Er lebt wie ein Einsiedler in einem Haus mit Umschwung in der Nähe von Paris, verschwindet im Wald, taucht wieder auf und präsentiert einem Gast zuweilen ein paar Steinpilze. Der Dichter Peter Handke ist ein Phänomen. Wer ihn treffen will, braucht Geduld. Eine Begegnung.
Peter Handke bereitet in der Küche Kaffee zu. Er serviert zwei Tassen des tiefdunklen Gebräus, eine für den Gast und eine für sich. Darauf verschwindet er kurz und kehrt mit zwei Tellern wieder. Im einen befinden sich verschiedene Pfifferlinge, im anderen drei schöne, kompakte Steinpilze.
Wow. Die sind ja wunderbar. Haben Sie die Pilze selber gefunden?
Ja, natürlich!
Um diese Jahreszeit?
Hier ist es nicht so kalt wie in der Schweiz. Die Pilze sind ganz frisch. Bis im Januar kann man welche finden.
Das Telefon klingelt, und Peter Handke verschwindet wiederum in Richtung Küche. Als er nach einigen Minuten zurück ins Wohnzimmer kommt, begrüsst er mich nochmals freundlich.
Sie haben richtige Fragen da, einen ganzen Stapel?
Ja, klar, ich habe mir ein paar Dinge überlegt. Bevor wir über die Pilze reden, möchte ich eine kleine, wahre Geschichte erzählen. Am Vorabend unseres Gesprächs wollte ich mir von Ihrem Wohnhaus ein Bild machen. Mir war die Hausnummer nicht erinnerlich, also wartete ich, bis der erstbeste Mensch ein Haus in der Rue de Jouy betrat. Es war ein Bub von vielleicht acht Jahren, er schaute mich mit grossen Augen an und antwortete auf meine Frage, ob er den berühmten Schriftsteller kenne, der hier in der Nähe wohnen müsse: «Ja, klar, Peter Handke.»
Hat er das gewusst?
So sieht es aus. Er meinte weiter, der Schriftsteller wohne in der schwarzen Allee, und er begleitete mich, um mir den Weg zu weisen. «Schauen Sie», sagte er, «dort, am Ende, wo Sie ein Tor erkennen, da wohnt Peter Handke. Ich war noch nie da, ich habe mich noch nie hingetraut.»
Das ist schön.
Auf dem Rückweg machte ich Station in der Weinhandlung La Cave Indépendante, der Besitzer kannte Sie. «Ja, Peter Handke, er kauft hier ein – nur Weine aus dem Burgund.»
Das stimmt. Ich trinke nur Weisswein, und der hat einen schönen Chardonnay. Der Mann wusste es auch? Die wissen es alle und sind sehr diskret.
Und selbst die Chinesin hier in der Nähe schwärmt von Ihnen.
Village Bonheur! Diese schicke kleine Frau mit Minirock? In Frankreich ist das so: Viele wissen, was ich treibe, und freuen sich sogar irgendwie, aber sie lassen sich nichts anmerken.
Wir haben uns zu diesem Gespräch verabredet, bevor Sie zum Nobelpreisträger gekürt wurden.
Ich erinnere mich. Wir wollten uns über Pilze unterhalten.
Genau. Nähern wir uns dem Pilzeln philosophisch an – beginnen wir mit dem Sitzen, das vor dem Gehen kommt. Sitzen Sie gerne?
Das fängt schwierig an. Hm. Manchmal ist es schön, wenn man endlich zum Sitzen kommt – gerade im Alter. Ich hatte vor ein paar Monaten ein Hüftproblem, und ich habe tatsächlich gedacht, zum ersten Mal: Ich hoffe, ich finde einen Sitzplatz in der Metro. Sonst bin ich in der Metro immer gestanden, wenn ich in Paris war. Aber jetzt ist es erst mal vorbei, jetzt stehe ich wieder. (Lacht.)
Sie schreiben auch im Sitzen . . .
. . . ich schreibe auch im Stehen. Notizen mache ich im Stehen, wenn ich herumgehe.
Haben Sie ein Schreibpult?
So wie Goethe? Nein. Goethe hat im Stehen geschrieben oder hat diktiert. Bei mir ist es anders. Ich habe stets mein kleines Notizbuch dabei. Ich habe noch nie im Knien geschrieben. Und ich lese im Sitzen.
Sind Sie ein Vielleser?
Vielleser würde ich nicht sagen. Aber ich bin ein Leser, das schon, ja. Das Lesen gehört für mich zum Tag dazu.
Lesen Sie Ihre eigenen Bücher wieder?
Nur wenn es sich ergibt. Wenn eine Neuauflage eines meiner Bücher in einer neuen Sprache kommt, dann lese ich wieder hinein. Oder wenn mir jemand sagt, er habe was gelesen bei mir, und ich erinnere mich nicht: Dann greife ich zum Buch, schaue nach und staune über das, was da steht.
Da tritt Ihnen der eigene Text plötzlich als etwas Fremdes gegenüber.
So ist es. Gott sei Dank.
Sie haben ja ungeheuer viel zu Papier gebracht. Schreiben Sie zu bestimmten Tageszeiten, pflegen Sie Schreibrituale?
Schreiben ist für mich eine Ausnahmesituation. Wenn ich am Schreiben bin, schreibe ich jeden Tag. Aber das Arbeiten hat sich über die Jahre verlegt, vom Morgen auf den Nachmittag. Ich trage das lange vor mich hin, bis ich mich zum Sitzen bequeme, wobei, «bequem» ist eigentlich nicht das Wort. Und dann spitze ich den Bleistift.
Bleistiftspitzen wie in der Schule – das wäre also Ihr Ritual?
Ja, das ist eins. So wie ich die Kaffeekörner am Morgen mahle, wenn ich den Kaffee zubereite, so spitze ich den Bleistift. Ich scheue mich davor, mich hinzusetzen und einfach draufloszuschreiben. Aber wenn ich mal sitze, dann geht’s vielleicht schon, in dem Sinne.
Sie sind ein impulsiver Schreiber.
Ich nenne das Schreiben eine Ein-Mann-Expedition. Wenn ich eine solche Expedition unternehme, dann ist es wirklich jeden Tag, bis ich zu einer Art von Scheinende komme. Sonst bin ich aber kein Täglichschreiber.
Das Notizbuch ist Ihr steter Begleiter?
Schreibübungen mache ich immer. Manchmal fliegt mich eben nichts an, da kommt nichts. Dann lese ich aber etwas, und dann nehme ich die Bewegung des Schreibens als Zitat vor. Ich zitiere, was ich gerade lese, ob das nun Pindar ist oder irgendein Horoskop in der Zeitung, nur damit eine Zeile im Notizbuch steht, in dem Sinne.
Warum ist das wichtig, dass da immer was steht?
Es muss einfach was geschehen, es erdet mich oder enterdet mich, ich weiss es nicht.
Wenn Journalisten schreiben, hört man das leise Trommeln auf der Tastatur eines Computers. Wenn Sie schreiben, hören Sie das Kratzen des Bleistifts.
Das ist kein Kratzen, das ist ein Rauschen! Wenn ich bei Trost bin, dann höre ich, wie schön das rauscht. Manchmal überhöre ich es auch, man kann ja nicht immer auf das Rauschen hören. Das Rauschen ist gewissermassen überall.
Sie meinen das zivilisatorische Grundrauschen – also den täglichen Lärm, den wir überhören müssen, um nicht verrückt zu werden?
Den gibt’s natürlich. Aber hier höre ich auch das Rauschen der Natur, die Bäume, die Vögel. Hier hat’s einen grossen Wald, der geht von Paris bis nach Chaville, in der Art eines Halbmondes. Das ist viel gute Natur.
Wenn Sie dann schreiben und der Bleistift über das Papier rauscht, horchen Sie dann in sich hinein?
Ich höre nichts, es herrscht totale Stille, wenn ich schreibe. Geräusche stören mich, solche von Hunden vor allem. Ich könnte Ihnen Seiten zeigen, wo Sie sehen, was passiert, wenn Hunde bellen. Dann rutscht mir der Bleistift aus vor lauter Schreck, da gibt’s so abweichende Linien. Nein, ich höre nichts, es schreibt sich so dahin. Oder nein, das auch nicht, ich passe schon auf. Ich bin nicht wie Flaubert, der sich den Rhythmus der Sätze immer vorgesprochen hat. Das mache ich nicht, ich bin total still, stumm.
Sie hören auf die Sprache.
Ich vertraue dem Rhythmus, der da kommt. Nicht immer, ich verhasple mich auch. Alle drei, vier Tage kommt irgendeine Verknotung der Schrift, wo ich mich dann herausrette. Das Schriftbild sieht im Nachhinein lustig aus, aber in Wirklichkeit, im Vorgang ist es nicht so lustig.
Das widerfährt selbst Ihnen? Ihr Opus ist gigantisch. Der Leser merkt, mit wie viel Sorgfalt und Feinsinn es gewoben ist, aber er könnte auf den Gedanken kommen, dass da jemand routiniert schreibt.
Ich verliere den Rhythmus immer wieder. Das heisst, ich mache irgendetwas zu viel oder zu wenig. Dann kommt der Radiergummi zum Zug.
Sie warten darauf, dass etwas geschieht. Sie bringen sich in die Haltung des Geschehenlassens.
Irgendwie schon. Im Älterwerden ist es so eine seltsame hypnotische Geschichte.
War das Schreiben früher anders?
Ja, sicher. Auch deshalb, weil ich mit Schreibmaschine geschrieben habe. Da war der Punkt wichtig, der Punkt war ein lauter Klang. Punkt. Tack! Mit Bleistift ist der Punkt still. Vielleicht hat man aber im Alter auch nicht mehr das Vertrauen zu den kurzen Sätzen. Man muss mehr Umwege machen in einem Satz, damit das Gefühl aufbewahrt wird. So kommt es mir jedenfalls vor. Das klingt affektiert, aber das ist es nicht. Jeder Schreiber hat seine eigene Geschichte, jeder Vogel fliegt anders.
Sie gehen ums Haus, Sie gehen in die Stadt. Sind Sie ein Flaneur?
Nein, nicht mehr. Ich habe mal eines der wenigen Gedichte meines Lebens geschrieben, das davon handelt – vom Ende des Flanierens. Das Flanieren hört dann auf, wenn man übergeht in den Schmerz des Gehens. Es war eine Zeit der Verlassenheit, in der das benjaminsche Flanieren für mich seine Bedeutung verloren hat. Man kann es nur achten, es hat Benjamin ja sein Leben gerettet, eine Zeitlang. Aber ich – ich bin kein Flaneur mehr. Ich bin ein Streuner, ein Herumtreiber.
Wo treiben Sie sich denn herum?
Eigentlich nicht im Zentrum, lieber in den Randzonen. Ich bleibe im 15. Arrondissement und in Pont Mirabeau, wo Apollinaire ein herrliches Gedicht geschrieben hat, das zugleich ein wenig ein Schwindel ist, weil er meint, die Liebe im Fluss gehe immer weiter. Da streune ich umher, gehe von einer Bar zur anderen, schau fern, Fussball oder was anderes, esse was Kleines und fahre wieder nach Hause.
Sie sind auch ein Waldgänger.
Das ist wahr. Ich verschwinde im Wald und sammle Pilze.
Was geschieht im Wald?
Man geht woanders hin, die Zeit vergeht, es ist eine schöne Zeit. Es wird einem nie langweilig.
Dann sagen Sie also: «Ich bin dann mal weg – Pilze suchen?»
Man darf das nicht sagen, das ist ein Geheimnis. Ich nehme auch nie ein Werkzeug mit, einen Korb oder ein Messer. Ich denke immer: Ich nehme nichts mit und finde dann eher, als wenn ich vorbereitet etwas mitnehme. Wer mit dem Korb unterwegs ist, findet nie was. Ich nehme nichts mit, und ich sage nichts, höchstens: «Ich gehe in den Wald.»
Sie verschwinden.
Genau. Und dann tauche ich irgendwann wieder auf.
Ist das Pilzeln eher ein Jagen oder ein Suchen?
Kein Jagen, um Gottes willen! Es ist ein Schauen. In meinem «Versuch über den Pilznarren» erzähle ich, wie der Protagonist seinen eigenen Suchschritt macht. Man bewegt sich besonders seltsam, wenn man schaut – aufschaut, also zum Himmel schaut, denn erst dann strukturiert und färbelt sich unten alles anders. Wer nicht aufschaut, findet keine Pilze, fürchte ich. Es ist ein schönes Abenteuer.
Welchen Pilz achten Sie am meisten?
Ha, Superlative! Bah. Man verachtet die Pilze manchmal, wie die Totentrompeten, von denen man sagt, sie seien hässlich. Schwarz, anthrazitfarben, mit schönen Tönungen im Schwarz-Grauen. Sie sind nicht zu verachten.
Die Totentrompete ist ein wunderbarer Speisepilz – man kann herrliche Toasts damit machen: mit Zwiebeln dünsten, mit Weisswein ablöschen, dann auf einen Toast legen und mit Käse im Ofen überbacken. Phantastisch.
Das ist mir ganz klar. Ich esse sie gerne, ich freue mich über sie. Die Pilze wandern auch, gerade die Totentrompeten. Ich kenne drei, vier Stellen im Wald, da wachsen sie. Drei, vier Jahre gedeihen sie, und dann wandern sie weiter, unter der Erde. Man weiss nicht, wohin. Oder die Semmelstoppelpilze, die gerade wachsen, auch sie sehr gute Speisepilze. Sie wandern. Die Pfifferlinge wachsen hier bis Mitte Januar, auch die Steinpilze. Ich finde sie beide wunderbar – wenn sie nicht zu viel sind. Der Mensch ist gierig, und anderseits ist er fast froh, wenn er nichts findet – von den schönen Sachen.
Wie bereiten Sie denn die Pilze zu?
Ich verschenke viele, an Nachbarn, an Freunde. Allein essen ist ja etwas Trauriges. Am liebsten mag ich die Steinpilze, roh, mit ein bisschen Olivenöl, Salz und Pfeffer. Den Franzosen fällt, wenn sie etwas von Pilzen hören, automatisch das Wort «Omelette» ein. Das ist wie ein stehender Ausdruck im hiesigen Wörterbuch der Gemeinplätze: Pilz – Omelette, Pilz – Omelette. Das ist jammerschade!
Der klassische Pilzsucher ist meiner Erfahrung nach nicht unbedingt jemand, der gerne teilt.
Die schönsten Gespräche gibt es mit Leuten, die Pilze suchen, die Pilznarren sind. Ältere Menschen, die man nicht kennt, erzählen wunderbare Geschichten. Die schönsten aller Friedensgespräche handeln von Pilzen. Manchmal trifft man eine ältere Dame im Wald, die da geht, die hat einen Steinpilz bei sich oder zwei, und die sieht einen, der man ebenfalls ein paar Pilze schon hat, und sie sagt: «So ist recht, jeder findet was.» Das ist wahrer Reichtum: Jeder findet etwas, jeder ist zufrieden mit dem, was er gefunden hat.
Das Pilzesuchen als neue Naturreligion?
Nein, natürlich nicht. Die Pilzesucher sind ja auch verlogene Typen. Wir verbergen, wo wir hingehen, weil wir niemanden wissen lassen wollen, wo wir unsere Plätze haben. Jeder tut so unschuldig, als hätte er sich gerade im Wald verirrt. Die Pilzesucher sind ein total verlogenes Gesindel.
Sie verschwinden fürs Leben gerne?
Sicher, ja. Und ich komme auch wieder gerne zurück in die Gemeinschaft. Am Abend in einer Bar zaubere ich manchmal einen Pilz aus der Manteltasche hervor, und die meisten Leute bekommen Angst – was ist denn das da? Aber mit einigen kommt man ins Gespräch, und das sind die wertvollsten Gespräche, die ich mir denken kann. Bah. Schon ein solcher Pilz ist viel, eigentlich ein Schatz. (Hält inne.) Ich wollte eigentlich immer ein Schatzfinder werden. Ich war immer sicher, dass ich das schaffe, aber ich wusste nicht, was die Schätze sein würden.
Der Schatz sind nicht die Pilze, es ist Ihr schriftstellerisches Werk. Sie haben es geschaffen, indem Sie nach etwas anderem gesucht haben.
Das stimmt vielleicht. Als Kind habe ich immer gedacht, dass der Schatz irgendwo da draussen liegen müsse, Gold, Perlen, Bergkristalle, Diamanten. Ich habe auch immer gedacht: Ich werde um die Ecke biegen, und dort wird es geschehen. Völlig verrückt. Stattdessen habe ich den Schatz in mir gefunden. Aber ich weiss bis heute nicht, woher er eigentlich kommt.
Einerseits haben heute wohl viele Menschen das Gefühl, zu verschwinden: Sie sehen sich als Rädchen in einer komplexen, undurchschaubaren Welt, ein Name oder eine Leerstelle, an die sich niemand erinnert. Anderseits hinterlassen wir ständig Datenspuren . . .
Da bin ich ein völliger Trottel. Stellen Sie mir keine Fragen hierzu, da kann ich nichts beitragen. Ich kann SMS schreiben, wobei, es ist ja kein Können. Aber darüber hinaus – da ist nichts.
Der Schriftsteller ist ein besonderes Distanzwesen: Er lebt in Entfernung zu sich, den anderen und der Welt. Ist das ebenfalls eine Art des beständigen Entschwindens?
Das ist wahr, ich lebe in der Distanz. Aber ich verliere die Distanz, oder ich gewinne die Distanzlosigkeit durch ein Gefühl von Brüderlichkeit, manchmal. Dann möchte ich, so wie Nietzsche das Pferd in Turin umarmt hat, den Nächsten umarmen, dem ich begegne. Aber eigentlich bin ich in dem Sinne gar kein Schriftsteller.
Was sind Sie dann?
Ich weiss nicht. Ich bin halt der, der ich bin, und ich bin es manchmal allzu sehr. Ich lasse mich in meinem Wie-Sein allzu sehr gehen. Mir fehlt der Rhythmus, die Musik, die Gleichmässigkeit der Teilnahme.
Das heisst, Sie sind ein impulsiver Mensch?
Ja, das bin ich. Ich bin ein reizbarer Mensch, manchmal. Denn ich sage mir: Man soll sich selber nicht definieren. Das sollen die anderen tun, auch wenn ich weiss, dass die Interpretationen der anderen noch dümmer sind als meine eigenen.
Sie haben immerhin den Vorteil, dass sie nicht von Ihnen stammen.
Gut gesagt. Damit kann man leben. Den Blödsinn der anderen kann ich besser ertragen als meinen eigenen. Deswegen gehe ich auch oft ins Kino, um mich abzulenken von meinem eigenen Blödsinn.
Das Papier dürfte in absehbarer Zeit verschwinden – das Papier der Zeitungen und der Bücher. Wäre dies für Sie ein grosser Verlust?
Ich würde das Papier hochhalten. Für mich geht’s nicht mehr so lange, aber ja, daran würde ich festhalten. Meinen Sie damit, dass auch das Lesen verschwindet?
Das Lesen verändert sich jedenfalls.
Wir werden heute Nachmittag nicht alle Probleme dieser Welt lösen können. Papier ist in meinem Fall für den Vorgang des Schreibens essenziell. Man kann natürlich auch auf Birkenrinde schreiben, ich glaube, Robert Walser hat das gemacht oder Eduard Mörike. Aber ohne Papier, ohne Papier kann ich mir eigentlich weder das Schreiben noch das Lesen vorstellen.
Lesen Sie noch täglich Zeitung?
Ja, schon. Sportzeitung, Lokalzeitung.
Und das Feuilleton?
Das ist schon länger vorbei. Es war eine Art Sucht, aber ich bin geheilt. Der Verlag schickt mir Texte zu, die mich betreffen, die lese ich natürlich. Aber sonst? Nein.
Die NZZ haben Sie in Ihrer Korrespondenz mit Siegfried Unseld zumeist gelobt. Sie nennen es ein Blatt, «das Sie immer gut begleitet hat».
Das stimmt.
Ihr Werk wird bleiben, die Rezensionen nicht unbedingt.
Ihr Wort in Gottes Ohr. (Lacht.) Ich habe eine grosse Achtung vor Leuten, die fein und ziseliert und strukturiert über Bücher schreiben. Das ist was Schönes. Es ist was Notwendiges. Ich bin immer mehr gut darauf gestimmt, dass es Wissenschafter gibt, die literarischen Fragen nachgehen. Das trägt zum Bleiben der Sache bei, also der Literatur.
Sie waren selbst mal Literaturkritiker . . .
. . . ich war mehr notgedrungen fürs Radio als Kritiker tätig, um ein bisschen Geld zu verdienen. Das hat mir keine Freude gemacht.
Sie können bekanntlich auch ziemlich harsch auf Literaturkritik reagieren. 1966 – vor einem halben Jahrhundert – haben Sie die Disziplin, die Sie gerade loben, mit folgenden Prädikaten beschrieben: unsensibel, unintelligent, verlogen, leichtfertig. Journalisten schreiben ja gewissermassen immer vom hohen Ross über die Leistung von anderen . . .
. . . wer sagt das?
Das habe ich jetzt mal so formuliert.
Hm. Stimmt. Aber dieses Dilemma werden wir heute nicht lösen. Literaturkritiker schreiben über andere, und das sollen sie auch. Das gehört dazu, das ist recht so, das muss so sein. Ich habe später für den «Spiegel» und «Die Zeit» ein paar Rezensionen geschrieben, einmal über das neue Buch einer Autorin, die hiess Karin Struck. Und das Buch trug den Titel «Klassenliebe», es war schmerzhaft-spannend zu sehen, wie man von den unteren Schichten in die Literatur hineinkommt, mit den Sätzen und dem Schreiben. Sie wurde ein Star und schrieb ein Buch mit dem Titel «Die Mutter», eine georg-büchnerische Lenz-Gebirgsdurchschreitungs-Affäre. Ich mochte die Karin Struck, aber ich habe dann den einzigen Verriss, wobei ein Verriss war’s ja nicht, eher eine Ablehnung, und eine sehr ernsthafte, ich habe also meine erste Ablehnung eines Buches in meiner Karriere verfasst. Das fiel mir damals sehr schwer. Ich bat den «Spiegel»-Redaktor, die Rezension nicht zu veröffentlichen, aber er hat’s dann trotzdem getan. Ich hab’s irgendwie bedauert. Es war mein einziger Verriss. Aber mündlich habe ich manchmal schon ordentlich losgelegt.
Was zählt, ist für Sie das Schriftliche?
Ja, das bleibt – im besten Fall. Es ist auf Papier gebannt.
Was halten Sie von neuen sprachpolitischen Ideen – zum Beispiel der Auflage, bei Personenbezeichnungen ein Binnen-I oder ein Sternchen zu benutzen, um alle Menschen zu inkludieren?
Scheusslich! Das ist doch keine Idee. Ich verstehe das nicht.
Wollen Sie es denn verstehen?
Nein. Das ist doch sinnlos.
Fehlt Ihnen die Geduld?
Ich bin sündhaft ungeduldig, frei nach Kafka.
Weil die Zeit knapp ist?
Nein. Das ist einfach ein Makel von mir. Es gibt furchtbar geduldige Menschen, die mich noch ungeduldiger machen. Diese Schafsgeduld!
Ich muss allerdings gestehen: Sie wirken sehr ruhig, ja geradezu beherrscht auf mich.
Der Eindruck rührt vielleicht daher, dass ich etwas müde bin.
Aber Sie schaffen jedenfalls Geduld. Denn nur wer Geduld hat, kann Ihre Bücher lesen.
Die Geduld ist ja nicht einfach da, und es hat auch keinen Sinn, sie zu fordern. Nein, man muss einfach lesen und sie dadurch, durch das Lesen, erzeugen. Die Sprache, die Geduld erzeugt, das ist die Sprache der Sprachen.
Im Briefwechsel mit Unseld geht es ständig um Umfänge, Auflagen, Vorschüsse, Honorare.
Das war damals noch wichtig, heute weniger.
Sind Sie auch ein Zahlenmensch?
Das gehörte zum Sport des jungen Menschen dazu. So war man halt. Das war was, in der Bestsellerliste zu stehen. Seit zwanzig Jahren, vielleicht weil ich feige geworden bin, will ich gar nicht mehr wissen, was verkauft wird. Mein lieber Lektor Raimund Fellinger hat mich erst gestern angerufen, um zu fragen, ob ich wissen wolle, wie viele Lizenzen durch den Nobelpreis neu vergeben worden seien. Ich sage nicht, dass es mich nicht mehr interessiert, aber es drängt mich nicht mehr, es zu wissen.
Sie schauen nicht mehr auf Bestsellerlisten? Das nehme ich Ihnen nicht ab.
Bah. Früher wurden Sie von Autoren dominiert, von Max Frisch, von Siegfried Lenz, und ich habe auch immer wieder dazugehört. Ich habe davon geträumt, an erster Stelle zu stehen, auch wenn es mir leider nie gelungen ist. Heute träume ich nicht mehr davon.
Brechen die Auflagen heute ein?
Hans Magnus Enzensberger hat es einmal gut gesagt: In einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland gibt es nicht mehr als 20 000, vielleicht 30 000 Leute, die wirklich lesen. So war das immer. Ich weiss noch genau, wie «Die Angst des Tormanns beim Elfmeter» oder «Die linkshändige Frau» grosse Auflagen von 100 000 Exemplaren erlebt haben. Das hatte damit zu tun, dass zum Beispiel das letztgenannte Buch in eine Diskussion des Feminismus hineingeriet, darum wurde es gekauft.
Betrübt Sie das?
Nein. So ist es halt. Die echten Leser sind selten, das habe ich immer gewusst. Aber jedes verkaufte Exemplar bringt Geld, man kann nach Venedig fahren oder sonst wohin. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Würde es Ihnen genügen zu wissen, dass Sie einen einzigen ernsthaften Leser haben?
Es ist schon gut, hier und dort einen zu haben, einen in Nürnberg, einen in Bayreuth, einen in Appenzell. Ich habe Glück gehabt im Leben.
Sie haben auch hart dafür geschuftet. Sie haben das Glück beim Schopf gepackt.
Eher umgekehrt: Das Glück hat mich beim Schopf gepackt.
In einem Brief, datiert vom 16. Mai 1983, schreiben Sie: «Ich zahle hier im Land (= Österreich) ungeheure Steuern, bei geringer Absetzbarkeit. Für 1981 wird mein Steuersatz über 60% liegen. Eigentlich bleibt mir so wenig, jedenfalls zu wenig, für die Sicherung einer nicht nur morgigen Zukunft.» Wie stehen Sie heute zur Fiskokratie – gerade in Frankreich?
Ich glaube, da war ich ein Arschloch, weil ich mich beklagt habe. Zu schnell wurde ich zu einem verwöhnten Typen. Mir ging es ja gut.
Sie haben sich geradezu obsessiv mit Steuerquoten befasst.
Ja, das tue ich immer noch. Ich zahle hier in Frankreich unglaublich viele Steuern. Es gibt den Begriff der Staatsreligion. In Frankreich ist er in einer besonderen Bedeutung zu verstehen: Der Staat ist die Religion. Anderseits ist es schon recht so, man muss ja Steuern zahlen, wenn man kann. Auch dieses Problem werden wir heute nicht lösen.
Wie wichtig ist Ihnen das gute Leben?
Was ist das gute Leben?
Nun ja, es sich gut gehen lassen, gut essen, gut trinken, eben Chardonnay, Cognac . . .
. . . ich trinke keinen Cognac. Ich gehe immer noch gut essen, aber nicht mehr in Sternelokale wie früher mit Peter Hamm, meinem verstorbenen Freund. Früher war ich da sportlich unterwegs, geradezu begierig nach Sternen. Heute tut’s auch was Einfaches, die Chinesin kocht gut oder der Inder hier in der Nähe. Heute war ich beim Kebap-Laden, den ein Kurde führt, und habe vom Lammspiess gegessen. Vorzüglich.
Was bedeutet Ihnen der Nobelpreis?
Der bedeutet mir allmählich schon was.
Warum?
Ich habe einfach gestaunt. Ich komme aus bestimmten Gründen nicht mehr infrage, und als der Mann aus Schweden mir das am Telefon gesagt hat, empfand ich einen grossen Frieden.
Einen Frieden?
Ja. Als ob da ein stilles, schönes, nicht ein dauerhaftes, aber doch ein vorläufig dauerhaftes Licht auf meine Bücher und Sachen scheint. Man weiss ja nicht, was heute von Dauer ist.
Höre ich aus Ihren Worten eine leise Trauer heraus?
Das nicht. Ich hoffe, mein Werk bleibt.
Aber der Nobelpreis hat, so scheint mir, nicht die Bedeutung, die Sie ihm zusprechen. Die meisten Nobelpreisträger für Literatur sind heute vergessen.
Das mag sein, ja.
Noch vor ein paar Jahren haben Sie gesagt, man könne den Nobelpreis doch abschaffen.
Stimmt.
Heute sagen Sie etwas anderes. Muss man da mit einem Handke-Zitat antworten: «Ich irre mich oft: zum Glück. Ich irre mich öfter und öfter: Fortschritt»?
Ich habe vielleicht einmal gesagt, es gebe einen falschen Kanon des Nobelpreises. Das ist das Problem, und das sehe ich noch immer so. Was ist mit der Minderheitenliteratur in Kärnten? Es gibt einen grossartigen Schriftsteller namens Florjan Lipuš, der auf Slowenisch schreibt. Das war die Sprache meiner Mutter. Lipuš schreibt eine unglaubliche Prosa, sie kommt aus einem Tagtraum und Schmerz und Rhythmus – und kommt er je infrage für die Verleihung des Nobelpreises? Wo bleibt die kleine Literatur?
Ist das Ihre grösste Sorge?
Ich will mich nicht ereifern. Aber das beschäftigt mich.
Ich stosse mich eher an der Satzung des Nobelpreises, die für heutige Ohren etwas seltsam klingt. Der Preis soll demnach demjenigen verliehen werden, «der in der Literatur das Herausragendste in idealistischer Richtung produziert hat». Ist Literatur denn Menschheitsbeglückung?
Mit dem Idealismus bin ich einverstanden, die Literatur hat dieses Element. Das Ideal ist Materie, vielleicht sogar die schönste Materie. Ich habe Ideale. Denn Ideale zu haben, das heisst ja, Lieben zu haben – nicht Vorlieben, sondern Lieben. Aber idealistisch? Alles Istische ist mir fremd. Das klingt schon seltsam.
Nach der Bekanntgabe des Nobelpreises haben Sie davon gesprochen, eine seltsame Art von Freiheit zu empfinden. Was genau meinten Sie damit?
Ich weiss nicht. Als ob es eine Freiheit gäbe in der Welt, die nicht nur meine ist. Ich war ganz ruhig.
Fühlen Sie sich nicht nur erleichtert, sondern fast schon erlöst?
Inzwischen nicht mehr. Aber für den Moment ja. Es war eine Art Erlösung.
Eine Erlösung wovon?
Ich weiss nicht.
Die Verleihung geht am 10. Dezember über die Bühne. Mit welcher Stimmung fahren Sie nach Stockholm?
Hm. Bah. Das kommt auf die Stunde des Tages an. Manchmal denke ich nicht daran, manchmal kommt es wieder hoch. Ich weiss es nicht.
Haben Sie Ihre Rede bereits verfasst?
Ja, die ist geschrieben, von Hand.
Mal schauen?
Ich will mich auch stellen. Es wird hoch hergehen. Ich bin nicht sicher, ob es der Literatur nützt.
Alles scheint schon gesagt und geschrieben, wieder gesagt und wieder geschrieben. Wollen Sie zum Schluss noch irgendetwas zur Diskussion um Ihre Texte zum früheren Jugoslawien beitragen – sagen wir: eine Art Schlusswort?
Ein Schlusswort? Hm. Bah. Vielleicht darf ich etwas sagen. Es gibt den Band zwei der Aufsätze der gesammelten Werke von mir, bei Suhrkamp erschienen. Er enthält alles, was ich zu Jugoslawien geschrieben und publiziert habe, formal, ästhetisch, ethisch. Ich würde mir wünschen, dass möglichst viele Menschen diesen Band läsen. Mir kommt vor, dass er Bestand haben wird. Ich würde mich freuen, wenn Leute, die das gelesen haben, mir widersprächen, aber so, wie der Widerspruch im griechischen Sinne stattfindet. Ich bin der Sophist, und der andere ist Platon oder Sokrates. Sagen wir es also so, und das wäre mein Schlusswort, wenn Sie erlauben: Ich warte auf meinen Sokrates in dem Sinne.
Peter Handke ist Schriftsteller und wohnt in Chaville zwischen Versailles und Paris. 2019 hat er – gleichzeitig mit Olga Tokarczuk für 2018 – den Nobelpreis für Literatur erhalten. Sein Werk erscheint bei Suhrkamp.