Der neue Antiautoritarismus, oder: Wofür ist die Zeitung eigentlich noch gut, wenn man ihr nicht mehr glauben kann? (Bild: Dan Kitwood / Getty)

Der neue Antiautoritarismus, oder: Wofür ist die Zeitung eigentlich noch gut, wenn man ihr nicht mehr glauben kann? (Bild: Dan Kitwood / Getty)

Wir schreiben einfach wundervoll: Der Fall Relotius und die Medien

Die Bedeutung der «Spiegel»-Affäre rund um den Fall Relotius geht über die individuelle Verfehlung eines Autors und die Gutgläubigkeit einer Redaktion hinaus. Es zeigt sich hier das Ausmass an Entfremdung zwischen Medienmachern und dem Publikum.

Susanne Gaschke
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Vor etwa drei Jahren sass die Autorin mit einem damaligen Chefredakteur des «Spiegels» auf einem Podium. Das Publikum bestand zum grössten Teil aus Journalistenschülern. Der hochgewachsene Kollege (fast alle wichtigen Personen beim «Spiegel» sind hochgewachsene Männer) wandte sich im Brustton der Überzeugung gegen die These, der Journalismus in Deutschland stecke in einer Krise, weil die Auflagenzahlen ebenso rapide sänken wie das Vertrauen in die klassischen Medien. Wie man denn auf so etwas kommen könne, fragte er. Noch nie sei der Journalismus so gut gewesen, die jungen Autoren schrieben einfach wundervoll.

Später stellte jemand die Frage, was von der Berichterstattung eines Branchendienstes über «Spiegel»-interne Querelen zu halten sei. Der Chefredakteur echauffierte sich: Das sei alles Unfug, unglaublich schlecht recherchiert sei das, niveaulos. Die leichte Ironie der Situation schien er nicht zu bemerken.

2018 hat dann ein junger Autor dem «Spiegel» (den sein Gründer Rudolf Augstein einst als «Sturmgeschütz der Demokratie» bezeichnete) einen der grössten Skandale seiner Geschichte beschert: Claas Relotius, 33, der so wahnsinnig nett war, so wundervoll schrieb, so viele Journalistenpreise gewonnen – und so viele Reportagen frei erfunden hatte.

Die Bedeutung dieser aktuellen «Spiegel»-Affäre geht über die individuelle Verfehlung eines Autors und die vielleicht gar nicht zu vermeidende Gutgläubigkeit einer Redaktion hinaus. Sie ist das Sinnbild einer Entfremdung zwischen Publikum (Leser, Zuschauer, Nutzer, Wähler) und Medienmachern. Das Internet dient dabei als grosser Verstärker. Misstrauen gegen die modernen Nachrichtentechnologien gibt es zwar seit ihrer Erfindung («Man sollte nicht alles glauben, was in der Zeitung steht»), aber in den vergangenen Jahren hat die Stimmung sich eingetrübt: Nach einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Forsa von 2018 vertrauen nur noch 40 Prozent der Deutschen der Presse, nur noch 28 Prozent dem Fernsehen. Statt dessen sucht man sich Informationen online selbst zusammen oder liest nur noch Push-Meldungen.

Misstrauen und politische Ahnungslosigkeit

Parallel zum Misstrauen gedeiht die Gleichgültigkeit: Seit mehr als zehn Jahren beobachtet das Institut für Demoskopie Allensbach, wie das Interesse der 14- bis 29-jährigen Deutschen an Politik, Wirtschaft, Geschichte, aber auch an Literatur oder klassischer Musik kontinuierlich schwindet. In den USA sieht es ähnlich aus.

Der Politikwissenschafter Torben Lütjen beschreibt, was passieren kann, wenn Misstrauen und politische Ahnungslosigkeit sich verbinden: Er spricht von einer Art «entgleister Aufklärung». Nach seiner Lesart hat sich das antiautoritäre, «kritische» Denken in den westlichen Gesellschaften so sehr durchgesetzt (und vulgarisiert), dass inzwischen auch jene, die politisch «rechts» zu verorten sind und bei denen man autoritäre Einstellungen vermuten würde, davon ergriffen wurden. Von früheren Autoritäten wollen sich diese neuen Antiautoritären nichts mehr sagen lassen; sie laufen nicht der Herde hinterher, sie recherchieren «die» Wahrheit selbst im Netz, sie durchschauen die Täuschungsabsicht des Systems. So kontraintuitiv das vielleicht klinge, schreibt Lütjen, es handele sich dabei durchaus um eine «individuelle Selbstermächtigung». Nur dass die derart selbst Ermächtigten, weil sie den offiziellen Quellen aufgrund höherer Einsicht ja nicht glauben können, besonders zu Verschwörungstheorien neigen.

Der amerikanische Autor Dave Eggers hat in seinem verstörenden Roman «Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?» (2014) einen Antihelden dieses verqueren Bewusstseins erstehen lassen. Argumentativ ist dem gefährlich verwirrten, aber ungeheuer überzeugten jungen Mann in der Erzählung nicht beizukommen – am Ende wird er von Spezialkräften der Armee erschossen. Das wäre keine verlockende Perspektive für die Entwicklung des Diskursklimas.

Journalistisches Verhalten braucht Kritik

Es ist aber natürlich nicht so gewesen, dass alle Zeitungsabonnenten und Fernsehzuschauer an einem bestimmten Tag die Arme vor der Brust verschränkt und im Chor ausgerufen hätten: Ab heute glauben wir euch Journalisten kein Wort mehr! Der Prozess der Entfremdung wäre, erstens, ohne das Internet undenkbar: Erst das Internet bietet die alternativen Quellen, erst das Internet bringt Zehntausende von Gleichgesinnten zusammen, bestätigt störungsfrei vorgefasste Meinungen, erlaubt anonyme Beleidigungen Andersdenkender.

Zweitens haben die Medien erheblichen Anteil am Kontaktverlust zum Publikum. Darüber ist meist wenig zu lesen: Für Journalisten scheint ihr eigenes Tun oft im toten Winkel zu liegen. Es ist schon erstaunlich, dass eine Branche, die Kritik für ihre wesentliche Aufgabe hält, sich selbst mit dem Kritisiertwerden oft so schwertut. Sicher, gelegentlich gibt es Aufwallungen von Selbstbezichtigung und Reue. Etwa im Falle des, wie wir inzwischen wissen, zu Unrecht an den ganz grossen Öffentlichkeitspranger gestellten Bundespräsidenten Christian Wulff. Oder wie eben jetzt im Fall des «Spiegel»-Hochstaplers. Doch sehr nachhaltig sind diese Anfälle von Selbstkritik bisher nicht gewesen.

Bei Christian Wulff hat sich kaum ein Blatt, Sender oder verantwortlicher Redakteur persönlich entschuldigt. Im Gegenteil, sein Buch «Ganz oben, ganz unten», in dem er die erbarmungslose Demontage seiner Person schildert, wurde von vielen Rezensenten gleich wieder mit Häme bedacht. Der «Spiegel» führte dazu ein «Streitgespräch» mit Wulff (drei Redakteure, ein Ex-Bundespräsident), in dessen Vorspann ein bemerkenswerter Satz stand: «Wie unvoreingenommen können Journalisten noch berichten, wenn ihr eigenes Verhalten infrage gestellt wird?»

Was genau bedeutet diese offenbar rhetorisch gemeinte Frage? Dass niemand massloses, böswilliges oder dummes Verhalten von Journalisten thematisieren darf? Beim «Spiegel» ist das Selbstbewusstsein immer besonders ausgeprägt. Aber es steht zu fürchten, dass viele Vertreter des Berufsstands diesen Immunitätsanspruch teilen. Die unausgesprochene Grundannahme der Journalisten lautet zu oft: Wir sind die Guten, wir haben keine eigenen Interessen, wir stehen für die Kritik an den Mächtigen, wir können die Wahrheit erkennen. Es ist schon klar, dass Journalisten nach alldem streben müssen – aber jede Lebenserfahrung spricht dagegen, dass das immer gelingt. In Sachen Relotius war nun wirklich nichts mehr zu retten, weshalb der «Spiegel» dann eben die tollste selbstkritische Titelgeschichte, die beste Fehleraufarbeitung aller Zeiten, den schonungslosesten Umgang mit einem Ex-Mitarbeiter präsentierte – und alles war wundervoll geschrieben.

Zerrbild korrekter Berichterstattung

Das Bittere an der Relotius-Geschichte ist, dass sie gerade von Ressentiment geprägte Mitbürger weder wundert noch entsetzt. Und es ist doppelt bitter, dass die «Reportagen» von Claas Relotius diesem (Zerr-)Bild von politisch korrekter Berichterstattung vollkommen entsprachen: Randvoll sind sie mit dumpf-reaktionären Trump-Wählern, herzzerrreissenden syrischen Flüchtlingskindern und zu Unrecht in Guantánamo Eingekerkerten. Wären sie der Redaktion auch unter umgekehrten politischen Vorzeichen durchgerutscht?

Nun setzen sich natürlich auch die Chefredaktoren nicht an den Konferenztisch und beschliessen dort eine möglichst einheitliche und bevormundende Linie der Berichterstattung. Aber der Journalismus ist ein Milieu, eine Sphäre, ein gesellschaftliches Subsystem, das seine Angehörigen prägt – durch kulturelle Vorbilder und Tradition, durch ökonomische Zwänge und manchmal auch durch Moden und Ideologien. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist es zum Beispiel zunehmend unmodern geworden, dass Journalisten ganz klar einer Partei oder einer politischen Überzeugung zuzuordnen sind: «Neutral» sollte ihre Berichterstattung sein. Wobei allerdings in Vergessenheit geriet, dass jeder Mensch, auch jeder Reporter, erkenntnisleitende Interessen hat – nicht nur SPD oder CDU, sondern auch männlich, weiblich oder allerlei anderes; homo oder hetero, Fleisch oder Veganer; religiös oder nicht; Hunde- oder Katzenfreund.

Unzählige Faktoren beeinflussen die Konstruktion eines Textes. Aus dem prinzipiell aussichtslosen Bemühen um Neutralität wurde bald eine bestimmte Form von Schiedsrichter-Besserwisserei, die sich nicht nur über die immer so hoffnungslos ungenügenden Politiker, Wirtschaftlenker oder Sportler erhob, sondern implizit auch über die Leser und Zuschauer. Man sagte ihnen, was sie zu denken hätten, ohne die eigene Parteilichkeit offenzulegen.

Die Quotenangst führte zu Themenkonformität: Warum haben wir diese Geschichte nicht? Die Beschleunigung durch das Netz führt oft zu einem Sieg von Schnelligkeit über Gründlichkeit. Die Krawallaffinität vieler Online-Leser führte dazu, dass die Redaktionen anfingen, nicht mehr nach Relevanz, sondern nach Klickzahlen zu gieren. Geradezu komplementär zum hektischen Quoten- und Onlinegeschäft entwickelte sich die besonders schön geschriebene Reportage, die fast an Literatur grenzt, und, siehe Relotius, offenbar dazu verführt, die sperrigen Aspekte der Wirklichkeit so lange zurechtzuphantasieren, bis sie in das ästhetische Konzept des Autors passen.

Gibt es Abhilfe?

Ein ganzes Universum von Preisen (in Deutschland ist von 250 bis 500 die Rede) ist nur dafür da, dass Journalisten gegenseitig ihre wundervoll geschriebenen Texte prämieren. Man bewirbt sich für diese Preise übrigens selbst, oftmals von den Redaktionen ermutigt. Dem breiten Publikum dürfte der ganze Zirkus weitgehend unbekannt sein. Aber vielleicht spürt es, dass viele Artikel eigentlich für die Kollegen in den Jurys geschrieben sind. Schaut man sich im unerbittlichen Internet noch einmal die dreistündige Verleihung zum Deutschen Reporterpreis 2018 an (beste Reportage: Claas Relotius), kann man das Mass an Branchen-Selbstbeweihräucherung nur schwer aushalten.

Gibt es Abhilfe? Ganz leicht sicher nicht. Vermutlich werden die konkurrierenden Medien dazu zurückfinden müssen, einander gegenseitig auch in Qualitäts- und Sorgfaltsfragen stärker auf die Finger zu sehen, so schwer das im gemütlichen kollegialen Verhältnis fallen mag.

Aber eine andere zuverlässige Instanz für Medienkritik als die Medien selbst hat unsere demokratische Öffentlichkeit nun einmal nicht. Journalisten müssen mehr Bescheidenheit und manchmal auch mehr Wohlwollen gegenüber ihren Berichtsgegenständen – und Lesern – entwickeln. Und sie brauchen eine Entschuldigungskultur, die nicht verschämt oder trotzig Fehler höchstens auf Seite 18 zugibt. Ob das alles hilft, um die Öffentlichkeit zu reparieren und Vertrauen zurückzugewinnen? Vielleicht nicht. Es aber nicht einmal versucht zu haben, hilft auf keinen Fall.