Wenn wir die Evolution menschlicher Gesellschaften immer tiefer verstehen, können wir sie dann auch immer besser managen?

Der Evolutionsbiologe David Sloan Wilson beschäftigt sich nicht mit Kröten, sondern mit ganzen Gesellschaften. Nachdem er jahrelang experimentell erforscht hat, was menschliche Kollektive erfolgreich macht, will er mit seinen Erkenntnissen die Welt verbessern. Er hat auch den Schweizern einiges zu sagen.

Markus Schär
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Was macht das Kollektiv stark? Wieso sollen wir es nicht von den Ameisen lernen? Sobald die Organisation in der Gruppe besser ist als in anderen, hat sie einen Wettbewerbsvorteil. (Bild: Urs Flüeler / Keystone)

Was macht das Kollektiv stark? Wieso sollen wir es nicht von den Ameisen lernen? Sobald die Organisation in der Gruppe besser ist als in anderen, hat sie einen Wettbewerbsvorteil. (Bild: Urs Flüeler / Keystone)

Schade, dass David Sloan Wilson die Schweiz nicht besser kennt. Der führende Evolutionsbiologe will seine Einsichten dazu nutzen, die Welt zu verbessern. Deshalb lehrt er, wie sich kleine Gruppen oder gar ganze Gesellschaften erfolgreich entwickeln, auch in seinem neuen Buch, «This View of Life», der Summe seines Schaffens.

Er schwärmt darin von einem Land, dem es gut gehe, weil es die Prinzipien des Zusammenlebens, die kommunal gälten, auch national hochhalte: Norwegen. Über die Schweiz spricht er leider nie, doch die Lektüre lohnt sich gerade auch für Schweizer. Schliesslich müssen sie sich – nicht zuletzt in der Debatte um das Verhältnis zur EU – darauf besinnen, was ihr Land einzigartig und erfolgreich macht.

Aber von Anfang an: Wie kommt ein Biologe überhaupt dazu, nicht wie früher zu Kröten oder Krebsen zu forschen, sondern sich um politische und soziale Probleme zu kümmern? David Sloan Wilson, 1949 als Sohn des bekannten Schriftstellers Sloan Wilson geboren, studiert die Natur des Menschen nicht, wie sein Vater, mittels der Literatur, sondern aufgrund der Biologie – also der Wissenschaft, in der nichts Sinn ergibt, «ausser im Licht der Evolution». Das Diktum des Genetikers Theodosius Dobzhansky von 1973 galt damals allerdings nach Lehrmeinung der meisten Wissenschafter nur für alle anderen Tiere, nicht für die Menschen. Nur einzelne Pioniere wie der führende Ameisenforscher E. O. Wilson – mit David Sloan Wilson nicht verwandt – machten sich daran, auch die Entwicklung von menschlichen Gesellschaften aufgrund der Prinzipien von Charles Darwin zu erklären.

Selektion auf zwei Ebenen

Dabei kämpfte schon der Stammvater der Evolutionstheorie mit einem Problem: Wenn gemäss seiner Lehre sich jene Individuen durchsetzen, die länger überleben und sich stärker fortpflanzen als andere, dann wirkt die natürliche Selektion gegen Tugenden wie Nächstenliebe, Heldenmut oder Ehrlichkeit, weil diese meist zwar den Mitmenschen nützen, aber nicht dem Individuum selbst. Doch bereits Darwin fand die Lösung: Er sah, dass die Selektion auf zwei Ebenen wirkt – die Gruppen, in denen die Individuen zusammenspannen, setzen sich im Wettbewerb gegen andere Gruppen durch.

Die Sozialbiologie, die E. O. Wilson in den 1970er Jahren für die Menschen wie für die Ameisen entwickelte, löste allerdings einen Sturm der Entrüstung aus: Die Kritiker verschrien sie als Wiedergänger des Sozialdarwinismus. «In der politischen Arena ist die Evolution noch heute ein toxischer Begriff», stellt David Sloan Wilson lakonisch fest. Erst im letzten Vierteljahrhundert wagte er es wieder, die Ansätze von Darwin weiterzuführen – mit der Theorie der Multilevel-Selektion.

Wie der Vordenker stellte er fest: Jene Einheiten, in denen die Kooperation innerhalb stärker ist, entwickeln sich in der Konkurrenz mit anderen ausserhalb besser, ob Staaten, Unternehmen oder Fussballteams. «Die kulturelle Evolution», erkennt der Biologe deshalb, «wirkt ebenso auf mehreren Ebenen wie die genetische Evolution.»

Wie es der Untertitel seines neuen Buches, «This View of Life», verheisst, will er «die Darwinsche Revolution vollenden»: Die Evolutionsbiologen könnten alle Aspekte des Lebens studieren, bis hin zum Zusammenleben der Menschen in komplexen Gesellschaften. Und zwar könnten sie aufgrund ihrer Prinzipien nicht nur erklären, was ist, sondern auch aufzeigen, was sein soll. Darum setzt David Sloan Wilson seine Erkenntnisse in die Praxis um.

Er gründete sein eigenes Evolution Institute, um «auf wissenschaftlicher Grundlage Lösungen zu finden, die unsere Lebensqualität erhöhen». Projekte macht er vor allem an Schulen, um seine Stadt, Binghamton in Upstate New York, «einen Block nach dem anderen zu verbessern». Und er forscht in Ländern wie Norwegen, «was unsere Gesellschaft weiterbringt».

Dabei geht er immer davon aus, was die Anthropologen lehren: Die Menschen entwickelten sich seit zwei Millionen Jahren so einzigartig, weil sie in Kleingruppen zusammenarbeiteten und voneinander lernten. Noch heute leben sie deshalb am liebsten wie die Jäger und Sammler in überschaubaren Sippen mit egalitärer Ordnung und reziproken Beziehungen – «ich gebe dir, damit du mir gibst» –, in denen alle einander kennen und übereinander wachen.

Erst vor fünftausend Jahren, aufgrund der neolithischen Revolution, also der Einführung der Landwirtschaft, wuchsen Städte und dann auch Staaten mit Tausenden von Menschen heran. Ihr Zusammenleben liess sich nur noch von despotischen Herrschern und mit moralisierenden «grossen Göttern» regeln; einzig in seltenen lichten Momenten der Geschichte lebten Bürger in demokratischen Ordnungen selbstbestimmt.

Manager der Evolution

Doch das müsse nicht so bleiben, meint David Sloan Wilson, wenn es gelinge, die Regeln für Kleingruppen auf grössere Einheiten zu übertragen. «Wir müssen weise Manager der evolutionären Prozesse werden», lehrt er. Denn ohne Management führe uns die Evolution «dorthin, wo wir nicht hingehen wollen». Deshalb lehnt er das Laissez-faire der Libertären ab, weil der Wettbewerb aller gegen alle die Kooperation zerstöre, aber auch die Planwirtschaft der Sozialisten, da sie den Wettbewerb um die bessere Lösung ausschalte.

Die Prinzipien zum Managen von evolutionären Prozessen findet David Sloan Wilson bei Elinor Ostrom, mit der er vor ihrem Tod 2012 noch zusammenarbeitete. Die Politikwissenschafterin, die 2009 als bisher einzige Frau den Nobelpreis für Ökonomie bekam, arbeitete an Lösungen für die «Tragik der Allmende»: Gemeingüter wie Weideland oder Wasserläufe werden oft übernutzt und vernachlässigt, wenn es keine klaren Regeln gibt.

Deshalb untersuchte Elinor Ostrom erfolgreiche Beispiele in aller Welt, so in der Schweiz mit den Suonen, der traditionellen Wasserversorgung mittels hölzerner Leitungen in Walliser Gemeinden. Daraus entwickelte sie ihre Core-Design-Principles für Korporationen: erstens eine klare Abgrenzung, wer dazugehört, sowie Rechte und Pflichten für alle, die dazugehören; zweitens ein Gleichgewicht zwischen Nutzen und Kosten für alle Beteiligten; drittens eine faire und inklusive Beschlussfassung; viertens Kontrollen gegen Übertretungen; fünftens angemessene Sanktionen bei Verstössen gegen die Regeln; sechstens eine schnelle und gerechte Konfliktlösung; siebtens Autonomie für die lokale Gemeinschaft und achtens eine polyzentrische Governance, die auch das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen nach diesen Prinzipien regelt.

Das Erfolgsgeheimnis

Diese Regeln sieht David Sloan Wilson in Norwegen auf der nationalen Ebene umgesetzt. In einem Essay, den er zusammen mit dem Biologen Dag Hessen verfasst hat, lobt er das Land deshalb als «blueprint for the global village», also als Vorbild, wie die Menschen weltweit zusammenleben könnten und sollten. Die Evolutionstheorie könne erklären, weshalb Norwegens Erfolgsfaktoren – Gleichheit, Gemeinsinn und Vertrauen, soziale Sicherheit und kulturelle Homogenität – wichtig seien: «Gemäss unserer Hypothese funktioniert Norwegen als Nation so gut, weil die sozialen Kontrollmechanismen von Dörfern im ganzen Land gelten. Deshalb können sich die Erfolgsfaktoren wie das Vertrauen entwickeln.»

Das Anschauungsmaterial hätte David Sloan Wilson freilich auch in der Schweiz finden können. Der Berner Historiker Daniel Schläppi zeigt in spannenden Studien, wie die Regeln von Elinor Ostrom in der alten Eidgenossenschaft galten: Die Bürger verwalteten ihre Gemeinden als kollektives Gut. «Wer verstehen will, warum es die Schweiz noch gibt», meint der freie Forscher deshalb, «muss ihre genossenschaftliche Geschichte kennen.»

David Sloan Wilson sagt auf Anfrage, er wisse von der Schweiz nur, «dass sie neben den nordischen Ländern ebenfalls ein gutes Beispiel ist, wie sich den Prinzipien von Elinor Ostrom nachleben lässt – umso eindrücklicher, weil sie vier Landessprachen hat». Die Schweizer aber könnten aus ihrer Geschichte viel lernen, gerade für ihre nähere Zukunft.

David Sloan Wilson: This View of Life. Completing the Darwinian Revolution. Knopf Doubleday, New York 2019. 304 S., Fr. 35.90.

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