Ein Leben für das Eis: Otto Zengaffinen wässert das Eis von Saas-Fee mit einem dicken Schlauch, am Tag, in der Nacht, seit 30 Jahren. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Ein Leben für das Eis: Otto Zengaffinen wässert das Eis von Saas-Fee mit einem dicken Schlauch, am Tag, in der Nacht, seit 30 Jahren. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Sisyphos in der Kälte - vom Arbeiten und Scheitern eines Eismeisters

Weihnachten ist Eiszeit – doch was, wenn das Wetter es anders will? Vom Leben und Leiden eines Eismeisters

Samuel Burgener, Saas-Fee
Drucken

In der Woche vor Weihnachten steht Otto Zengaffinen, 75 Jahre alt, an der Bande der Eisbahn von Saas-Fee im Oberwallis, 1800 Meter über Meer. Er blickt auf die Touristen und Einheimischen, die Schlittschuh laufen oder Eishockey spielen. Er sieht junge Leute, die Curling-Steine über eine Bahn schieben. Das Eis ist 30 Zentimeter dick, 1200 Kubikmeter gefrorenes Wasser. Otto, den alle duzen, sagt: «Eismachen ist eine Wissenschaft. Und ein bisschen Magie.»

In der Schweiz gibt es rund 400 Anlagen für Eissport, die meisten sind Eishallen oder Kunsteisbahnen im Freien. Otto kümmert sich um die meistgenutzte Natureisbahn der Schweiz. Er spritzt, wässert, pflastert, giesst und putzt von Anfang November bis Mitte Februar. Eine Lokalzeitung schrieb einmal, Otto flüstere zum Eis.

Ottos Geschichte ist die Geschichte eines Sisyphos in Eis und Schnee.
Jedes Jahr beginnt Otto am 10. No­vember mit dem Eismachen, weil die Sonne den Sportplatz dann kaum mehr erreicht. In diesem Jahr misst die Temperatur in der Nacht auf den 10. November minus zwei Grad. Otto steht mitten auf dem Sportplatz, steht im Dunkel der Nacht. Er trägt Stiefel, Skihosen, eine Daunenjacke, orangefarbene Handschuhe, eine Mütze. Er berieselt die Fläche des Sportplatzes mit einem Spritzer und einem dicken Schlauch. Er geht umher, schaut, greift in den Boden.

Ein frommer Wunsch

Otto vereist 4500 Quadratmeter. Sie bestehen aus einem Hartgummifeld, mehreren Tennisplätzen und einer Betonfläche. Der Hartgummi konserviert die Erdwärme; das Wasser braucht lange, bis es darauf gefriert. Im sandigen Tennisplatz versickert viel Wasser, bevor sich Eis bildet. Nur auf dem Beton wird das Wasser schnell zu Eis. Otto macht Schicht um Schicht. Pro Stunde schafft er einen Millimeter Eis. Im besten Fall braucht Otto drei Wochen bis zum spielfertigen Eis. Der beste Fall ist ein frommer Wunsch.
Otto wuchs in Siders auf, im Walliser Talgrund. Er lernte Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Ausläufer der Rhone. Schon als Kind arbeitete er im Landwirtschaftsbetrieb der Eltern, einer Geflügelfarm und Obstplantage. Er bediente Maschinen, kämpfte mit der Natur und gegen sie – wie heute. Otto war auch Ringer in der Westschweizer Auswahl, 1,74 Meter gross und flink. Mit 23 Jahren wurde er Eishockey-Goalie. Die meisten hören in diesem Alter auf.

Otto Zengaffinen arbeitet oft im Dunkel der Nacht. Er sagt, ein guter Eismeister gehe nicht ins Bett.(Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Otto Zengaffinen arbeitet oft im Dunkel der Nacht. Er sagt, ein guter Eismeister gehe nicht ins Bett.
(Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

1964 zog Otto ins Saastal, ein tiefes Seitental im Oberwallis. Er spielte Eishockey für Saas-Grund in der 1. Liga und später für Saas-Fee. Wegen Vreni blieb er im Tal, sie bekamen drei Kinder. Otto arbeitete in Siders im Betrieb der Eltern. Über Mittag trainierte er in der Eishalle von Siders, weil der berühmte Kanadier Jacques Lemaire einen Goalie fürs Training suchte. Lemaire schoss Otto die Pucks an den Ohren vorbei ins Tor.

Wenn das Flutlicht der Eisbahn von Saas-Fee im November zum ersten Mal brennt, ist das für viele Kinder im Dorf ein Ereignis. Wie Weihnachten, Ostern, das Grümpelturnier. Otto kündigt seit dreissig Jahren den Winter an.

Am 15. November misst das Eis fünf Zentimeter. Dann kommt plötzlich die Wärme, kommt der Föhn. Die Schicht schmilzt in wenigen Stunden dahin. Das Eisfeld wird zum Wasserbecken. Otto fühlt sich ohnmächtig.

1984 wurde das Landwirtschaftsgut von Ottos Familie in Siders für den Bau der Autobahn enteignet, Otto verlor die Stelle und das Land. Er suchte eine Arbeit, wurde Mitarbeiter der Pistenrettung im Skigebiet von Saas-Fee. Im Stillen wünschte er sich, Abwart im Sportplatz zu werden. Kurze Zeit später wurde die Stelle frei.

Wenn das Wetter nicht mitspielt, die Wärme und der Föhn kommen, schmilzt die Eisschicht innert weniger Stunden dahin – und das Eisfeld wird zum Wasserbecken. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Wenn das Wetter nicht mitspielt, die Wärme und der Föhn kommen, schmilzt die Eisschicht innert weniger Stunden dahin – und das Eisfeld wird zum Wasserbecken. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Im November 1988 präparierte Otto erstmals das Eis. Er versuchte, wagte, scheiterte, lernte. Bald fand ein Senioren-Eishockeyturnier statt. Otto hatte in den Tagen vor dem Turnier zu viel Wasser auf das Eis gespritzt. Das Eis war gewachsen, doch im Inneren bildeten sich Pfützen und Hohlräume. Die Spieler brachen ein. Otto schämte sich.
In den ersten Jahren schlief Otto im Frühwinter wochenlang in der kleinen Buvette des Sportplatzes, auf einen Liegestuhl als Plastik, eingehüllt in Militärdecken. Mehrmals in der Nacht stand er auf, lief mit Giesskanne und Schaufel umher, beregnete das Eisfeld, festigte den Pflotsch. Und wenn er am Morgen mit dem Velo durchs Dorf fuhr, fragten ihn die Schulkinder: «Otto, wann können wir endlich aufs Eis?»

Immer wieder von vorne

Am 18. November wird es kälter, fällt Schnee, fünf Zentimeter. Es sind ideale Bedingungen, um mit dem Eismachen wieder anzufangen. Otto montiert eine Walze eines alten Pistenfahrzeuges an seine blaue Eismaschine, Typ Zamboni 440, Jahrgang 1992. Er fährt mehrmals die gesamte Eisfläche ab, drückt den Schnee platt wie eine Walze den Teer. Dann wässert er den Schnee. Der Schnee saugt das Wasser auf, gefriert. Es folgen klare, kalte Tage. Doch Otto bangt.

Wenn jetzt Schneemassen vom Himmel fallen, muss Otto die Eisfläche mit der grossen Fräse vom Schnee befreien. Das Eis würde einbrechen. Otto müsste wieder von vorne beginnen.

Jeder Winter ist anders, jeder Winter bringt Kälte und Wärme, Regen und Schnee, Nebel und Sturm. Ist die Luftfeuchtigkeit hoch, wächst das Eis schnell an. Otto hobelt es mit der Zamboni ab. Wenn es stürmt, bleibt Schnee an den Banden kleben. Otto schabt ihn mit der Schaufel ab. Wenn es warm wird, sinken die Tore ins Eis. Otto checkt jeden Tag den Wetterbericht auf dem Handy. Manchmal wird er fast verrückt.

Otto sagt, das Eismachen halte ihn jung. Die Leute im Dorf sagen, Otto sehe seit dreissig Jahren gleich aus. Otto sagt, um gutes Eis zu machen, müsse man viel arbeiten. Und ein gutes Gefühl haben für die eigenen Kräfte und die der Natur.

1200 Kubikmeter gefrorenes Eis: Unter der 4500 Quadratmeter grossen Eisfläche in Saas-Fee liegen ein Hartgummifeld, mehrere Tennisplätze und eine Betonfläche. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

1200 Kubikmeter gefrorenes Eis: Unter der 4500 Quadratmeter grossen Eisfläche in Saas-Fee liegen ein Hartgummifeld, mehrere Tennisplätze und eine Betonfläche. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Ende November kommt Otto voran. Er arbeitet mit einem weichen, abgewetzten Schlauch. Dreht er den Wasserhahn voll auf, schlägt der Schlauch durch den Wasserdruck wild aus, nach links, nach rechts, nach oben. Früher rief Otto seine Freunde zu Hilfe. Zu dritt hielten sie den Schlauch der Feuerwehr.

Die Eisfläche arbeitet wie ein Gletscher, sie lebt. Beträgt die Temperatur zirka null Grad, ist das Eis weich, geschmeidig, fast still. Dann gleiten die Eishockeyspieler wie auf Schienen darüber. Wird es kälter als minus acht Grad, rumort das Eis, bewegt sich, bricht. Risse bilden sich bis in den Boden. Otto füllt mit einer Spachtel Schneepflaster in die Spalten – als setze er Keile ins Holz.

Am 3. Dezember ist das Eis fast 20 Zentimeter dick. Dann schlägt das Wetter um, Regen fällt und nasser Schnee. Otto räumt den Matsch vom Eis. Wenn der Matsch gefriert, ist das Eis kaputt; es liesse sich nicht mehr ebnen. Otto fährt 12 Stunden auf der Zamboni, macht nur kurze Pausen. Er muss langsam und hochtourig fahren, sonst verstopft die Maschine. Es schneit stark, ein Sturm kommt auf. Otto legt sich für eine Stunde hin, isst ein Sandwich. Dann setzt er sich wieder auf die Maschine, nochmals 12 Stunden lang. Er ist durchnässt, friert, flucht in sich hinein. Dann beruhigt sich das Wetter. Seither hustet Otto ständig.

Die Eisfläche arbeitet wie ein Gletscher, sie lebt. Wird es kälter als minus acht Grad, rumort das Eis, bewegt sich, bricht. Risse bilden sich bis in den Boden. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Die Eisfläche arbeitet wie ein Gletscher, sie lebt. Wird es kälter als minus acht Grad, rumort das Eis, bewegt sich, bricht. Risse bilden sich bis in den Boden. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

2006 fand ein grosses Curling-Turnier statt. Es schneite mehr als 30 Zentimeter. Otto arbeitete 36 Stunden am Stück, rettete das Turnier. Mehrmals wurde Otto von anderen Eismeistern angerufen. Sie sagten, sie seien früh aufgestanden, doch es klappe nicht. Otto sagte, ein guter Eismeister gehe nicht ins Bett.

In Badehosen im Tor

Otto war mehr als 20 Jahre lang der Goalie im EHC Saas-Fee. Wenn er keinen Ersatz für die Eisreinigung fand, setzte er sich in der Pause mit der schweren Torhüterrüstung auf die Eismaschine, putzte das Eis, trank schnell einen Kaffee und stand wieder ins Tor. Einmal bewarb sich Otto für «Wetten, dass . . ». Er stand in Badehosen bekleidet ins Tor, wehrte die Pucks mit einer Schneeschaufel ab. Im Sommer stellte sich Otto fürs Training mit dem Fanghandschuh auf eine Wiese. Die Nachbarskinder warfen mit Kartoffeln und kleinen Steinen auf ihn. Zum letzten Mal spielte Otto mit 59 Jahren, ein Match der 3. Liga in Verbier. Otto blieb ohne Gegentor.

Am 8. und 9. Dezember soll das Curling-Turnier stattfinden mit Teams aus der ganzen Schweiz. Für das Wochenende sind Schneefall und Sturm gemeldet. Otto sagt den Organisatoren, das Eis werde bereit sein, doch für das Wetter könne er nichts. Die Organisatoren sagen das Turnier ab. Zum ersten Mal seit 30 Jahren. Otto spürt Wehmut in sich.

Am 10. Dezember scheint die Sonne erstmals nicht mehr auf das Eisfeld, sie wird vom Mittagshorn verdeckt. Die Temperaturen liegen unter null. Das Eis ist in gutem Zustand und 25 Zentimeter dick. Es braucht diese Dicke, um sich selber zu kühlen. Am 12. Dezember zeichnet Otto mit Naturfarbe die Spielfeldlinien aufs Eis. Die Farbe ist ein fremder Stoff in der Masse. Sie frisst sich ins Eis, wenn es warm wird. Immer wieder zeichnet Otto im Winter die Linien nach.

Der Eismeister Otto Zengaffinen arbeitet mit einem weichen, abgewetzten Schlauch.(Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Der Eismeister Otto Zengaffinen arbeitet mit einem weichen, abgewetzten Schlauch.
(Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

Am frühen Morgen des 16. Dezember wird es plötzlich warm. Am Abend findet der erste Eishockeymatch der Saison statt. Der HC Saas-Fee Avalanche spielt gegen Zermatt. In den Pausen reinigt Otto mit der Zamboni das Eis. Die Maschine hobelt mit einem scharfen, quer montierten Messer eine Schicht Eis ab. Gleichzeitig gibt sie 600 Liter warmes Wasser ab, das bei Kälte sofort zu einer neuen, einen Millimeter dicken Eisschicht gefriert. Doch an diesem Abend ist es zu warm, das Wasser bleibt liegen, der Puck klebt darin fest. Saas-Fee verliert 1:4. Otto ist müde.

Otto hat dieses Eis mehr als tausend Nächte gehütet. Das Eis, das verschwindet, wenn im Februar die Natur erwacht. Otto ist im Stundenlohn angestellt. Manchmal vergisst er, einzustempeln. Manchmal trifft es ihn, wenn die Leute sagen, Eismachen sei keine Hexerei.

Im Frühjahr räumte Otto seinen Kasten. Er hatte genug, wollte den Winter mit den Enkelkindern verbringen. Alle spielen sie Eishockey, der Jüngste im SC Bern. Im Herbst wurde Otto wieder angerufen. Ob er helfen könne. Otto sagte, wenn, dann mache er das Eis alleine. Otto wird angezogen von etwas, er weiss nicht, was es ist. Er sagt, er möge die Kälte. Und die Stille in den langen Nächten. Otto sagt auch: «Wenn ich aufhöre, macht es vielleicht niemand mehr.»
Am Nachmittag des 23. Dezember wird es so warm wie seit Mitte November nicht mehr. Grosse Pfützen bilden sich im Eis. Otto muss die Eisbahn schliessen. Irgendwann nach Weihnachten soll es kälter werden.

In der Eisfläche spiegeln sich die Berge ob Saas-Fee sowie die Lampen der Natureisbahn. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)

In der Eisfläche spiegeln sich die Berge ob Saas-Fee sowie die Lampen der Natureisbahn. (Bild: Nathalie Taiana / NZZ)