Mit dem Latein am Ende?

Alte Sprachen wie Latein und Griechisch sind in der Schweizer Bildungslandschaft immer weniger gefragt. So streicht etwa Obwalden das Schwerpunktfach Latein aus dem Lehrplan der Kantonsschule – und sägt an den eigenen Wurzeln.

Jörg Krummenacher
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Das Interesse am Lateinunterricht in den Schulen schwindet. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Das Interesse am Lateinunterricht in den Schulen schwindet. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Die Worte tönen noch immer verheissungsvoll. «Das Erlernen von Latein bietet eine gute Grundlage für das Erlernen weiterer Sprachen», lobt die Obwaldner Regierung. Wer des Lateins mächtig ist, bringe «eine einzigartige Kombination aus analytischen Sprachkompetenzen und kulturell-historischem Wissen mit» und habe zudem «enorme Vorteile beim Verständnis wissenschaftlicher Terminologien», berichtet eine Arbeitsgruppe über alte Sprachen. Latein «erfordert und fördert Fähigkeiten zur Abstraktion und zu aufbauend-kumulativem Lernen», schreibt der Basler Sprachwissenschafter Rudolf Wachter. Ein Postulat aus dem Kanton Aargau verheisst gar das «Eintauchen in ein ganzes Wissensuniversum». Und Marc König, der Präsident der Schweizer Gymnasialrektorenkonferenz, folgert: «Jede Schule ist noch immer stolz, wenn sie einen Latein-Schwerpunkt hat.»

Nur noch für wenige Studien nötig

Allein: Zu viel Lob verheisst den Untergang. Die Entwicklung des Schulfachs Latein wirkt in der Tat wenig erbaulich. Die Schülerzahlen sinken, und immer weniger Lehrgänge an den Universitäten setzen Lateinkenntnisse voraus. So hat die Uni Zürich, lange Zeit der Hort alter Sprachen unter den Schweizer Universitäten, 2015 die Lateinpflicht für Philosophie, Kunstgeschichte und Anglistik aufgehoben. Seit 2017 fällt das Obligatorium auch für deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft weg. Medizin lässt sich bereits seit 1968 ohne Kenntnis des Lateins studieren.

Ab kommendem Herbstsemester verlangen zudem auch Studienprogramme wie Geschichte oder Musikwissenschaft, die weiterhin Lateinkenntnisse bedingen, keine entsprechenden Vorkenntnisse mehr. Zürich bietet hier neu, ähnlich wie etwa Basel, die Möglichkeit, während des Studiums die verlangten Kenntnisse in Latein nachzubüffeln.

Obwalden setzt Latein ab

Entsprechend sinkt die Notwendigkeit, den Lateinunterricht während der Gymnasialzeit und vorgelagert in der Sekundarschule zu belegen. Beispielhaft lässt sich der Bedeutungsverlust des Lateinischen im Kanton Obwalden beobachten. Dieser hat entschieden, ab dem kommenden Schuljahr Latein an der Kantonsschule als Schwerpunktfach zu streichen. Die moderne Fremdsprachendidaktik lege heute höheres Gewicht auf die mündliche Verständigung, begründete die Regierung ihren Entscheid und wertete stattdessen das Italienische zum Schwerpunktfach auf. Das Latein gilt in dieser Denkart als «tote» Sprache. Das mit dem Lateinunterricht erlangte Wissen über antike Kulturen, so empfahl die Regierung, sei künftig zumindest teilweise im Geschichtsunterricht zu vermitteln.

Zum Entscheid trug natürlich bei, dass bereits in den Schuljahren 2015/16 und 2017/18 wegen zu geringer Anmeldezahlen keine Lateinklassen mehr zustande gekommen waren. Am Mittwoch musste sich die Regierung vor dem Kantonsrat dennoch rechtfertigen. In ihrer Antwort auf eine Interpellation stellte sie lapidar fest, dass sich die Welt und die Bildung weiterentwickelt hätten – offensichtlich weg vom Lateinischen. Zahlreiche Bemühungen der letzten Jahre, den Studierenden das Fach schmackhaft zu machen, hätten nichts gefruchtet. Wenigstens lässt der Kanton weiterhin die Möglichkeit offen, Latein in einem anderen Kanton oder an der Stiftsschule Engelberg als Schwerpunktfach zu belegen.

Leicht ist den Verantwortlichen der Abschied vom Lateinischen nicht gefallen, stellt es doch die Wurzel gymnasialer Ausbildung in Obwalden dar. Die Kantonsschule in Sarnen gründet auf der 1709 vom «Seminariherrn» Johann Babtist Dillier aufgebauten Lateinschule, die später während beinah 150 Jahren von Benediktinern geführt wurde, die aus dem aargauischen Muri vertrieben worden waren. Das Gebiet des alten Gymnasiums und Kollegiums wie auch des Konvikts gilt in Sarnen als das «Quartier Latin».

Verlust an Bildungskapital

Für den Interpellanten, CVP-Kantonsrat Mike Bacher, geht mit dem Ende des Schwerpunktfachs Latein «ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur und des humanistischen Bildungskapitals verloren». In diesem Sinn äussert sich auch Martin Stüssi, der Präsident des Schweizerischen Altphilologenverbands, der sich unverdrossen für die alten Sprachen einsetzt. «Humanistische Bildung mit Latein und Griechisch gehört nach wie vor an ein Schweizer Gymnasium», sagt Stüssi.

So machte sich der Verband vor einigen Jahren auch die Mühe, eine Übersicht über die effektive Zahl von Studierenden alter Sprachen (Latein und Altgriechisch) zu erstellen und kam für das Schuljahr 2012/13 auf eine Zahl von immerhin 13 894 (davon 12 968 mit Latein), was einen Anteil von 17 Prozent aller Studierenden ausmachte. Mitgezählt wurden dabei alle Matura-Abschlüsse in den beiden Sprachen, als Schwerpunkt- und Grundlagenfach wie auch als Latinumsprüfung.

Die Statistik des Bundes hingegen führt nur die Matura-Abschlüsse eines Jahres in den Schwerpunktfächern Latein und Griechisch auf. Immerhin geben diese Zahlen einen Eindruck von der sinkenden Nachfrage nach den alten Sprachen, wobei das Lateinische den weitaus grössten Anteil am Kuchen ausmacht.

Schleichender Rückzug vom Latein

Matura-Abschlüsse mit Schwerpunktfach alte Sprachen

Fahrlässiger Wandel?

Längst haben auch andere Kantone das Fach Latein teilweise abgeschafft oder herabgestuft. Luzern streicht es auf das kommende Schuljahr am Untergymnasium, Schaffhausen aus dem Lehrplan der Volksschule – samt Hinweis auf dessen «reduzierten Stellenwert». Altphilologe Martin Stüssi zeigt zwar Verständnis für den gesellschaftlichen und bildungspolitischen Wandel, betont aber, dass sich Latein und auch Griechisch dem Wandel der Zeit immer gestellt hätten und auch künftig stellen würden. Weder fehle es an jungen Lateinlehrpersonen noch an alternativen Modellen. So werde etwa im Kanton Glarus, wo er unterrichte, Latein als fakultatives, aber promotionswirksames Grundlagenfach angeboten. Die Folge: «Nunmehr wählt etwa ein Drittel des Jahrgangs Latein zusätzlich, was zeigt, dass Latein durchaus nicht so ‹verstaubt› sein kann.» Für Obwalden, ergänzt Stüssi, könnte er sich ein solches Modell ebenfalls vorstellen.

Eine kritische Bemerkung zur Bildungspolitik hält er indes für angebracht: Zunehmend setze man auf den direkten, unmittelbaren Nutzen von Bildungsinhalten und Fächern. Dass da ein Fach wie Latein infrage gestellt werde, liege auf der Hand. «Doch ist dies äusserst fahrlässig», glaubt Martin Stüssi, «da Bildung höchstens zu einem kleinen Teil nach dem Prinzip des ‹unmittelbaren Nutzens› funktionieren sollte.»

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