Kommentar

Lassen wir die Sprache menschlich sein

Bald reden die Rät*innen für deutsche Rechtschreibung wieder darüber, wie jedes Geschlecht gerecht in der Sprache abgebildet werden kann. Kritiker_innen monieren gern, dass die diversen Varianten und Zeichen das Deutsche verhunzten. Dabei ist etwas anderes viel gravierender: Der permanente Fokus aufs Geschlecht verformt unser Verständnis des Menschen.

Claudia Mäder
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Illustration: Peter Gut

Illustration: Peter Gut

Im Herbst 1888 wanderte Emilie Kempin-Spyri nach Amerika aus. Sie verliess ihre Heimat resigniert, denn das Bundesgericht hatte es der brillanten Schweizerin verwehrt, ein Schweizer wie jeder andere zu sein.

Dieser Satz klingt heute ein wenig seltsam oder, je nach Sensibilität, gleich völlig unkorrekt, doch er fasst das Bestreben der ersten Schweizer Juristin richtig zusammen. Kempin-Spyri hatte an der Universität Zürich Recht studiert, durfte danach aber nicht als Anwältin arbeiten, da dieser Beruf den Besitz des «Aktivbürgerrechts» voraussetzte. Aber wer sagte denn eigentlich, dass die Frauen dieses Recht nicht hatten? In der Bundesverfassung gab es keine spezifisch femininen Formen, an etlichen Stellen, so wies Kempin-Spyri nach, waren die weiblichen Schweizer ganz selbstverständlich in den generischen Bezeichnungen enthalten – natürlich durften sie wie die männlichen «Bürger» Vereine bilden, und natürlich mussten sie wie die «Schuldner» männlichen Geschlechts für gewisse Verfahren bereitstehen. Logischerweise hätte also auch Artikel 4 in diesem Sinne aufgefasst werden müssen: «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich», lautete der Passus, und Kempin-Spyri pochte auf ihn, um als Frau das Wahlrecht zugesprochen zu bekommen.

Den Bundesrichtern aber wollte diese glasklare Argumentation nicht einleuchten. Sie wiesen das Ansinnen 1887 zurück und klärten die Juristin über das gültige Verständnis von «Gleichheit» auf. Diese gelte nur innerhalb von «Personenklassen», die «innerlich» bereits gleich seien – nicht aber für solche, die, wie eben die Frauen, ganz andere «Thatbestände» darstellten. Die Formulierung mag bizarr wirken, aus historischer Perspektive indessen ist sie beinahe schon human zu nennen. Zuvor nämlich hatte die längste Zeit direkt zur Debatte gestanden, «Ob die Weiber Menschen seyn, oder nicht?» – das gleichnamige Buch aus dem Jahr 1595 wurde bis ins 18. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt.

Drama und Gehässigkeit

Inzwischen ist diese Frage vom Tisch – die Geschichte kennt gewisse Fortschritte. Doch die Richtungen, in die sie sich entwickelt, und die Schriften, die sie hervorbringt, machen immer wieder stutzig. 130 Jahre nach Kempin-Spyris vergeblicher Intervention ist die Frage nach der richtigen Bezeichnung der Geschlechter offenbar wichtiger denn je. Jedoch geht es heute nicht mehr darum, die korrekte Anwendung einer generischen Form wie «Schweizer» durchzusetzen. Nein, zu eruieren ist nun, wie jedes Geschlecht angemessen in der Sprache repräsentiert werden kann.

Das ist nicht so leicht zu bewerkstelligen – «Richtig gendern» heisst entsprechend ein Ratgeber, den der Duden-Verlag vor einem Jahr veröffentlicht hat. Soeben ist ein zweiter Band erschienen («Gendern?!»), und auch der Rat für deutsche Rechtschreibung wird sich nächstens wieder mit dem Thema befassen müssen: An seiner Sitzung vom 16. November wird er über «mögliche Empfehlungen» für staatliche Stellen beraten. Dies, nachdem die zuständige Arbeitsgruppe «Geschlechtergerechte Schreibung» im vergangenen Juni noch keine «eindeutige Tendenz» hat ausmachen können und Sonderzeichen wie Sterne (Schweizer*innen) oder Unterstriche (Lehrer_innen) bisher also keine Aufnahme ins Regelwerk gefunden haben.

Doch ob sie offiziell abgesegnet sind oder nicht: Geschlechtergerechte Schreibweisen lösen gewaltige Debatten aus, und dies nicht nur im deutschen Sprachraum. In Frankreich etwa wird seit einem Jahr über Formen einer «écriture inclusive» gestritten – nachdem ein Schulbuch mit Formen à la «agriculteur·rice·s» auf den Markt gekommen war, gingen die Wogen hoch, und die Académie française sah die französische Sprache bereits in «Todesgefahr». Das ist ein verhältnismässig erlesener Ausdruck, und lieber hört man so etwas als die bei uns geläufigen und gehässigen Vorwürfe von «Genderwahn» oder «Gaga-Sprache». Natürlich geizt auch die andere Seite nicht mit Drama, wenn sie ohne Unterlass über die Verheerungen der patriarchalen Machtstrukturen referiert, und die Emotionalität, mit der die Diskussion geführt wird, verhindert allzu häufig die nüchterne Betrachtung einer a priori durchaus berechtigten Frage: Was trägt die Ausgestaltung unserer Sprache dazu bei, die Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu fördern oder zu torpedieren?

Wie viel Kraft hat Sprache?

Nichts, kann man dann zuerst einmal aus einer streng linguistischen Perspektive sagen. Der Richter, der Radfahrer und der Zuhörer zum Beispiel sind keine Erscheinungen eines diskriminierenden maskulinen Systems, sie sind grammatische Formen einer weitgehend arbiträr entstandenen sprachlichen Struktur. Während etwa Jacob Grimm noch meinte, dass das grammatische Genus eines Wortes (der Baum: maskulin) auf einer unterstellten Geschlechtlichkeit des bezeichneten Dings (Baum: stark, beständig) beruhe, nimmt man heute an, dass das nicht stimmt. Für die Zuordnung zur einen oder anderen Art (denn nichts anderes heisst Genus ja primär) sind vermutlich Kriterien der Quantifizierbarkeit ausschlaggebend gewesen – Wörter mit maskulinem Genus waren zählbar (der Baum), Feminina waren es nicht (die Freiheit). Die Endung -er sodann, die gemeinhin im Zentrum der Kritik steht, war innerhalb dieses Sprachsystems vorerst nichts anderes als eine Markierung, die ein Verb in ein Substantiv überführte, also aus einem Menschen, der zuhörte, einen menschlichen Zuhörer machte.

Nun existiert die Sprache nicht unabhängig von ihrem Gebrauch: Selbstverständlich denken wir bei unzähligen eigentlich generischen -er-Formen primär an Männer. Aber die Tatsache, dass uns das Wort Richter spontan an einen älteren Herrn und nicht an eine junge Frau denken lässt, können wir schlecht der Sprache anlasten – es war das in Handlungen übersetzte Denken unserer Gesellschaften, das diese sprachlich neutrale Position bis in die jüngste Zeit ausschliesslich mit Männern besetzte. Anders gesagt: Emilie Kempin-Spyri blieb das Anwaltspatent nicht wegen der fehlenden weiblichen Sprachform verwehrt, sondern weil sie in einer sozialen Realität lebte, in der die Frau nicht zur Gemeinschaft der vernunftbegabten Menschen gehörte.

Wenn nun die Ungleichheiten in gesellschaftlichen Strukturen und verbreiteten Denkmustern wurzeln – ist die Sprache dann nicht hervorragend geeignet, diese Gefüge zu verändern? Diese Vorstellung ist sehr en vogue, schliesslich zeigt sie sich heute auch überall dort, wo Ausdrücke aus dem Sprachgebrauch entfernt werden – offenbar in der Annahme, dass mit den geschmähten Wörtern auch das zugehörige Denken aus den Köpfen verschwände. Analog gehen die Verfechter der geschlechtergerechten Sprache davon aus, dass der vermehrte Einsatz weiblicher Formen die Frauen auch im Alltag präsenter machte. Egal aber, ob man mithilfe der Sprache Dinge aus der Welt entfernen oder in sie einfügen will: Man überfordert damit ihre Kraft. Und übergeht überdies die Empirie: Auf der Welt gibt es Sprachen, die 20 Genusklassen kennen, und andere, die gar kein Genussystem führen, etwa das Ungarische oder das Türkische – aber wie sehr sich die grammatischen Formen auch unterscheiden, die gesellschaftlichen Stereotype sind fast überall die gleichen, und auch die Ungarn denken sich den Richter zuerst männlich.

Das Geschlecht wird omnipräsent

Nützen sie nichts, so schaden sie wohl auch nicht, könnte man nun sagen und die diversen geschlechtergerechten Zeichen und Schreibungen einfach hinnehmen. Nein, denn sie verhunzen die Sprache! Das wird immer wieder mit Entsetzen vorgebracht – und leider wird über dieses wenig relevante ästhetische Anliegen mehr diskutiert als über einen grundlegenden inhaltlichen Einwand. Denn eine Schreibung wie Student*innen ist keine skurrile Schnörkelei, sondern ein ernsthaftes Problem: Sie verformt unser Verständnis des allgemein Menschlichen und holt das Geschlecht mit Wucht zurück in einen Raum, in dem es nichts mehr verloren hat.

Es ist unmöglich, beim Wort Student*innen nicht sofort an die Verschiedenheit der offenbar beteiligten Geschlechter zu denken. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen diese Informationen von Belang sind – im privaten Austausch kann einen die geschlechtliche Orientierung eines Menschen durchaus interessieren und berühren, und in der direkten Adressierung von konkreten Personen sind fraglos die ihren Geschlechtern entsprechenden sprachlichen Formen zu wählen. Im übergeordneten öffentlichen Leben aber ist das Geschlecht doch endlich wirkungslos geworden: Nach schier unendlich langem Ringen haben wir allmählich jene Systeme überwunden, die aus permanenten Referenzen auf die Geschlechter irgendwelche «Thatbestände» konstruierten und die Unterschiede zwischen den Menschen betonten, um ihre umfassende Ungleichheit zu begründen.

In einer Struktur dagegen, in der alle Menschen mit gleichen Rechten leben, ist der Hinweis aufs Geschlecht in vielen Fällen völlig überflüssig. Es ist weder nötig noch wünschenswert, dass Bestimmungen, die die Masse der radelnden Menschen betreffen, von Velofahrern und Velofahrerinnen reden – die Zeiten, in denen das weibliche Geschlecht nicht aufs Rad durfte und also als sensationelle Besonderheit neben dem generischen Ausdruck hätte erwähnt werden müssen, sind zum Glück vorbei. Umgekehrt muss uns als Bürger auch nicht interessieren, ob eine_r unserer Richter*innen eine fluide Geschlechteridentität besitzt – denn diese private Angelegenheit hat mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes nichts zu tun.

Oder etwa doch? Es gibt auch heute Leute, die darauf beharren, dass das Geschlecht das Verhalten eines jeden Menschen bestimmt. Sie siedeln üblicherweise nicht am gleichen Ende des Politspektrums wie die Verfechter der gendergerechten Sprache, ziehen gerne die Biologie heran und stellen Vergleiche zu Hummern oder Pfauen an, um zu erklären, warum sich auch Menschenmännchen und -weibchen in ihrem Gebaren und Streben fundamental unterscheiden. Dem Geschlecht wäre demnach nicht zu entkommen. Gewiss möchte die gendergerechte Sprache im Prinzip das Gegenteil dieses Glaubens ausdrücken. Aber indem sie jedes Geschlecht bei jeder Gelegenheit separat erwähnt, unterstellt sie ihm eine dominante Relevanz und bietet einem fragmentierten und auf gesonderte Identitäten fixierten Denken die perfekte Form.

Dabei verfügte unsere Sprache über eine Form, die die Menschen als Gattung vereint. Wir sollten, wie Emilie Kempin-Spyri, wieder mutig auf sie pochen und uns trauen, sie ohne schlechtes Gewissen zu benutzen.