Günstige Geräte und Offline-Funktionen öffnen auch den Armen die erdumspannende Internet-Welt. (Bild: Dhiraj Singh / Bloomberg)

Günstige Geräte und Offline-Funktionen öffnen auch den Armen die erdumspannende Internet-Welt. (Bild: Dhiraj Singh / Bloomberg)

Die nächste Milliarde Menschen drängt ins Internet

Dank neuen Technologien kommen immer mehr Menschen online, unter ihnen viele Analphabeten. Sie nutzen das Internet anders als Bürger aus Industrieländern – und sind zum Studienobjekt des Silicon Valley geworden.

Marie-Astrid Langer, San Francisco
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Meet Shrinath arbeitete als Kofferträger an der Ernakulam Junction Station in Kochin, dem wichtigsten Bahnhof in Südindien. Täglich balancierte er schwere Taschen und Koffer auf seinem Kopf, manchmal mehrere auf einmal. Er träumte von einem Leben als Beamter in seiner Heimatprovinz Kerala – doch nach der Arbeit war er oft viel zu erschöpft, um für die Aufnahmeprüfung zu lernen. Sein Traum wurde greifbar, als 2016 der amerikanische Konzern Google in Kooperation mit der indischen Telekomfirma RailTel kostenloses Internet in Kochin und 400 anderen Bahnhöfen einführte. Shrinath lud sich das Lehrmaterial für den Beamtentest auf sein Handy und hörte die Audio-Dateien während der Arbeit an. Einige Monate später bestand er die Prüfung mit 82 Prozent richtigen Antworten. «Das Bahnhof-Wi-Fi hat mir geholfen, meinen Traum zu erreichen», sagt er in einem Videointerview mit Google.

Der Konzern bietet das kostenlose Internet in Indien nicht aus reiner Nächstenliebe an: Seit 2015 studiert Google gezielt die Gewohnheiten der nächsten Generation von Internetnutzern. Forschungsgruppen reisen durch Indien, Mexiko und Indonesien und befragen Einheimische, wie genau sie Musik herunterladen und mit Verwandten kommunizieren. «Wir befinden uns an einem ganz wichtigen Punkt», sagt Dave Shapiro im Gespräch am Firmenhauptsitz in Mountain View; er arbeitet in Googles «Next Billion Users»-Team, wie die nächste Welle an Internetnutzern im Jargon heisst. «Wir alle wollen die gleichen Dinge im Internet tun – shoppen, lernen, spielen, arbeiten, teilen. Aber die Barrieren, die wir dafür überwinden müssen, sind ganz unterschiedlich.»

In Mumbai und 400 anderen Bahnhöfen in Indien hat Google in Zusammenarbeit mit dem indischen Telekomkonzern RailTel gratis Wi-Fi-Hotspots installiert, um die Bevölkerung ans World Wide Web anzubinden. (Bild: Dhiraj Singh / Bloomberg)

In Mumbai und 400 anderen Bahnhöfen in Indien hat Google in Zusammenarbeit mit dem indischen Telekomkonzern RailTel gratis Wi-Fi-Hotspots installiert, um die Bevölkerung ans World Wide Web anzubinden. (Bild: Dhiraj Singh / Bloomberg)

57 Prozent der Weltbevölkerung online

Während in Industrieländern der Start der fünften Generation des mobilen Internets (5G) diskutiert wird, stehen weiten Teilen der Welt erst 2G-Verbindungen offen – wenn überhaupt. Tatsächlich haben bisher gerade einmal 57 Prozent der Weltbevölkerung überhaupt Zugang zum Internet, wie die Marktforschungsfirmen We are Social und Hootsuite im Januar meldeten; konkret 4,4 Milliarden von 7,7 Milliarden Menschen weltweit.

Zentralafrika punkto Internet abgeschlagen

Prozentsatz der Bevölkerung, die online ist; Stand Januar 2019
online
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Während in Westeuropa 94 Prozent der Bevölkerung online sind, sind es in Westafrika nur 41 Prozent, ebenso viele wie in Indien. In Nordkorea sind es gar nur 0,08 Prozent der Bevölkerung.

Nordkorea als Schlusslicht

Länder mit der niedrigsten Internet-Durchdringung; Prozentsatz der Bevölkerung, Stand Januar 2019

Doch in den nächsten vier Jahren, so schätzen Experten, wird eine weitere Milliarde Menschen zum ersten Mal online gehen. Zu verdanken ist diese Welle dem technologischen Fortschritt: Pfiffige Hersteller haben in den vergangenen Jahren Mobilfunkgeräte entwickelt, die zwar extrem günstig sind, aber trotzdem über die wichtigsten Funktionen zum Online-Surfen verfügen. Diese sogenannten «Smart Feature Phones» kosten ab 25 Dollar und haben eine lange Akkulaufzeit, um auch längere Stromausfälle zu überdauern. Der französische Telekommunikationskonzern Orange SA etwa hat eigene Geräte für die Elfenbeinküste, Mali, Burkina Faso und Kamerun entwickelt, wie das «Wall Street Journal» jüngst berichtete. Das nur in Indien verfügbare Jio-Phone läuft mit einem eigens konzipierten Betriebssystem, das auf Geräte mit wenig Speicherplatz ausgerichtet ist. Kombiniert mit günstigen Datenplänen und eigens entwickelten Apps, öffnen diese Handys die Tür zum World Wide Web und zum wirtschaftlichen Fortschritt. Für die Nutzer sind sie Kommunikationsplattform, Fernseher, Portemonnaie und Klassenzimmer in einem.

Mehr Fotos, Videos und Sprachnachrichten

Die «Next Billion Users» unterscheiden sich dabei massiv von den bisherigen Internetnutzern: Viele haben noch nie einen Computer benutzt, sondern gehen ausschliesslich über das Mobiltelefon online; sie sind zum Teil Analphabeten und leben in extremer Armut. Statt Texteingaben nutzen sie Sprachsteuerung und kommunizieren mittels Fotos, Videos und Sprachnachrichten. Die Programme, die sie dafür nutzen, funktionieren intuitiv und mit Illustrationen.

44 Prozent der nächsten Internetnutzer kommen aus elf Ländern

44 Prozent der nächsten Internetnutzer kommen aus elf Ländern

44 Prozent der nächsten Internetnutzer kommen dabei aus elf Ländern. Eine Schlüsselrolle spielt insbesondere Indien: Laut der Telekommunikationsbehörde des Landes sind heute erst 400 Millionen der 1,3 Milliarden Inder online – aus Sicht von Technologie-Konzernen bietet das Land also enormes Wachstumspotenzial. Als Google 2015 anfing, Forschungsgruppen unter anderem nach Indien zu entsenden, stiessen die Mitarbeiter vor Ort auf Überraschungen: etwa, dass sich oft mehrere Familienmitglieder ein Handy teilen. Oder, dass das im Westen weit verbreitete Symbol für Wi-Fi – ein Kreis, von dem Linien fächerförmig abgehen –, den Befragten gar nichts sagt. «Vieles, was wir hier für selbstverständlich halten, funktioniert in anderen Ländern nicht», sagt Josh Woodward, der als Produktmanager für Google arbeitet.

In Indien kämpften die Nutzer vor allem mit Speicherproblemen; ständig mussten sie Fotos oder andere Dateien löschen. Die Entwickler an Googles Firmensitz in Mountain View entwickelten daraufhin das Programm «Files», das automatisiert Daten auf dem Handy komprimiert oder löscht. Zudem lassen sich darüber Fotos, Videos und andere Daten offline austauschen. Offenbar war das Speicherproblem nicht nur eines in Entwicklungsländern: Ohne dass Google «Files» beworben hätte, wurde es schnell eine der beliebtesten Anwendungen in Industrieländern.

Analphabeten hilft zudem, dass Google seit längerem stark auf Sprachsteuerung in verschiedenen Fremdsprachen und Dialekten setzt. Weil es ausserhalb der Bahnhöfe oft keinen Zugriff auf mobile Daten gibt, begann Google auch, mehr Funktionen offline verfügbar zu machen, etwa den Zugriff auf Youtube-Videos und auf das Kartenportal Google Maps.

Facebook in «leicht»

Auch andere Technologie-Konzerne haben die nächste Milliarde Internetnutzer als Wachstumsmarkt erkannt. Facebook etwa bietet in Indien ebenfalls gratis Internet-Hotspots an und studiert das Surfverhalten der Nutzer. So merkte der Konzern, dass Facebook in Indonesien vor allem als Verkaufsplattform genutzt wird, vergleichbar mit Ebay; in Burma hingegen informierten sich die Bürger via Facebook vor allem über das politische Geschehen. «Wenn wir nur das Nutzerverhalten in Amerika, Kanada oder Grossbritannien als Massstab genommen hätten, wären wir nie auf solche Anwendungsideen gekommen», sagte der damalige Produktchef von Facebook, Chris Cox, in einem Interview mit «The Atlantik» 2016.

Auch hat das soziale Netzwerk eine Light-Version seiner App entwickelt, die speziell für Handys mit geringem Speicherplatz und schlechten Datenleitungen gebaut wurde; andere Firmen wie Twitter und Uber haben inzwischen nachgezogen.

Wie sich das Surfen in einem Entwicklungsland anfühlt, können die Facebook-Mitarbeiter und -Entwickler jeden Dienstag am Firmensitz in Menlo Park selbst erleben: Dann bietet das Unternehmen ein «2G-Erlebnis» an, bei dem die Datengeschwindigkeit gedrosselt wird. Dadurch sollen die Entwickler lernen, wie sie die Produkte anpassen müssen, um den Bedürfnissen von Nutzern in ärmeren Weltregionen gerecht zu werden. «Wir versuchen ein Verständnis dafür zu schaffen, dass die Leute, für die wir Produkte bauen, uns immer weniger ähneln», sagte Cox bei der Einführung des «2G Tuesday».

Schon heute zählen die aufstrebenden Volkswirtschaften Indien und Brasilien zu den wichtigsten Märkten für Facebooks Chat-Programm Whatsapp; besonders die Funktionen Sprachnachrichten und Videotelefonie sind dort beliebt. Angeblich bringen Mitarbeiter aus Indien Koffer voller lokaler Mobilfunkgeräte mit nach Menlo Park, um sicherzustellen, dass Whatsapp auf den Geräten wirklich läuft.

Lange hätten Firmen von der Verantwortung gesprochen, dass die eigene Technologie auch für die nächste Milliarde Internetnutzer funktioniere, schrieb Caesar Sengupta, der das Projekt für Google leitet, in einem Blog-Eintrag. Doch inzwischen sei es für Firmen, die bei Innovationen ganz vorne mitspielen wollten, entscheidend geworden, dass sie die Bedürfnisse von Nutzern in Indien, Brasilien, Indonesien und Nigeria auch erfüllten. «Die nächste Milliarde Nutzer wird nicht mehr und mehr wie wir – wir werden zunehmend wie sie.»

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