Moderner Ablasshandel: Flieg so viel Du willst, aber spende wenigstens Geld. Und entsorge Deinen Müll korrekt

Nur nicht weg vom Gaspedal! Kaufen Sie sich lieber ein CO2-Zertifikat. Sündigen ist am schönsten, wenn die Vergebung gleich mitgeliefert wird. Das ist heute nicht anders als im Mittelalter.

Volker Reinhardt
Drucken
Fliegen nach Lust und Laune? Aber klar. Die Kompensation für den CO2-Ausstoss wird auf Wunsch zum Ticket ja gleich mitgeliefert. (Bild: McPhoto / Erwin Wodicka)

Fliegen nach Lust und Laune? Aber klar. Die Kompensation für den CO2-Ausstoss wird auf Wunsch zum Ticket ja gleich mitgeliefert. (Bild: McPhoto / Erwin Wodicka)

Der Ablass – lateinisch «indulgentia» – war ein klassisches Win-win-Geschäft. Die Gläubigen, die einen Ablassbrief erwarben, tilgten damit ihre Sündenstrafen im Fegefeuer – lateinisch: Purgatorium, von «purgare», reinigen. Sie mussten also nicht mehr befürchten, vor dem Aufstieg ins Paradies eine peinvolle Haftstrafe für ihre irdischen Vergehen abzusitzen. Mit anderen Worten: Eine solche Indulgenz war die perfekte Lizenz zum hemmungslosen Hedonismus, ja, zum angstfreien Über-die-Stränge-Schlagen, denn so toll man es auch getrieben hatte, Straferlass liess sich in der nachfolgenden Katerstimmung ja jederzeit nachkaufen.

Doch jedes Geschäftsmodell ist verbesserungsfähig, so perfekt es den Kundenbedürfnissen auch angepasst zu sein scheint. Und so schickte der Vatikan, die grosse Sündenstrafen-Vergebung-Bank, im 15. Jahrhundert ein noch konkurrenzfähigeres «Produkt» auf den Markt des schlechten Gewissens: den Ablass für die bereits Verstorbenen. Diese wurden jetzt wie durch eine nachträglich erlassene Amnestie aus den reinigenden Flammen des Purgatoriums erlöst und in entschieden lieblichere Gefilde befördert – vorausgesetzt, ihre Söhne oder ihre Enkel oder andere mitleidige Seelen opferten das für diesen Aufstieg nötige Kapital. Doch dazu sollte eine pietätvolle Nachkommenschaft ja wohl bereit sein.

Gerade die nächsten Angehörigen wussten am besten, was die lieben Dahingeschiedenen auf dem Kerbholz gehabt hatten, und wer wollte vor den Nachbarn schon als undankbar dastehen? So wurde diese «indulgentia pro defunctis» trotz Bedenken seriöser Theologen ein wahrer Kassenschlager. Bekanntlich wurde durch den päpstlichen Profit aus dem Ablassgeschäft, an dem zahlreiche Unternehmer und Subunternehmer beteiligt waren, auch die neue Peterskirche in Rom finanziert.

Sind die Toten auch zerknirscht?

Denkt man sich die enormen Gewinne aus dieser Sparte weg, so würde eine stolze Zahl von Kulturdenkmälern Europas mit einem Schlag verschwinden – sie hätten nie gebaut werden können. Dabei übersahen die allermeisten Käufer fraglos das Kleingedruckte der Geschäftsbedingungen: Wirksam wurde das investierte Geld nur, wenn der Käufer seine Missetaten aufrichtig bereute und entsprechend zerknirscht war.

Wie das mit den Toten funktionieren sollte, blieb allerdings offen. Als ein anfangs obskurer Theologieprofessor aus der Provinzuniversität Wittenberg namens Martin Luther diesen Deal lauthals anzuprangern begann, waren die Lizenznehmer, die einen Fixbetrag nach Rom abzuführen hatten, begreiflicherweise wütend, drohte ihnen doch jetzt die Klientel wegzubrechen – die weiteren Folgen sind bekannt.

Selbst die frömmsten Gläubigen werden kaum leugnen, dass Konditionen, Kultformen und Konventionen ihrer Konfession dem historischen Wandel unterliegen; so steht bekanntlich in der Bibel nichts vom Purgatorium. Dauerhaften Erfolg haben Religionen dann, wenn sie menschliche Urerwartungen und Urängste ansprechen, die sie vorher kräftig geschürt haben.

Das sechste Gebot

Im Fall der Indulgenzen trifft das alles zu. Ablassbriefe wie zur Zeit Luthers gibt es heute nicht mehr, doch Indulgenzen können Katholiken bis heute gewinnen, ohne finanziellen Aderlass, versteht sich: durch den Besuch Roms und seiner Hauptkirchen in heiligen Jahren zum Beispiel. Demgegenüber sind die Protestanten aller Richtungen weiterhin der Ansicht, dass gute Werke zwar ethisch vorgeschrieben, doch vor Gott nicht verdienstvoll sind, was in dieser Kultursphäre seit einem knappen halben Jahrtausend das endgültige Aus für den kirchlichen Ablass zur Folge hat.

Doch gerade in dieser Kultursphäre – wenngleich nicht nur dort – lebt der Ablass bis heute in säkularisierter, das heisst «verweltlichter» und darüber hinaus in mannigfaltig modifizierter Form fort. Dem geschichtlichen Wandel der Religionen sind auch Heilsstreben und Sündenbewusstsein unterworfen. Wie viele Menschen heute noch an ein ewiges Leben im Jenseits glauben, ist schwer zu ermitteln.

Ziemlich sicher erscheint hingegen, dass eine Neuformulierung der Zehn Gebote das sechste, das Verbot des Ehebruchs, streichen und stattdessen auf einen der ersten Plätze einen kategorischen Imperativ nach dem Muster «Du sollst die Erde, unseren blauen Planeten, hegen und pflegen» sowie «Du sollst die Natur nicht schädigen» setzen würde; und in einem neuen, innerhalb der Kirchgemeinden demokratisch vereinbarten Katechismus würde es bei der Auslegung dieser Gebote fraglos heissen: «Du sollst deinen Müll sauber trennen und korrekt entsorgen.»

Wer viel sündigt, zahlt am meisten

Dieses verwandelte Sündenbewusstsein wird uns von staatlichen Institutionen wie Schulen und Universitäten, aber auch von den Medien mit grosser Regelmässigkeit eingeschärft – mindestens einmal pro Woche verweist eine Hauptausgabe der «Tagesschau» auf die Abermillionen Tonnen Plastikabfall in den Weltmeeren oder ähnliche Umweltsünden. Das alles soll, ganz im Sinne der Ablasstheologen, «attritio» und «contritio», die sich steigernden Regungen der Zerknirschung, zur Folge haben.

Doch der Endzweck dieser Ritualisierung ist wie im 15. Jahrhundert die «satisfactio», die Wiedergutmachung. Sie bemisst sich selbstverständlich am ökologischen Fingerabdruck, also nach dem bewährten Ablassmuster: Wer am heftigsten sündigt, zahlt am meisten. Und nach diesem Grundsatz wird es richtig teuer, hat die durchschnittliche PS-Stärke der Personenkraftwagen in den letzten Jahren doch um ein Viertel zugenommen, und zwar ohne zwingenden Grund: Geschwindigkeitsbegrenzungen gibt es inzwischen, einige Autobahnstrecken in Deutschland ausgenommen, fast flächendeckend, und wer ausser Förstern und Rangern fährt schon grössere Strecken offroad?

Daher fällt das Aufkommen von Spenden an Umweltorganisationen in den Stadtvierteln, in denen die höchste Übermotorisierung und SUV-Dichte zu konstatieren ist, klar überproportional aus. So stellt sich wiederum eine Win-win-Situation wie vor dem Auftreten Luthers ein: Man kann weiterhin kerosinaufwendige Flugreisen unternehmen und sich von der dafür gerechterweise zu erwartenden Strafe, dem schlechten Gewissen, durch den Obolus zur Rettung der Wale freikaufen. Manche Reiseanbieter führen in ihren Print- und Online-Katalogen bereits förderungswürdige Umweltorganisationen auf, an die man den Ökoablass als Wiedergutmachung für die Reisesünde postwendend überweisen kann.

Sicher ist sicher, wenn's um Vergebung geht

Martin Luther, der unermüdliche Streiter gegen den Ablass, war der Meinung, dass die besseren Alternativen zu diesem darin bestanden, entweder gar nicht mehr zu sündigen oder aber ganz auf die unverdiente Vergebung der Sünden durch Christus zu hoffen. Dabei war die erste Option reine Theorie, denn seit dem Sündenfall Adams und Evas im Paradies haftete den Menschen seiner Ansicht nach die Neigung zum Bösen wie eine untilgbare Erbkrankheit an.

Die Gnade der Vergebung aber hatte Gott in seinem unerforschlichen Ratschlag den einen geschenkt und den anderen verweigert, und zwar lange vor ihrer Geburt, wobei die Verdammten für ihn fraglos die Mehrheit bildeten. Für die Gläubigen, die auf diese Weise gar nichts zu ihrem Heil beitragen konnten, war das ein sehr riskantes Modell – kein Wunder, dass sie auch in formell protestantischen Gebieten lange auf bewährte Vermittlungsmethoden wie die Fürsprache der Heiligen und den Ablass vertrauten.

Würde der Mensch also sündenärmer leben, wenn es den Ablass nicht gäbe? Im Sinne des anthropologischen Pessimisten Luther ist davon auszugehen, dass wir dann andere Mittel und Wege zur Beruhigung unseres Gewissens fänden. So ist zwar selbstverständlich zu hoffen, dass die Sünden wider die Umwelt aufhören. Da das jedoch, obwohl wahrlich wünschenswert, keineswegs zu erwarten ist, kann man nur hoffen, dass kein neuer Luther auftritt, der das neue Ablassmodell verwirft.

Am Ende sticht doch ein handfester Unterschied zwischen dem 15. und dem 21. Jahrhundert ins Auge: Ob der Ablass die armen Seelen aus dem Purgatorium befreite, war und ist Glaubenssache. Dass WWF, Greenpeace und Co., denen der neue Ablass zugutekommt, zwar nicht die Sündenstrafen, aber die Sündenfolgen reduzieren, das dürfte ausser Frage stehen.

Volker Reinhardt ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg i. Ü. 2018 ist bei C. H. Beck sein neues Buch «Leonardo da Vinci. Das Auge der Welt» erschienen.