Interview

Sektenexpertin: «Paradiesvögel wie Uriella erschweren uns die Prävention»

Massensuizide gab es schon länger nicht mehr, und Scientology hat sich vordergründig gemässigt. Doch das Gefahrenpotenzial von religiösen Gruppen bleibt gross, sagt die Psychologin Susanne Schaaf.

Simon Hehli und Daniel Gerny
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Uriella war eine der bekanntesten Schweizer Führerinnen einer sektenhaften Gruppierung. Doch das Phänomen ist weit verbreitet, auch unter dem Radar der Öffentlichkeit. (Bild: Keystone / Michaela Rehle)

Uriella war eine der bekanntesten Schweizer Führerinnen einer sektenhaften Gruppierung. Doch das Phänomen ist weit verbreitet, auch unter dem Radar der Öffentlichkeit. (Bild: Keystone / Michaela Rehle)

Frau Schaaf, wir würden mit Überzeugung sagen: Es kann uns nie passieren, dass wir in einer Sekte landen.

Susanne Schaaf: Vielleicht stimmt das für den Moment, weil Sie gut im Leben verankert sind, glückliche Familienumstände und einen spannenden Job haben. Die Lebenssituation kann sich aber ändern: wenn eine essenzielle Krise kommt, wenn ein Angehöriger stirbt, die Beziehung zerbricht, nach der Pensionierung die Bestätigung aus dem Job fehlt. Wenn Menschen den Boden unter den Füssen verlieren, suchen sie schon mal nach einer raschen, vielversprechenden Lösung, statt ihr Problem beispielsweise in einer seriösen Psychotherapie anzuschauen.

Susanne Schaaf ist Psychologin. Sie hat ab 1991 mitgeholfen, die Informationsstelle Infosekta aufzubauen, und ist heute deren Geschäftsleiterin. (Bild: zVg)

Susanne Schaaf ist Psychologin. Sie hat ab 1991 mitgeholfen, die Informationsstelle Infosekta aufzubauen, und ist heute deren Geschäftsleiterin. (Bild: zVg)

Und enden bei einer Sekte?

Es muss sich nicht unbedingt um eine sektenhafte Organisation handeln. Es kann auch ein Einzelanbieter sein, der von der Notsituation profitiert. Ich hatte einmal eine Mutter in Beratung, deren magersüchtige Tochter den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Die Mutter wandte sich an eine Fernheilerin, die in Aussicht stellte, mithilfe einer Foto der Tochter die Situation wieder ins Lot zu bringen. Die Mutter zahlte über die Zeit rund 15 000 Franken. Sie war verzweifelt, und das magische Denken gab ihr Hoffnung. Erfolg brachte die Fernheilerin nicht.

Aber ohne Lebenskrise ist die Gefahr klein, den Verlockungen einer Sekte oder von Scharlatanen zu verfallen?

Eine ausgewachsene Krise ist nicht immer nötig, es kann sich auch um eine Umbruchphase oder andere Bedürfnisse handeln. Scientology beispielsweise bietet Nachhilfestunden an. Wer den Unterricht als hilfreich erlebt, bei dem ist vielleicht die Neugier auf weiterführende Angebote geweckt. So entsteht langsam eine Bindung, die für die Rekrutierung genutzt werden kann. Und natürlich gibt es Menschen, die in ein sektenhaftes Milieu hineingeboren werden.

Was ist eigentlich eine Sekte?

«Sekte» ist ein heikler und umstrittener Begriff. Wir tragen ihn als Infosekta zwar im Namen, ich verwende ihn aber nicht gern. Er ist zu generalisierend und schubladisierend. Scientology quasi als «Prototyp» befindet sich nicht auf derselben Flughöhe wie eine Esoterikgruppe mit problematischen Aspekten.

Also gibt es keine Sektendefinition, die Sie für überzeugend halten?

Das Label allein wird der Vielfalt der Weltanschauungsszene nicht gerecht. Es braucht eine Ausführung, was darunter verstanden wird. Früher haben mehrheitlich Kirchenvertreter Sektenberatung angeboten. Eine theologische Definition besagt, dass jene Gemeinschaften Sekten seien, die neben dem Alten und Neuen Testament noch andere Offenbarungen berücksichtigten. Freikirchen beziehen sich heute oft auf diese Definition, weil für sie ausschliesslich die Bibel die Grundlage darstellt – und sie daher keine Sekte seien. Wir hingegen orientieren uns nicht an einer inhaltlichen Definition, sondern wenden Kriterien an, die sich auf Strukturen, Vereinnahmungsprozesse und Methoden beziehen. Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sie vorliegen, umso problematischer ist eine Gruppe.

Uriella wirkte als Anführerin der Sekte «Fiat Lux» und sorgte mit Wahrsagerei und Wunderheilungen für Schlagzeilen. Am Sonntag, 24. Februar, ist die 90-Jährige an ihrem Wohnort in Ibach (D) gestorben. Ein Rückblick in Bildern. Diese Aufnahme entstand im April 1994 in ihrem Haus in Egg (ZH). (Bild: Martin Rütschi / Keystone)
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Einen denkwürdigen Auftritt haben Uriella und deren Ehemann Icordo (l.) in der Sendung «Arena» des Schweizer Fernsehens am 14. April 2000. Gemeinsam mit anderen Sektenmitgliedern (im Hintergrund) debattieren sie zum Thema «Sekten – Macht und Ohnmacht». (Bild. Walter Bieri / Keystone)
Uriella präsentiert sich ihrer Anhängerschaft und dem TV-Publikum mit ihrem typischen Lächeln im Gesicht. Die Wunderheilerin heisst eigentlich Erika Hedwig Bertschinger-Eicke, ist 1929 in Zürich geboren und bezeichnet sich als «Sprachrohr Gottes». (Bild. Walter Bieri / Keystone)
Icordo, Uriella und der umtriebige Wahrsager Mike Shiva (v.r.n.l.) im April 2000 an einem Esoterik-Apéro in Basel. Uriella sagt, ihre Sekte «Fiat Lux» sei am 12. Januar 1980 direkt durch Jesus Christus gegründet worden. Auch zu Erzengeln will die Zürcherin über gute Kontakte verfügen. (Bild: Michaela Rehle / Keystone)
Uriella performt im Häbse-Theater in Basel auf der Bühne der Esoterik-Messe. Dass sie im Jahr 2000 überhaupt noch auftreten kann, erstaunt; eigentlich hat sie für August 1998 den Weltuntergang vorhergesagt. (Bild: Michaela Rehle / Keystone)
Uriella und ihr Ehemann Icordo (bürgerlich Eberhard Bertschinger-Eicke) beten im Oktober 1999 bei einem Wahlauftritt der Sekte in ihrem «Heiligtum» in Ibach-Lindau (Kreis Waldshut). Sie möchten Sektenmitglieder in den Gemeinderat des Dorfes im Schwarzwald bringen. Icordo amtiert als Spitzenkandidat von «Fiat Lux» und schafft die Wahl tatsächlich. (Bild: Rolf Haid / Keystone)
Uriella beschäftigt auch die Gerichte. Hier steht sie im Mai 1996 vor dem Landgericht Waldshut. Der grösste Fall betrifft eine Schenkung von über 600 000 Franken, die sie von einem ehemaligen Sektenmitglied erhalten haben soll. Die Klägerin sagte, sie sei von Uriella mit jahrelangen Drohungen von Weltuntergang und Krebserkrankung urteilsunfähig und abhängig gemacht worden. Das Bundesgericht bestätigte 2002 die Version der Klägerin. (Bild: Keystone)
Mitglieder der Sekte «Fiat Lux» im Grossen Saal des Waldshuter Landgerichtes beim Prozessauftakt gegen Erika Bertschinger-Eike alias Uriella im Mai 1996. Die aus der Schweiz stammende selbsternannte Geisterheilerin muss sich wegen fahrlässiger Tötung, Körperverletzung und Verstoss gegen das Heilpraktikergesetz verantworten. (Bild: Winfried Rotermel / Keystone)
Uriella wehrt sich am 26. April 1992 mit Icordo an einer Veranstaltung in Rheinfelden gegen Aussagen in einem Film des Fernsehsenders WDR. Regelmässig wird Kritik laut, die Geistheilerin wiege Menschen, die an ernsthaften Krankheiten wie Krebs leiden, in falschen Hoffnungen. Sie will solche Patienten mit angereichertem Wasser heilen, was dazu führt, dass die Betroffenen auf die Möglichkeiten der Schulmedizin verzichten. (Bild: Michael Kupferschmidt / Keystone)
Uriella bei einem Einsatz als Wunderheilerin im April 1994 in Egg. Im Dezember 1998 wird sie wegen Steuerhinterziehung in 286 Fällen und 4 versuchten Fällen zu 22 Monaten auf Bewährung verurteilt. Uriella und ihr Team betreiben einen Schmuggel von Heilmitteln aus Deutschland in die Schweiz. Nach Angaben der NZZ entgehen dem Fiskus in Deutschland dadurch 1,2 Millionen Mark (heute 600 000 Euro). (Bild: Keystone)
Bei einem Reitunfall 1973 trägt Uriella schwere Kopfverletzungen davon. Nach der Besserung behauptet sie, hellsehend zu sein und als Sprachrohr Gottes zu agieren. Bild: Uriella mit ihrem Ehemann Eberhard Bertschinger-Eicke, genannt Icordo, im April 1994 in Egg. Zum Artikel. (Bild: Keystone)

Uriella wirkte als Anführerin der Sekte «Fiat Lux» und sorgte mit Wahrsagerei und Wunderheilungen für Schlagzeilen. Am Sonntag, 24. Februar, ist die 90-Jährige an ihrem Wohnort in Ibach (D) gestorben. Ein Rückblick in Bildern. Diese Aufnahme entstand im April 1994 in ihrem Haus in Egg (ZH). (Bild: Martin Rütschi / Keystone)

Das klingt reichlich abstrakt. Wie sehen die Kriterien konkret aus?

Ein Merkmal ist, dass die Leitung einer Gruppierung einen gottähnlichen Status innehat. Das bedeutet, dass das Wort und die Handlungen des Leiters unantastbar sind. Und dass von den Anhängern eine völlige Unterordnung verlangt wird, was eine schleichende Auflösung der Selbstbestimmung zur Folge haben kann. Typisch ist auch ein Elitedenken: Wir sind die Auserwählten und besitzen die Wahrheit, alle anderen sind auf dem Holzweg. Die Welt ist schematisch eingeteilt in Gut und Böse, Gerettet und Verloren.

Und bloss die Mitglieder sind die Geretteten.

Ja. Häufig werden zudem Heilsversprechen gemacht, unrealistische Universalrezepte ohne Bezugnahme auf die konkrete Lebenssituation des Einzelnen. Besonders relevant ist ein weiterer Punkt, die Milieukontrolle. Es geht dabei um die gezielte Beeinflussung des Umfelds sowie des Denkens, des Fühlens und des Verhaltens, beispielsweise durch Interpretationen und die Gruppendynamik. In bestimmten Gruppen kommt noch eine apokalyptische Erwartung hinzu: Vor dem Hintergrund der nahenden Endzeit muss das Leben umso konsequenter nach der Doktrin gelebt werden, damit man zu den Erretteten gehört.

Die Kirschblüten-Vereinigung im Kanton Solothurn sorgt wieder für Schlagzeilen mit Psychotherapiesitzungen auf Drogen und sexuellem Missbrauch. Was ist an ihr sektenhaft?

Es ist das Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Der 2017 verstorbene Samuel Widmer hatte als Leiter der Gemeinschaft eine aussergewöhnliche, fast guruhafte Position inne. Die Kirschblüten-Anhänger halten sich für avantgardistisch: Mit ihrer Methode möchten sie Beziehungen neu definieren und aus dem Hamsterrad unserer normierenden Gesellschaft ausbrechen. Dieses Experimentierfeld hat wohl viele Leute angezogen. Entscheidend erscheint mir dabei nicht einmal die Tatsache, dass die Gruppe mit Drogen und Gemeinschaftsformen experimentiert, ohne dass ich hier das Risiko verharmlosen möchte.

Sondern?

Es kommt auf den Kontext an: Die Lehre der Kirschblüten-Gemeinschaft sieht vor, dass die Anhänger ihr Ego – zum Beispiel Gefühle wie Neid oder Eifersucht – überwinden, offen sind und alle lieben. Das funktioniert in der Realität nicht unbedingt, weil es immer wieder vorkommt, dass Menschen in polyamoren Settings verletzt werden. Mit MDMA, einer gefühlsöffnenden Substanz, lassen sich solche Konflikte zwar vorübergehend harmonisieren oder ausblenden. Doch nach der Session stehen die Betroffenen wieder vor dem gleichen Problem und müssen Therapiestunden in Anspruch nehmen, um ihr angeblich übergrosses Ego zu überwinden. Wer sich ernsthaft an der Idealvorstellung orientiert und dieser nicht gerecht wird, sucht den Fehler stets bei sich. Und leidet vor sich hin.

Die Kirschblütler sind eher eine Ausnahme: Das Sektenthema sorgt heute generell weniger für Schlagzeilen. Eine weitere Ausnahme war Uriella. Was hat sie für die Medien so attraktiv gemacht?

Für die Medien und das Publikum war Uriella wohl wegen ihres exzentrischen Auftritts, wegen ihres Selbstverständnisses als Sprachrohr Gottes und wegen Besonderheiten der Lehre – etwa der Einbezug von Ufos – interessant. Sie scheute zudem das Rampenlicht nicht.

Gleichzeitig hat der Kult des Boulevards um Uriella und ihren Gatten Icordo aber auch zu einer Verharmlosung des Sektenphänomens geführt, einverstanden?

Wenn solche – sagen wir – Paradiesvögel das Bild sektenhafter Gruppen in der Öffentlichkeit prägen, kann das die Prävention erschweren. Die Zuschauer sind überzeugt, dass sie nie in diese Art Gemeinschaft eintreten würden. Viele Organisationen gehen aber raffinierter vor und sind näher am Alltag der Menschen, sind vordergründig in der Gesellschaft integriert.

Abgesehen von Uriella ist es um sektenhafte Gruppierungen relativ ruhig geworden. Wieso ist das so?

Man muss dies in der historischen Perspektive betrachten. In der Aufbruchsstimmung der sechziger und siebziger Jahre kamen verschiedene neureligiöse Bewegungen auf, die alternative Lebensformen und den Ausstieg propagierten. In den neunziger Jahren wurde dann insbesondere das destruktive Potenzial von Glaubensgemeinschaften auf dramatische Weise sichtbar: Nach den Massakern der Davidianer in Waco oder jenen der Sonnentempler in Kanada, Frankreich und der Schweiz realisierte man, dass es sich nicht einfach um weltfremde Idealisten handelt, sondern um Gruppen, von denen eine Gefahr gegen Leib und Leben ausgehen kann.

Und seither kam es zu einer Entspannung?

Die Medien berichten gern über besonders «spektakuläre» und skandalöse Ereignisse im Sektenmilieu, etwa sexuelle Missbräuche oder Todesfälle. Seit #MeToo wird wieder vermehrt über sexuelle Übergriffe auch in religiösen Milieus berichtet. Viele Gruppierungen haben sich aber angepasst. So hat beispielsweise die Hare-Krishna-Bewegung einzelne Reformen umgesetzt, die allerdings nicht weit genug gehen. Auch Scientology ist nicht mehr so offensiv und aggressiv in ihrem Auftritt wie noch vor zwanzig Jahren.

Also könnten Sie Ihre Beratungsstelle eigentlich schliessen.

Keineswegs, die Anzahl der Anfragen an uns steigt. Wir sind in der Beratung vor allem mit den vielen stillen Dramen konfrontiert, von denen die Öffentlichkeit nichts erfährt. Viele Gruppen sind im Auftritt und im Wording sanfter geworden, vertreten aber weiterhin ein dogmatisches Menschen- und Weltbild. Die Freikirche ICF beispielsweise hatte noch vor rund zehn Jahren einen Flyer auf ihrer Website, auf dem stand, dass Depressionen, Missbrauch, Krankheiten oder Homosexualität Wirkungsbereiche der Dämonen seien. Mittlerweile wird das nicht mehr so formuliert, man spricht etwa von «homosexuell empfindenden Menschen». Aber an der dogmatischen Grundhaltung hat sich nichts geändert.

Solche Freikirchen sind populär. Wo ziehen Sie die Grenze zu einer problematischen Gruppierung?

Das lässt sich nicht trennscharf festlegen. Vieles hängt von der einzelnen Gemeinde, den Predigern und der Gruppe selber ab. Aus psychologischer Sicht kann die Grundannahme «Entweder du bist mit Gott unterwegs – oder mit Satan» problematisch sein. Ebenso problematisch ist es, wenn Menschen eingeschüchtert und gesteuert werden, indem man ihr Denken, Fühlen und Handeln an einem engen Sündenkatalog misst. Sicher erleben viele Menschen in diesen Gemeinschaften ein Getragensein und Unterstützung, pflegen Freundschaften. Es gibt aber auch die andere Realität: dass Menschen unter Schuldgefühlen und dem Empfinden, nicht zu genügen, leiden.

Bleibt es bei solchen «stillen Dramen», oder kommt es auch zu Konflikten mit der säkularisierten Restgesellschaft?

Wir haben regelmässig Anfragen von Schulleitungen, weil evangelikale Eltern mit dem Lesestoff nicht einverstanden sind und diesen für ihr Kind verbieten möchten. Dabei geht es um populäre Bücher wie «Harry Potter», «Die kleine Hexe» oder «Krabat». Für diese Eltern sind das keine Geschichten oder Märchen, sondern eine okkultistische Plattform, über die Satan Zugriff auf die Kinder nehmen kann. Die Lehrerinnen und Lehrer sind im Dilemma: Sie möchten die Anliegen der Eltern ernst nehmen, andererseits möchten sie die Schüler in der Auseinandersetzung mit Literatur fördern.

Sie haben auch schon eine «Pulverisierung» des Religionsmarkts konstatiert, was meinen Sie damit?

In den siebziger Jahren gab es eine Broschüre mit dem Titel «Sieben Sekten». Nach der Lektüre hatte man wohl das Gefühl, alles zum Thema zu wissen. Heute gibt es eine unheimlich grosse Vielfalt an spirituellen Anbietern, die ihre Kunden auch über Social Media erreichen. Die Religionswissenschafter Lüddeckens und Walthert sprechen von «fluider Religion». Wir erhalten beispielsweise auch Anfragen zu Direktvertriebssystemen wie Juice Plus oder Forever Living, die ihre Kunden an sich binden und die mit ihren Versprechen auf Heilung und schnellen Erfolg die Sehnsüchte der Menschen bedienen.

Jeder bastelt sich mit Elementen aus verschiedenen religiösen Strömungen eine Religion zusammen – ein bisschen Christentum, ein bisschen Esoterik, ein bisschen Buddhismus. Erschwert diese Individualisierung den Sekten nicht das Leben?

Nicht unbedingt – die Menschen haben verschiedene Bedürfnisse. Die einen fühlen sich vom Individualismus überfordert und suchen eine Gruppe mit klaren Regeln. Andere werden von utopischen Gruppen angezogen, die perfekt zur heutigen Tendenz zur Selbstoptimierung passen. Anbieter behaupten beispielsweise, jeder Mensch habe einen göttlichen Funken in sich, ein Potenzial, das verschüttet sei durch falsche Energien, falsche Ernährung oder schlechte Erfahrungen in der Kindheit oder in früheren Leben. Ein Reinigungsprozess könne das verschüttete wahre Selbst wieder zum Vorschein bringen und die Anhänger zu dem göttlichen Wesen machen, das sie im Grunde seien. Solche Heilsversprechen können als das spirituelle Pendant zu übertriebener Schönheitschirurgie und Doping verstanden werden.

Wann wird es im Esoterikbereich gefährlich?

Auch hier ist es eine Frage der Dosierung. Man kann gegenüber der Schulmedizin kritisch eingestellt sein und seinen Schnupfen mit Homöopathie bekämpfen. Setzt man aber bei einer Krebsbehandlung ausschliesslich auf Globuli, ist das leichtsinnig und kann lebensbedrohliche Konsequenzen haben. Ebenso, wenn jemand davon überzeugt ist, sich nur von kosmischer Energie und Licht ernähren zu können.

Da fehlt es offenkundig an gesundem Menschenverstand. Sind denn Sektenmitglieder oder Opfer von spiritualistischen Betrügern nicht auch selber für ihr Schicksal verantwortlich?

Natürlich ist es eine eigene Entscheidung, welcher Gemeinschaft man beitreten möchte, zumindest wenn man volljährig ist. Aber gewisse Anbieter manipulieren ihre Anhänger und nutzen sie aus. Kraft ihrer Funktion übernehmen sie die Deutungshoheit und veranlassen Menschen, gegen die eigenen Interessen zu handeln. Es gibt zudem immer einen grossen Kreis von Mitbetroffenen: Kinder, Partner, Eltern, Freunde – sie alle werden unter Umständen auch in Mitleidenschaft gezogen.

Ist es nicht eine Anmassung, wenn Sie definieren, was für eine andere Person richtig oder falsch ist?

Wir schreiben niemandem vor, was er glauben darf oder soll. Es geht uns darum, auf Missstände und Risiken aufmerksam zu machen. Wir unterstützen Ratsuchende im Prozess, für ihre Konfliktsituation eine angemessene Lösung zu finden.

Für Angst sorgt heute vor allem der Islamismus. Sind hier ebenfalls sektenhafte Strukturen am Werk?

Ein Gefühl der Auserwähltheit spielt im Islamismus ebenfalls eine wichtige Rolle, genauso das Ziel der Bekehrung Andersgläubiger. Hinzu kommen aber eine Gewaltbereitschaft und punktuell die tatsächlichen Gewaltakte. Die Aufmerksamkeit, die dem islamischen Fundamentalismus seit bald zwanzig Jahren zuteilwird, ist wohl einer der Gründe dafür, dass die Sektenthematik derzeit in der Öffentlichkeit in den Hintergrund gerückt ist.

Das ärgert Sie?

Diese Phänomene sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es liegt auf der Hand, dass die Sorgen einer Mutter, deren Tochter einem Guru hörig ist und ihr Leben aufgibt, nicht dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit auslöst wie ein Terrorangriff in einer europäischen Stadt. Wir dürfen aber jene nicht vergessen, die fernab der Schlagzeilen unter den destruktiven Seiten der Religiosität leiden.

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