In der Islamischen Welt war 1979 das Jahr, in dem die Gegenwart begann

1979 war ein Schicksalsjahr für den Nahen und Mittleren Osten: Die Iraner stürzten den Schah, Ägypten und Israel schlossen Frieden, die Sowjets marschierten in Afghanistan ein, und in Mekka besetzten Extremisten die Grosse Moschee. Die Folgen beschäftigen die Region seit 40 Jahren.

Daniel Steinvorth
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Mit der Rückkehr des Religionsgelehrten Ayatollah Khomeiny aus dem Pariser Exil am 2. Februar 1979 in Teheran begann eine neue Epoche. (Bild: AP Foto)

Mit der Rückkehr des Religionsgelehrten Ayatollah Khomeiny aus dem Pariser Exil am 2. Februar 1979 in Teheran begann eine neue Epoche. (Bild: AP Foto)

Was macht ein Jahr zu einem Schicksalsjahr? Ein welthistorisch einschneidendes Ereignis wie die russische Oktoberrevolution oder der Fall der Berliner Mauer zweifellos. Mit dem Jahr 1917 lässt sich der politische Aufstieg des Kommunismus, mit dem Jahr 1989 sein sinnfälliger Zusammenbruch verbinden. Den Beginn des bis heute andauernden «Krieges gegen den Terror» markiert das Jahr 2001, als die Zwillingstürme in New York in Flammen aufgingen. In der arabischen Welt bleibt, eine Dekade später, 2011 als das Jahr der tragisch gescheiterten Volksaufstände im kollektiven Gedächtnis. Doch gab es bereits lange vor 9/11 und dem Arabischen Frühling ein turbulentes Jahr mit einer ganzen Kette von Ereignissen, das der ganzen Welt, vor allem aber dem Nahen und Mittleren Osten seinen Stempel aufgedrückt hat: Es ist das Jahr 1979, das der Philosoph Peter Sloterdijk als «Schlüsseldatum des späteren 20. Jahrhunderts» bezeichnet.

Es ist die Zeit, die mit dem Regierungsantritt von Margaret Thatcher am 3. Mai vom Vormarsch des Neoliberalismus in den Industriestaaten kündete. Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Washington und Peking am 1. Januar bahnte sich der Aufstieg der Volksrepublik China zur späteren Weltmacht an. Im Jahr 1979 reiste der neue Papst Johannes Paul II. nach Polen, entkamen die Vereinigten Staaten in Harrisburg nur knapp einer Nuklearkatastrophe und bescherte die zweite Ölkrise Europa eine tiefe Rezession. Obwohl die Welt noch von der Konfrontation zweier ideologischer Blöcke geprägt war, zeigte die Sowjetunion bereits Zerfallserscheinungen, die sich nach der desaströsen Fehlentscheidung, im Dezember 1979 in Afghanistan einzumarschieren, beschleunigten.

Eine neue, dritte Kraft

Dass im selben Jahr mit der Rückkehr des schiitischen Gottesgelehrten Ayatollah Khomeiny aus dem Exil in sein Heimatland am 1. Februar eine dritte, eigenständige Kraft neben dem kapitalistischen und dem sozialistischen Lager in Iran in Erscheinung treten würde, konnten sich bis dato wohl nur wenige vorstellen. Den wichtigsten Gegenspieler des Schahs dachten sich viele Linke zunächst als Befreier und gerechten Anführer der Massen – sie konnten nicht falscher liegen. Der grimmige Khomeiny ersetzte das autoritäre Pahlevi-Regime durch eine Diktatur ganz neuen Stils.

Die Islamische Revolution, das zentrale historische Ereignis des Jahres 1979, trug den Glaubenskampf in die Welt; auf diese Herausforderung mussten die USA und die Sowjetunion erst einmal eine Antwort finden. Dabei scheuten sich die Amerikaner und ihre Verbündeten selbst nicht, im Kampf gegen den Kommunismus auf sunnitische Jihadisten zu setzen, die afghanischen Mujahedin und ihre Hilfstruppen aus der arabischen Welt. Unterstützt von der CIA, dem pakistanischen Geheimdienst und den reichen Förderern am Golf, sollten diese sogenannten Freiheitskämpfer dafür sorgen, das «Reich des Bösen» aus dem Hindukusch zu tilgen.

Nach dem Ende der Sowjetunion richteten die Jihadisten ihr Augenmerk allerdings auf den «dekadenten» Westen und die eigenen als unislamisch verstandenen Regime. Ausgerechnet Saudiarabien, das konservativste aller sunnitischen Länder, bekam den Zorn der selbst herangezüchteten Extremisten bereits früh zu spüren, als eine Gruppe oppositioneller Wahhabiten am 20. November 1979 die Grosse Moschee in Mekka stürmte und diese zwei Wochen lang besetzte. Als Reaktion ging das verunsicherte saudische Königshaus vor seinen religiösen Kritikern in die Knie und half ihnen, den besonders intoleranten Islam wahhabitischer Prägung in alle Welt zu exportieren.

Man liegt also nicht ganz falsch, die Geburtsstunde des modernen militanten Islamismus auf das Jahr 1979 zu datieren: In Iran, wo der Revolutionsführer Khomeiny bald Selbstmordkommandos für den Krieg gegen den Irak ausbilden liess und später schiitische Milizen überall im Nahen Osten förderte. Und in Afghanistan, wo die Unterstützung der Mujahedin Gruppen wie den Taliban und al-Kaida den Boden bereitete. Obwohl sich der schiitische und der sunnitische Islamismus stark voneinander unterscheiden, inspirierte Khomeinys Revolution Nachahmer in vielen Ländern der Region. Ägyptens Muslimbruderschaft etwa begrüsste die Vorgänge in Teheran und schöpfte Hoffnung, selber bald den säkularen Staat überwinden zu können. Der Sozialismus und der arabische Nationalismus hatten zu diesem Zeitpunkt als Ideologien schon abgewirtschaftet, die siebziger Jahre standen unter dem Vorzeichen des «islamischen Erwachens».

Spaltung der arabischen Welt

Auch Ägyptens Herrscher Anwar al-Sadat leitete in diesem Jahrzehnt eine Politik der Re-Islamisierung ein. Der «gläubige Präsident» (al-rais al-mumin) amnestierte viele der unter seinem Vorgänger Nasser inhaftierten Muslimbrüder und erklärte die Scharia zu einer Hauptquelle der Gesetzgebung. Das Kunststück aber, die Islamisten bei Laune zu halten und gleichzeitig als erster arabischer Staatschef Frieden mit dem Erzfeind Israel zu schliessen, schaffte Sadat nicht. Das im März 1979 unterzeichnete Abkommen von Camp David bezahlte er zwei Jahre später bei einem Attentat mit seinem Leben. Und hatte die Arabische Liga Ägypten bereits direkt nach dem Friedensschluss aus ihrer Organisation ausgeschlossen, so zeigte der Tod Sadats erst recht, wie isoliert das Land war: Zur Beerdigung des Präsidenten erschien kein einziger arabischer Führer, dafür kamen umso mehr Staatschefs aus dem Westen.

Camp David spaltete die arabische Welt, während es Israel zum Preis, dass dieses die Sinai-Halbinsel räumen musste, einen Separatfrieden bescherte. Ägypten wiederum stieg zum zweitgrössten Empfänger von amerikanischen Militärhilfen in der Region auf. Das zementierte die repressive Herrschaft der Militärs am Nil. Dass Saudiarabien schliesslich als erstes arabisches Land wieder aus der Front gegen Ägypten ausscherte, war nur folgerichtig, da das Königreich seinerseits von Washington abhängig war und, bedroht von Teherans Machtambitionen, nach mächtigen Partnern Ausschau hielt. Geeint durch eine kompromisslose Haltung gegenüber Israel, bildete sich zugleich ein Lager «aufrechter Frontstaaten» mit Syrien und Iran an der Spitze. Von einer regionalen Friedenslösung im Anschluss an das Camp-David-Abkommen, geschweige denn einer Lösung des Palästinaproblems, konnte keine Rede sein.

Die Despoten lernten dazu

Eine Zeit der religiösen Renaissance und der Festigung autoritärer Herrschaft: Diese Zuschreibungen treffen beide auf das Jahr 1979 zu, in dem sich auch die finale Machtergreifung des irakischen Gewaltherrschers Saddam Hussein ereignete. Der Bauernsohn galt schon seit längerem als der starke Mann des Iraks. Doch griff er erst nach seiner Krönung als Staats- und Regierungschef am 16. Juli richtig durch, liess seine politischen Gegner hinrichten und brach schon bald einen Krieg mit dem Nachbarstaat Iran vom Zaun. In diesem erfreute sich Saddam sowohl amerikanischer und französischer als auch sowjetischer Gunst, während das revolutionäre Iran weitgehend isoliert war. Dass mit der Aufrüstung vermeintlich prowestlicher autoritärer Regime eine Gewaltspirale im Nahen Osten in Gang gesetzt wurde, sahen damals wenige. Die Despoten selber aber begannen, die Instabilität zum eigenen Machterhalt zu nutzen: Bei der Bekämpfung des islamistischen Terrors stellten sie sich als einzige Alternative zum Chaos dar, wohlwissend, dass sie mit ihrer repressiven Politik immer mehr Verzweifelte in die Arme der Radikalen trieben.

Wenig Gutes ist 2019 in der Region zu besichtigen. Aus den Unruhen von 2011 haben die Machthaber für sich nur eine Lehre gezogen: Wollen sie nicht erneut die Kontrolle über ihre Bevölkerungen verlieren, müssen sie wohl noch autoritärer, noch kompromissloser herrschen. Auch in Iran, wo es wegen der schweren Wirtschaftskrise seit Monaten brodelt, sollte niemand an der Entschlossenheit des Regimes zweifeln, das System mit aller Gewalt zu verteidigen. Die Islamische Republik ist an ihrem vierzigsten Geburtstag im Inneren stark geschwächt, allein schon wegen ihres aussenpolitischen Schwergewichts aber keineswegs todgeweiht.

Der militante Islamismus, gross geworden durch den Revolutionsexport Khomeinys, den Stellvertreterkrieg in Afghanistan und die Mission der Wahhabiten, bleibt an der Tagesordnung. Er verschwindet auch nicht mit dem vermeintlichen Sieg gegen den IS oder mit den halbseidenen Reformankündigungen des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman (der das Jahr 1979 selber als ein folgenschweres identifiziert hat). Eine echte Zeitenwende ist weder in Riad noch in Teheran, noch in Kairo zu erwarten. Die Vergangenheit ist noch längst nicht zu Ende.

Dem NZZ-Nahostredaktor Daniel Steinvorth auf Twitter folgen.

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