Kommentar

Nationen sind kein Auslaufmodell. Wir müssen sie verteidigen – auch gegen ihre Anhänger

Wird Europa erst zu Europa, wenn alle nationalen Grenzen verschwunden sind? Nein, Demokratie ist in Nationalstaaten noch immer am besten aufgehoben.

Thomas Ribi
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Worauf man in Europa stolz ist? Kurt Tucholsky gab auf diese Frage zwei Antworten: Man ist stolz, Deutscher zu sein, Franzose zu sein, Engländer zu sein. Und man ist stolz darauf, kein Deutscher zu sein, kein Franzose zu sein, kein Engländer zu sein. Das war im November 1932, und das Bonmot beschrieb die Stimmungslage in einem Europa, das am Rand des Abgrunds taumelte. Die Narben des Ersten Weltkriegs waren noch nicht verheilt, eine schwere Wirtschaftskrise hatte den Kontinent erfasst. In Deutschland hatte die NSDAP bei der Reichstagswahl mehr als ein Drittel der Stimmen auf sich vereinigt. Unter Arbeitslosen in Spanien und Frankreich fanden faschistische Gruppierungen grossen Zulauf.

Die etablierte Politik reagierte hilflos. Die Eliten hatten sich diskreditiert, Hunderttausende von Menschen waren versehrt aus dem Krieg zurückgekehrt, und die Inflation der zwanziger Jahre hatte ihnen drastisch vor Augen geführt, dass auf nichts mehr Verlass war. Nicht einmal auf das Geld, das sie am Ende des Monats als Lohn für ihre Arbeit erhielten: Kaum war es in der Tasche, hatte es seinen Wert schon fast verloren. Die Verunsicherung ging tief. Nichts schien mehr berechenbar. Institutionen, Traditionen und Werte waren brüchig geworden. Das nutzte Hitler aus. Um seine Wahnvorstellung von einem tausendjährigen Reich auf europäischem Boden als politisches Ziel salonfähig zu machen, spielte er vor allem eine Karte: die Nation als einigendes Band.

«Auftrumpfend, unausstehlich und eitel»

Mit der Berufung auf die Nation schlossen die Nationalsozialisten an ein Konzept aus dem 19. Jahrhundert an. Allerdings in einer pervertierten Variante, der die Welt bereits die Katastrophe mehrerer Kriege verdankte. Sie definierten die Zugehörigkeit zur Nation über das so prekäre wie fatale Kriterium der «Rasse». Und sie verknüpften das Bewusstsein, einem gemeinsamen Staat anzugehören, mit der Vorstellung, der eigene Staat sei allen anderen Staaten überlegen. Das Gemisch war hochexplosiv. Wer sich auf so brachiale Art besser fühlt als andere – im eigenen Land wie ausserhalb des Landes –, nimmt sich auch das Recht heraus, andere zu unterjochen.

Gesundes Nationalbewusstsein – verstanden als Verantwortung für das Land, in dem man lebt und das man mit anderen teilt – wurde zum aggressiven Nationalismus, der sich anmasste, darüber zu bestimmen, was deutsch, französisch oder britisch sei und was nicht. Das diskreditierte auch den Begriff der Nation. «Auftrumpfend, unausstehlich und eitel» würden Staaten, sobald sie sich zur Nation stilisierten, schrieb Paul Valéry in seinem Pariser Arbeitszimmer – etwa zur gleichen Zeit, wie Tucholsky in Berlin seine bissige Typologie der nationalen Befindlichkeiten Europas entwarf.

Beide lasen die Zeichen ihrer Zeit. Und in ihren Worten hallten bittere Erfahrungen nach. Die Toten auf den Schlachtfeldern von Verdun, Ypern, Isonzo oder Gallipoli hatten auf schreckliche Weise vor Augen geführt, wohin irregeleitete Phantasien nationaler Grösse führen, wenn man sie in die Realität umsetzen will. «Nie wieder!» war das Gebot der Stunde. Und das schien auch für das Konzept «Nation» zu gelten.

Nicht für die Ewigkeit

Über der Erinnerung an die Vergangenheit und der Angst vor einem neuen Krieg war allerdings vergessen gegangen, dass die Idee der Nation auf etwas anderes abgezielt hatte. Sie sollte Zugehörigkeit schaffen. Sollte den Bürgern eines Staates erlauben, sich nicht nur als politische Subjekte in einer abstrakten Verfassungsordnung zu verstehen, sondern als Menschen, die sich aufgrund von überpersönlichen Merkmalen in einer Gruppe wiedererkennen.

Und zwar als Gleiche unter Gleichen, über die Grenzen hinaus, die Alter, Herkunft, Vermögen, politische Ansichten oder Bildung setzen. Eine Nation, so hatte es der französische Philosoph Ernest Renan 1882 in einer berühmten Rede an der Sorbonne formuliert, sei ein geistiges Prinzip, das von zwei Pfeilern getragen werde: von einem geistigen Erbe, das als gemeinsamer Besitz anerkannt werde, und vom Willen einer Gesellschaft, gemeinsam in die Zukunft zu gehen. Das liegt auf einer völlig anderen Ebene als die Blut-und-Boden-Konzepte nationalistischer Eiferer. Rasse, Sprache, Religion oder geografische Gegebenheiten taugen nicht als Kriterien für die Zugehörigkeit, weil sie unbeständig sind und sich nie klar fassen lassen. Und sie können, so Renan, nie eine Nation schaffen, solange das Entscheidende fehlt: ein Programm für die Zukunft.

Das heisst zum einen: Nationen, die keine Willensnationen sind, sind im Grunde gar keine. Idealbeispiele sind für Renan die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika – die einzige Nation, die sich nicht über die gemeinsame Vergangenheit ihrer Bürger definierte, sondern über ihr Bekenntnis zu einer gemeinsamen Zukunft. Es heisst aber auch: Nationen sind keine exklusiven Klubs, deren Zugehörigkeit man sich nur über die Geburt erwerben könnte, sondern Gebilde, die grundsätzlich allen offenstehen, die sich mit ihnen identifizieren.

Und es bedeutet auch: Nationen sind nicht für die Ewigkeit geschaffen. Sie bilden sich und lösen sich wieder auf, wenn der gemeinsame Wille erlahmt oder wenn sich das geistige Prinzip überlebt hat, das hinter einem Staat steht. Auch das stand für Renan fest. Die Geschichte lieferte ausreichend Beispiele dafür, und für Europa sah er am Horizont eine europäische Konföderation, in der sich die Nationalstaaten zugunsten einer übergeordneten Einheit aufgelöst haben.

Staaten dürfen Interessen haben

Für Renan war das die Vision einer fernen Zukunft. Fast hundertvierzig Jahre später ist es noch nicht so weit. Aber wo über Europa debattiert wird, steht immer wieder die Vorstellung im Raum, das Ende der Nationen sei nicht ein möglicher Entwicklungsschritt, sondern Bedingung der europäischen Idee. Europa werde erst Europa, wenn es keine Nationen mehr gebe. Der Schriftsteller Robert Menasse, der einen grobschlächtigen Paneuropäismus als Markenzeichen kultiviert, hat die Debatte kürzlich wieder befeuert. Es sei «Idee und Anspruch des europäischen Einigungswerks», dekretierte er, «den Nationalismus und perspektivisch auch die Nationen zu überwinden».

Nationen seien Geschichte, so Menasse. Sie hätten ihre Zeit gehabt, aber zur Bewältigung der Zukunft müsse Europa andere Formen der politischen Organisation finden. Welche, das lässt Menasse offen – wie alle, die von Postnationalismus schwadronieren. Und symptomatisch an seinem Statement ist vor allem die Engführung von Nation und Nationalismus. Den Nationalismus überwinden? Da wird man zustimmen, jedenfalls wenn es um den engstirnigen Vulgärnationalismus geht, dessen Grölen dort laut wird, wo sich selbsternannte Volkstribunen die Ängste zunutze machen, die gesellschaftlicher Wandel und wirtschaftliche Unsicherheit in der Bevölkerung entstehen lassen. Allerdings: Staaten haben nicht nur Verpflichtungen. Sie haben auch Interessen, und es ist legitim, dass sie diese vertreten. Das gilt auch in einem Verbund von Staaten, die sich auf gemeinsame Ziele verpflichtet haben.

Anders ist es mit den Nationen. Die Vorstellung, nichts behindere Europa mehr als das Festhalten an den Nationalstaaten, ist ein fataler Irrtum. Sie verkennt das, was den Kontinent im Kern ausmacht: Europas Identität liegt nicht in grossräumiger Einheitlichkeit, sondern in der Vielfalt regionaler Kulturen, die sich auf engem Raum entwickelt haben. Europäer definieren sich noch immer in erster Linie als Deutsche, Franzosen oder Engländer, auch wenn Europa durchaus einen Aspekt ihres Selbstverständnisses spiegelt.

Mehr Demokratie, nicht weniger

Das heisst allerdings nicht, dass es eine europäische Identität nicht gäbe. Es gibt sie. Aber sie versteht Europa nicht als das grosse Ganze, das alles andere in sich aufnimmt, sondern begreift sich selber und die eigene Kultur als Teil eines vielfältigen Gebildes – und ist sich bewusst, dass jeder Einzelne an verschiedenen Kulturen teilhat. Zudem sind sechzig Jahre EU und sechzehn Jahre Euro nicht ohne Spuren geblieben. Nicht Deutscher, nicht Franzose oder nicht Engländer zu sein – daraus zieht heute niemand mehr sein Selbstverständnis.

Vor allem aber: Die europäischen Nationen sind keine Stammesverbände, die in dumpfer Selbstgenügsamkeit vor sich hin existieren. Es sind international verflochtene Staaten mit Verfassungen. Demokratien mit Gewaltenteilung, Rechtsstaaten, die Meinungsfreiheit und Rechte von Minderheiten garantieren. Ja, selbstverständlich ist das leider auch in Europa nicht mehr. Aber die Nationalstaaten zu verteufeln und ihre Abschaffung zu fordern, ist der falsche Weg, um diesen Entwicklungen zu begegnen.

Wo Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte in Gefahr sind, braucht es mehr Demokratie, nicht weniger. Und das heisst, es braucht überschaubare Verhältnisse, keine Riesengebilde, wo Entscheidungen in hochkomplexen Verfahren gefällt werden und Verantwortung sich in nichts auflöst. Liberale Demokratie heisst Kontrolle der Macht. Nationalstaaten sind noch immer das tauglichste Modell, um das zu gewährleisten. Wir müssen sie stärken. Und wir müssen sie verteidigen: gegen alle, die sie im Namen der vagen Vision eines starken Europa schleifen wollen – aber auch gegen Anhänger, die den Begriff «Nation» missbrauchen, als Feigenblatt für einen rücksichtslosen Nationalismus. Europa ist so stark, wie seine Staaten es sind. «Die Existenz einer Nation», schrieb Ernest Renan 1882, «ist ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt.» Dem ist nichts beizufügen.