«Gateways to New York»: Der zeitlose Zauber der Hängebrücken und ihr Schweizer Pionier

Der Zürcher Filmemacher Martin Witz spürt dem Leben und Wirken des Schweizer Ingenieurs Othmar H. Ammann in New York nach und stösst auf Ikonen der klassischen Moderne.

Urs Bühler
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Die 1931 eröffnete George-Washington-Bridge ist Othmar H. Ammanns erster Wurf. (Bild: PD)

Die 1931 eröffnete George-Washington-Bridge ist Othmar H. Ammanns erster Wurf. (Bild: PD)

Als ein junger Schaffhauser ETH-Abgänger namens Othmar H. Ammann 1904 nach New York kommt, um dort eine Anstellung und sein Glück zu finden, ziehen noch Pferde die Strassenbahn. Aber es herrscht Aufbruchstimmung, und die Träume des Schweizer Ingenieurs zielen hoch: Er malt sich aus, Manhattan und New Jersey durch eine Brücke über den Hudson zu verbinden, mit einer Spannweite von einem Kilometer doppelt so lang wie jede andere. Als er sechzig Jahre später stirbt, hat er das längst geschafft – und überdies soeben sein Spätmeisterstück vollendet. Seine Werke bleiben zurück als Monumente der klassischen Moderne, die sich wie sein Leben dem Ende zuneigt.

Ein Stoff zum Staunen

Was zwischen seiner Ankunft und seinem Tod geschieht, ist ein Stoff zum Staunen – das Leben schreibt die besten Geschichten. Von dieser Einsicht scheint auch das Schweizer Filmschaffen und sein Publikum beseelt, sind doch beide Seiten dem Dokumentarischen stark zugeneigt. So ging auch bei den diesjährigen Solothurner Filmtagen der Prix du Public an ein Werk dieses Genres: In «Gateways to New York» lässt Martin Hitz besagten Othmar H. Ammann, von dem es kaum Ton- und Bilddokumente gibt, lebendig werden – samt einigen Eigenschaften, die man Schweizern so nachsagt: leicht spröd, ausgestattet mit der Sorgfalt eines Uhrmachers und einem Pragmatismus, der Kühnheit auf ein mehrheitsfähiges Mass zügelt.

Othmar H. Ammann (1879-1965; links) betrachtet am 29. August 1962, dem Eröffnungstag der von Anfang an vorgesehenen zweiten Ebene der George Washington Brücke, mit einem anderen Ingenieur die Pläne. (Bild: Keystone)

Othmar H. Ammann (1879-1965; links) betrachtet am 29. August 1962, dem Eröffnungstag der von Anfang an vorgesehenen zweiten Ebene der George Washington Brücke, mit einem anderen Ingenieur die Pläne. (Bild: Keystone)

Nach seiner Ankunft arbeitet sich Ammann hoch, vom Zeichner zum Konstrukteur, bald wird er Chefassistent im Ingenieurbüro von Gustav Lindenthal, Amerikas führendem Brückenbauer. Welch unerhörter Verrat dieses Verhältnis spalten wird, vermittelt der Film ansatzweise: Nachdem er seinen alterssturen Mentor vergeblich dazu angehalten hat, dessen Pläne für die Brücke von Manhattan nach New Jersey zu redimensionieren, tut Ammann dies mit enormer Entschlossenheit und Risikobereitschaft auf eigene Faust und überzeugt Politiker und Geldgeber von seinem Ansatz: So trägt die 1931 eröffnete George-Washington-Brücke, über die heute 100 Millionen Fahrzeuge im Jahr verkehren, seine filigrane Handschrift. Sie wird stilbildend für den Brückenbau der nächsten fünfzig Jahre und bis ins 21. Jahrhundert hinein zum gültigen Wahrzeichen des Big Apple. Etwas von Ammanns Geist steckte auch in der vielbesungenen Golden Gate Bridge von San Francisco, deren ursprüngliches Projekt er überarbeiten half.

Schriftliche Zeugnisse

Martin Witz, Regisseur. (Bild: PD)

Martin Witz, Regisseur. (Bild: PD)

Der Architektur sind schon viele filmische Dokumente gesetzt worden, etwa von Christoph Schaub, für dessen erste drei Spielfilme Martin Witz einst die Drehbücher mitverfasste. Doch nun ist ein Ingenieur an der Reihe – und es ist kein Zufall, dass es Witz war, der diesen Stoff für die Leinwand entdeckt hat. 1956 in Zürich geboren und seit bald vier Jahrzehnten als freier Filmschaffender unterwegs, stellt er seine Fähigkeiten als Dramaturg und Cutter meist in den Dienst anderer. Ab und zu indes packt ihn eine historische Figur derart, dass er selbst Regie führt, wie 2007 bei «Dutti der Riese» über den Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler – oder im vorliegenden Fall.

Dabei schart er ein starkes Team um sich, von Patrick Lindenmaier (Kamera) über Stefan Kälin (Schnitt) bis zu Marcel Vaid (Musik), und belegt seine Fähigkeit, historischen Stoffen in klassischer Erzähltechnik spielfilmartiges Potenzial zu entlocken. Heutige Bilder von Ammanns Brücken werden gekonnt mit Archivmaterial verwoben. Als wichtige Quellen dienen die vielen schriftlichen Zeugnisse des Protagonisten, dem Hanspeter Müller-Drossaart die Stimme leiht, von Briefen an die Gefährtin über Tagebucheinträge bis zu Vorträgen: Dieser gesamte Nachlass ist im Archiv der ETH Zürich zugänglich, deren Ehrendoktorhut Ammann zusammen mit Albert Einstein empfing.

Die anderen Helden

Dass diese filmische Annäherung an den Pionier nie zur Hagiografie wird, hat auch mit prägenden Nebenfiguren zu tun. Der Regisseur bringt uns nicht nur den Kopf hinter diesen Bauwerken näher, sondern auch Hände, ohne die sie nie Realität geworden wären: Er hat zwei Skywalker vom stark in dieses Metier involvierten Indianerstamm der Mohawks aufgespürt, die als Stahlarbeiter Ammans Ideen in schwindelerregender Höhe zu seinem letzten Werk fügen halfen. Ihre Energie noch im hohen Alter lässt die Leinwand vibrieren wie eine Tragödie um ihre Vorfahren, die eingewoben wird.

Othmar H. Ammann, der Schweizer Brückenbaupionier, war ein etwas spröder, aber umso brillanterer Zeitgenosse. (Bild: PD)

Othmar H. Ammann, der Schweizer Brückenbaupionier, war ein etwas spröder, aber umso brillanterer Zeitgenosse. (Bild: PD)

So zeigt sich die Verrazzano-Narrows Brücke heute – sie kann als Spätmeisterwerk Ammanns bezeichnet werden. (Bild: PD)

So zeigt sich die Verrazzano-Narrows Brücke heute – sie kann als Spätmeisterwerk Ammanns bezeichnet werden. (Bild: PD)

Mitgewirkt haben die beiden bei Ammanns grösster Herausforderung, der er sich als über Achtzigjähriger stellte: der 1600 Meter langen Verazzano-Narrows-Brücke über der New Yorker Hafeneinfahrt. Am 21. November 1964, kurz vor seinem Tod, wird diese damals längste Hängebrücke der Welt eröffnet, mit zwölf Autospuren auf zwei Etagen. Der «New Yorker» wünscht sich, dass dieser Mann weitere hundert Jahre leben könnte, dann würde er bestimmt eine Brücke übers ganze Meer errichten. Amman selbst, der Botschafter des Schlichten, pflegte seine Worte weit weniger spektakulär zu wählen: «Eine Hängebrücke ist ja nichts anderes als ein Wäsche-Seil, das man über zwei Pfosten legt . . . links und rechts befestigt . . . und dann die Wäsche – also in diesem Fall die Fahrbahn – darunterhängt . . . eigentlich ganz einfach.»

«Gateways to New York», ab 4. 4. ★★★★☆