Gott ist weder gerecht noch ungerecht: Er ist ohnmächtig.

Nicht Gott, der Teufel versucht den Menschen, sagt der Papst. Doch in der Versuchung des gottesfürchtigen Menschen liegt das tiefste Paradox des Christentums.

Slavoj Žižek
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Wenn wir das, was christliche Erfahrung ausmacht, am Leben erhalten wollen, müssen wir der Versuchung widerstehen, alles aus ihr entfernen zu wollen, was «problematisch» ist. (Bild: Fabrizio Bensch / Reuters)

Wenn wir das, was christliche Erfahrung ausmacht, am Leben erhalten wollen, müssen wir der Versuchung widerstehen, alles aus ihr entfernen zu wollen, was «problematisch» ist. (Bild: Fabrizio Bensch / Reuters)

Eigentlich hat Papst Franziskus in theologischen wie politischen Fragen einen untrüglichen Instinkt. Nun hat er allerdings einen groben Schnitzer gemacht, als er nämlich die von einigen Katholiken propagierte Idee aufgriff, eine Zeile im Vaterunser abzuändern: die Stelle, in der es heisst, «führe uns nicht in Versuchung».

Das sei keine gute Übersetzung, sagte Franziskus. Denn sie spreche von einem Gott, der die Versuchung über den Menschen bringe. Aber es sei der Mensch, der der Versuchung erliege, nicht Gott, der den Menschen in die Versuchung stosse und zuschaue, wie er falle. Der Satan sei es, der uns in Versuchung führe. Der Papst schlug deshalb vor, der katholischen Kirche in Frankreich zu folgen, die für den betreffenden Vers des Vaterunsers kürzlich die Übersetzung eingeführt hat: «Lass uns nicht in Versuchung kommen».

Das falsche Gute

Die Argumentation ist einfach, und sie klingt überzeugend. Nur, sie setzt sich über das tiefste Paradoxon des Christentums und der Ethik hinweg. Setzte Gott uns Menschen nicht schon im Paradies der Versuchung aus, als er Adam und Eva davor warnte, eine Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen? Warum stellte er ausgerechnet diesen Baum mitten in den Garten? Und warum machte er ausdrücklich auf ihn aufmerksam? Wer glaubt ernsthaft, er sei sich nicht bewusst gewesen, dass die menschliche Moral erst nach einem Sündenfall entstehen konnte?

Viele verständige Theologen und christliche Schriftsteller, von Kierkegaard bis Paul Claudel, waren sich sehr wohl bewusst, dass die Versuchung nicht in der Form des Bösen auf den Menschen zukommt, sondern in der Form eines falschen Guten. Im Zusammenhang mit Gottes Befehl an Abraham, Isaak zu opfern, weist Kierkegaard darauf hin, Abrahams Versuchung liege ja gerade in der ethischen Verpflichtung; das sei sein grosses Dilemma. Und ist die Versuchung durch das (falsche) Gute nicht das, was allen Formen von religiösem Fundamentalismus zugrunde liegt?

Dazu ein vielleicht überraschendes historisches Beispiel: das Attentat auf Reinhard Heydrich, Hitlers Statthalter in Prag. Die tschechoslowakische Exilregierung in London beschloss 1942, Heydrich zu töten. Jan Kubiš und Jozef Gabčík, die das für die Operation ausgewählte Team anführten, wurden in der Nähe von Prag abgesetzt. Am 27. Mai 1942 war Heydrich auf dem Weg in sein Büro. Allein mit seinem Chauffeur in einem offenen Wagen.

Hilfe für einen Mörder

Als der Chauffeur an einer Kreuzung in einem Vorort von Prag die Fahrt verlangsamte, trat Gabčík in den Weg und zielte mit einer Maschinenpistole auf das Auto. Doch der Angriff schlug fehl. Anstatt dem Fahrer zu befehlen wegzufahren, befahl Heydrich anzuhalten und wollte den Angreifer stellen. In diesem Augenblick warf Kubiš einen Sprengsatz auf den hinteren Teil des Autos. Die Explosion verwundete sowohl Heydrich als auch Kubiš.

Als sich der Rauch verzogen hatte, tauchte Heydrich mit seiner Waffe in der Hand aus dem Autowrack auf. Er jagte Kubiš ein paar Minuten lang, brach dann aber zusammen. Er schickte seinen Fahrer los, um Gabčík zu Fuss zu verfolgen, während er selber, immer noch mit der Pistole in der Hand, seinen linken Oberkörper hielt, der stark blutete.

Eine Frau, die zufällig vorbeikam, eilte Heydrich zu Hilfe. Sie hielt einen Lieferwagen an, um den Verwundeten von der Unfallstelle wegzubringen. Heydrich wurde auf die Ladefläche des Autos gelegt und in die Notfallstation eines nahe gelegenen Spitals gebracht. Er starb ein paar Tage später: Aber er hätte überleben können. Und die hilfsbereite Passantin wäre in die Geschichte eingegangen als die Person, die Reinhard Heydrich das Leben gerettet hat.

Urmenschliches Mitgefühl

Ein militaristischer Nazi-Sympathisant würde an dieser Geschichte wohl Heydrichs persönlichen Mut hervorheben. Mich hingegen fasziniert die Rolle der unbekannten Frau. Sie half Heydrich, der wehrlos in seinem Blut auf der Strasse lag. War sie sich bewusst, wer er war? Wenn ja und wenn sie keine Nazi-Sympathisantin war – beide Vermutungen haben alle Wahrscheinlichkeit für sich –, warum tat sie das, was sie getan hat? War es eine reflexartige Reaktion? Kam die Tat aus dem urmenschlichen Mitgefühl heraus, einem Menschen zu helfen, der sich in Not befindet – wer auch immer es ist? War das Mitgefühl stärker als das Wissen darum, dass dieser Mann einer der schlimmsten Nazi-Verbrecher war, ein Mann, der für Millionen von Toten mitverantwortlich war?

Die Frage stellt uns vor die Wahl zwischen dem abstrakten liberalen Humanismus und der Ethik des radikalen emanzipatorischen Kampfes: Wenn wir auf der Seite des liberalen Humanismus bleiben, sind wir am Ende so weit, dass wir bereit sind, die schlimmsten Verbrecher zu dulden. Und wenn wir dem folgen, was uns das Gesetz des politischen Kampfs befiehlt, befinden wir uns auf der Seite der emanzipatorischen Universalität. Und das heisst: Die arme Frau hätte ihrem Mitgefühl widerstehen und versuchen müssen, dem verletzten Heydrich den Rest zu geben.

Wer Dilemmata dieser Art wegdiskutiert, weil sie ihm moralisch zu heikel sind, macht Ethik zu einer leblosen Angelegenheit. Hinter Fragen wie dieser lauert das Trauma des Buches Hiob im Alten Testament. Viele Christen möchten dieses Buch am liebsten als heidnische Blasphemie aus der Bibel entfernen. Bevor wir jedoch der Verführung dieser politisch korrekten Säuberung erliegen, sollten wir einen Augenblick innehalten und uns überlegen, was wir verlieren würden, wenn wir diese zweifellos anstössige biblische Geschichte nicht hätten.

Der Sinn von Hiobs Leiden

Die fast unerträgliche Wirkung des Buches Hiob liegt nicht so sehr in seinem erzählerischen Rahmen, obwohl der Teufel als Gesprächspartner Gottes auftritt und beide miteinander ein grausames Experiment durchführen, um Hiob zu prüfen. Das eigentliche Skandalon liegt im Ergebnis der Geschichte. Entgegen der üblichen Vorstellung ist Hiob nämlich kein geduldig Leidender, der alle Qualen standhaft erträgt. Im Gegenteil, er beklagt sich ständig und lehnt sich gegen sein Schicksal auf. Die drei Freunde, die ihn besuchen, nachdem seine Lebensgrundlagen zerstört worden sind, argumentieren theologisch auf der Linie der üblichen ideologischen Sophistik: Wenn du leidest, musst du etwas falsch gemacht haben, denn Gott ist gerecht.

Doch ihre Argumentation beschränkt sich nicht auf die Behauptung, Hiob müsse auf irgendeine Weise schuldig sein: Auf einer viel radikaleren Ebene steht der Sinn von Hiobs Leiden auf dem Spiel. Hiob selber besteht darauf, dass er sinnlos leide. Das Buch Hiob ist vielleicht der erste beispielhafte Fall von Ideologiekritik in der Geschichte der Menschheit, und es enthüllt die grundlegenden diskursiven Strategien, wie Leiden legitimiert werden kann. Hiobs ureigene ethische Würde besteht darin, dass er sich hartnäckig weigert, anzuerkennen, dass sein Leiden einen Sinn haben könnte – sei es als Bestrafung für vergangene Sünden oder als Prüfung seines Glaubens. Er argumentiert gegen seine Freunde – und überraschenderweise stimmt ihm Gott am Ende zu.

Mit Blick auf Gottes Beteuerung, Hiobs Leiden sei sinnlos gewesen, sollte man die Parallele zwischen Hiob und Christus genauer betrachten. Hiobs Leiden kann als Ankündigung des Leidens von Jesus Christus verstanden werden. Auch das Leiden Jesu ist sinnlos. Es ist kein Akt eines bedeutungsvollen Austausches. Der Unterschied liegt natürlich darin, dass bei Christus die Kluft, die Hiob, den leidenden, verzweifelten Menschen von Gott trennt, auf Gott selber übertragen wird – es ist seine eigene radikale Spaltung beziehungsweise Selbstaufgabe. Und das heisst, dass man das Jesuswort «Vater, warum hast du mich verlassen!» viel radikaler verstehen muss, als man es üblicherweise tut.

Gottes Ohnmacht

Wir haben es nicht mit der Kluft zwischen Mensch und Gott zu tun, sondern mit einer Spaltung, die in Gott selber liegt. Die Lösung kann deshalb nicht darin bestehen, dass Gott in seiner ganzen Herrlichkeit wiedererscheint und Christus den tieferen Sinn seines Leidens enthüllt – dass er das unschuldige Opfer ist, das dargebracht wird, um die Menschheit zu erlösen. Jesu Wort an seinen Vater, «Warum hast du mich verlassen?», ist nicht die an einen allmächtigen, aber kapriziösen Gottvater gerichtete Anklage, dessen Wege für uns sterbliche Menschen nicht nachvollziehbar sind. Es zielt auf Gottes Ohnmacht.

Jesus reagiert wie ein Kind, das an die Macht seines Vaters geglaubt hat und nun mit Entsetzen feststellt, dass der Vater ihm nicht helfen kann. Im Augenblick der Kreuzigung Christi ist Gott-Vater in der Lage eines bosnischen Vaters, der Zeuge wurde, wie seine Tochter von einer Gruppe Soldaten vergewaltigt wurde, und deren vorwurfsvollen Blick ertragen musste: «Vater, warum hast du mich verlassen?» Mit diesem «Warum hast du mich verlassen?» ist es im Grunde Gott-der-Vater, der stirbt, dabei seine ganze Ohnmacht offenbart und darauf in der Gestalt des Heiligen Geistes das Kollektiv der Gläubigen von den Toten auferweckt.

Warum schwieg Hiob, nachdem Gott ihm erschienen war? «Wer behauptet, mein Walten sei finster, und redet ohne Einsicht?», fragt Gott Hiob und fährt fort: «Gürte deine Lenden wie ein Mann, / dann will ich dich fragen, und du lehre mich! / Wo warst du, als ich die Erde gegründet habe? / Rede, wenn du es weisst?» Ein lächerlich prahlerischer Auftritt, auf den Hiob eigentlich antworten müsste: «Wenn du das alles gemacht hast: Warum hast du mich dann auf so sinnlose Weise leiden lassen?» Denn lassen die polternden Worte Gottes das Schweigen nicht umso spürbarer werden, auf dem sie aufruhen? Machen sie nicht erst recht deutlich, dass Gott auf Hiobs Frage keine Antwort hat?

Stille Solidarität

Und war es nicht genau das, was Hiob spürte – und was ihn dazu bewog, zu schweigen? Hiob blieb nicht stumm, weil er von Gottes überwältigender Gegenwart zermalmt worden wäre. Sein Schweigen war auch kein Schweigen des Widerstands. Hiob schwieg, weil er in einer Art stiller Solidarität Gottes Ohnmacht spürte. Gott ist weder gerecht noch ungerecht: Er ist ohnmächtig. Und Hiob verstand plötzlich, dass bei seinem Unglück nicht er, sondern Gott selber vor dem Gericht stand – und dass er kläglich versagt hatte. Man könnte Hiobs Schweigen noch pointierter und radikal anachronistisch lesen: Hiob sah in seinem Leiden Gottes zukünftiges Leiden voraus. «Heute bin ich es, morgen wird es dein eigener Sohn sein – und es wird niemanden geben, der sich für ihn einsetzen kann. Was du jetzt siehst, ist eine Vorahnung deines eigenen Leidens!»

Wenn wir das, was christliche Erfahrung ausmacht, am Leben erhalten wollen, müssen wir der Versuchung widerstehen, alles aus ihr entfernen zu wollen, was «problematisch» ist. Das «Problematische» am Christentum ist genau das, was ihm die fast nicht zu ertragende Spannung des wahren Lebens verleiht.

Slavoj Žižek lehrt Philosophie an der Universität Ljubljana und ist International Director des Birkbeck Institute for the Humanities an der University of London. – Aus dem Englischen übersetzt von rib.