Kolumne

Relotius, Menasse: Dürfen Dichter lügen?

«Sagen, was ist». Diese Maxime stimmte noch nie. Niemand kann sagen, was ist – nicht einmal die empirischen Wissenschaften. Heisst das nun, dass wir die Scheidung zwischen Wahrheit und Lüge aufgeben sollten?

Konrad Paul Liessmann
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Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.

Auch die Guten lügen. Wer hätte das gedacht! Das Entsetzen, das sich ob dieser Einsicht in den letzten Wochen in den Feuilletons breitgemacht hat, war entweder gut gespielt oder grenzenlos naiv. Natürlich lügen auch die Guten, vor allem dann, wenn sich die Wirklichkeit den Ideen des Guten zu widersetzen scheint. Neu ist diese Mischung von Fakten und Fiktionen wahrlich nicht, aber sie bescherte uns doch die eine oder andere interessante Fragestellung.

Dürfen zum Beispiel Dichter lügen? Was für eine Frage. Sie dürfen nicht nur, es ist ihr Geschäft. Die poetische Fiktion, die innerhalb und ausserhalb von Sprachkunstwerken auftauchen kann, generiert allerdings ihre eigenen Wahrheitskriterien. Zu den Ergebnissen einer sehr alten Debatte über ästhetische Wahrheit gehört die Einsicht, dass diese selbst in der Form der Lüge erscheinen kann – wie umgekehrt übrigens die politische Lüge in Form der Wahrheit zu reüssieren vermag.

Dass heute über die Wahrheitsverpflichtung der Literatur so gesprochen wird, als lebten wir in einer politisch korrekten Schrumpfform des platonischen Staates, aus dem bekanntlich die Dichter wegen ihres unverbesserlichen Hanges zum hemmungslosen Flunkern verbannt werden sollten, verwundert dann doch ein wenig.

Dürfen zum Beispiel Dichter lügen? Was für eine Frage. (Bild: Matthias Hiekel/Epa)

Dürfen zum Beispiel Dichter lügen? Was für eine Frage. (Bild: Matthias Hiekel/Epa)

Vielleicht sollte man sich in diesem Zusammenhang an einen Aphorismus von Friedrich Nietzsche erinnern, der da lautet: «Es führt zu wesentlichen Entdeckungen, wenn man den Künstler einmal als Betrüger fasst.» Und das war, anders als heute, nicht in einem moralisch abwertenden Sinn gemeint, sondern ein Lob. Der Betrug ist eine Methode der Erkenntnis. Nietzsches Kollege Sören Kierkegaard hat dies klar ausgesprochen: Man müsse die Menschen hineintäuschen in das Wahre.

Überhaupt Nietzsche. Er ist der Denker unserer Tage. «Sagen, was ist». Mit diesem Leitspruch Rudolf Augsteins wollte sich «Der Spiegel» reuig und zähneknirschend in Selbstkritik üben und auf seine alten, nun von einem Jungstar beschmutzten Ideale besinnen. Man hätte dieses Pathos lieber sein lassen sollen, denn diese Maxime stimmte noch nie. Niemand kann sagen, was ist – nicht einmal die empirischen Wissenschaften.

Sprache an sich, und dies war eine unüberbietbare Einsicht des jungen Nietzsche, stellt immer schon eine Verfälschung der Wirklichkeit dar. Jedes Wort ist eine Verkürzung, jeder Satz eine Deutung, jedes sprachliche Bild eine poetische Fiktion, jede Beschreibung bestenfalls eine Annäherung, wenn nicht eine glatte Erfindung.

Und dabei geht es nicht um die klassische Lüge, bei der jemand das Gegenteil von dem sagt, was er selbst für wahr hält. Es geht bei all den aktuellen Skandälchen ja um Thesen und Texte aus dem Geist einer redlichen Überzeugung. Aber, um nochmals Nietzsche zu zitieren: «Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als die Lügen.»

Heisst das, dass wir die Scheidung zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Fakten und Fiktionen aufgeben sollten und alles zur poetischen Imagination erklären müssen? Mitnichten. Es kommt sehr wohl darauf an, unter welchen Bedingungen, in welchen Zusammenhängen, mit welchen Mitteln, mit welchen Absichten, mit welchen Hintergedanken wir uns an die unzulängliche Annäherung an die Wirklichkeit machen. Mindestens sollte man sich der Begrenztheit und Unzulänglichkeit seiner Mittel bewusst sein.

Und man könnte vielleicht auch dem politischen Gegner zugestehen, sich durch seine Überzeugungen zu ähnlichen Feindseligkeiten der Wahrheit gegenüber hinreissen zu lassen wie man selbst. Dazu aber wäre Grösse erforderlich, und das ist heute zu viel verlangt. Zumindest moralische Überlegenheit aber ist in einer Welt von lauter Lügen prinzipiell fehl am Platz.

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