Boot in die Sundarbans (zirka 5 Stunden, organisiert von Hotels) oder per Schiff vom Stadtzentrum.

Flusskreuzfahrten: Von Kolkata in die Sundarbans oder umgekehrt, 4 Tage, 3 Nächte, von Ende August bis Ende März.

Die Reise wurde unterstützt von Vivada Cruises und dem Tora Eco Resort.