Italien ist die neue Avantgarde des Paternalismus: wie die neue Regierung eine liberale Idee in ihr Gegenteil verkehrt

Die italienische Regierung führt 2019 ein Minimaleinkommen ein. Der Haken dabei: Wer sein Geld unethisch ausgibt, dem wird es wieder entzogen. Und wie sich denken lässt, entscheidet Vater Staat, was seinen Kindern frommt.

Damiano Cantone
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Wenn die Väter sagen, wo es langgeht: Caltanissetta, Sizilien, 1963. (Bild: Bruno Barbey / Magnum)

Wenn die Väter sagen, wo es langgeht: Caltanissetta, Sizilien, 1963. (Bild: Bruno Barbey / Magnum)

Die Italiener mögen’s lieber heiss als kalt. Und die kalte Zeit, die kommt erst noch. Viele werden darben und einige zweifellos mehr als andere. Aber die harte Zeit wird vorübergehen, und wie es aussieht, gilt dies auch für jene, die nicht nur in den Wintermonaten hart zu beissen haben. 2019 öffnet die italienische Regierung den Staatsschatz und führt ein Grundeinkommen ein, so wie es das Movimento Cinque Stelle einst versprochen hat. Bei 780 Euro liegt die Grenze – wer im Monat weniger (oder nichts) verdient, Arbeitswillen zeigt und über kein nennenswertes Eigentum verfügt, bekommt also künftig Geld vom Staat. Wir nennen es «Bürgergeld», obwohl es eigentlich Minimaleinkommen heissen sollte, weil es ja nicht alle bekommen.

Amtierende Politiker verkaufen das Vorhaben als revolutionäre Idee, was natürlich nicht stimmt. De facto handelt es sich um ein garantiertes (wenn auch nicht bedingungsloses) Grundeinkommen, das andere europäische Länder längst kennen, zum Beispiel die Schweiz mit ihrer im internationalen Vergleich grosszügig bemessenen Sozialhilfe. Die Idee eines Mindesteinkommens kann man begrüssen oder ablehnen, interessant ist, was die Italiener gerade daraus machen. Hier stellt sich nämlich wirklich die Frage, ob sie wieder einmal Vorreiter sind – die in die falsche Richtung galoppieren. Denn im Detail steckt diesmal tatsächlich der Teufel – oder besser: Vater Staat.

Die höchste Moralinstanz

Die neue Regierung, in der auch Vertreter der rechtskonservativen Lega sitzen, hat das Mindesteinkommen unter einer klaren Prämisse lanciert: dass damit keine «unmoralischen Ausgaben» getätigt werden. Die Begünstigten erhalten eine Art Kreditkarte bzw. eine App – beide Systeme zeichnen haargenau nach, wofür der Batzen ausgegeben wird. Wenn sich herausstellen sollte, dass jemand sein Geld für anrüchige Produkte oder Dienstleistungen verwendet – nun, dann wird dieser jemand zur Rechenschaft gezogen: Er oder sie verliert den Anspruch auf das Bürgergeld.

Was hat denn als unmoralisch zu gelten? Natürlich Zigaretten, Glücksspiel, TV-Gebühren, Videospiele. Auch Alkohol könnte dazu gehören, Pornografie, Prostitution und überhaupt jeder Online-Kauf, von dem ja zumeist auch ausländische Firmen profitieren. Wie sich denken lässt, dürften die Italiener Wege finden, die Spuren ihrer Geldflüsse zu verwischen – in solchen Dingen sind wir schliesslich Spitzenklasse. Das gewichtigere Problem ist damit aber noch nicht gelöst, und eine Frage bleibt offen: Welche moralische Rolle soll der Staat im Leben und bei den persönlichen Entscheidungen seiner Bürger spielen?

Es wäre leicht gewesen, die Geldverteilung anders zu organisieren. Die Regierung hätte bedürftigen Personen Lebensmittel- oder Mietgutscheine verteilen können – in diesem Fall würde sich der Staat nicht zur obersten Moralinstanz erheben. Doch diese Idee stand nie zur Debatte. Legitim ist nicht, was legal ist; legitim ist, was ethisch ist; und was ethisch ist, definiert in Italien künftig Vater Staat.

Die Bürger? Kinder!

Dass der Staat ein Auge darauf wirft, was die Bürger mit ihrem Geld anstellen, wird nicht alle kümmern. Einigen dürfte es gar vernünftig scheinen, weil er wie ein strenger, aber wohlwollender Vater agiert, der seinen Kindern auf die Finger schaut. Schliesslich stammt das Geld, das er verteilt, von anderen Bürgern. Und genau das ist der Punkt.

Die Regierung tut so, als würde das Geld ihr gehören und nicht den Bürgern, die die Steuern mit ihrem sauer verdienten Geld berappen. Zudem setzt sich der Staat als jene Instanz in Szene, die besser als die Bürger weiss, was ihnen frommt – die Infantilisierung der Gesellschaft, die Silvio Berlusconi einst einleitete, nimmt in Italien die nächste Stufe. Führt sich das Kindlein schlecht auf – nun ja, dann stutzen wir ihm eben die Zuwendungen! So lernt es etwas.

Diese Haltung, die der Staat gegenüber Untertanen einnimmt, hat einen Namen: Paternalismus. Sie beruht auf der Annahme, der Mensch sei ein schwaches, verletzliches Wesen mit beschränkter Rationalität, das der Unbill der Welt schutzlos ausgeliefert sei. Dieses Wesen bedarf eines Begleiters, der ihm zeigt, wo es langgeht und wie zwischen Gut und Böse zu unterscheiden ist.

Der Paternalismus gehörte zur Herrschaftsform des Ancien Régime. Georg Wilhelm Friedrich Hegel brachte diese Auffassung auf den Punkt, als er schrieb: «Der Staat fasst die Gesellschaft nicht nur unter rechtlichen Verhältnissen, sondern vermittelt als ein wahrhaft höheres moralisches Gemeinwesen die Einigkeit in Sitten, Bildung und allgemeiner Denk- und Handlungsweise.» Was schon im 19. Jahrhundert veraltet war, versucht also die neue, mutmasslich reformerische Regierung in Italien im 21. Jahrhundert wiederzubeleben.

Luigi Di Maio, Arbeitsminister und Aushängeschild des Movimento Cinque Stelle, müsste hier eigentlich kurz innehalten – hat sich das Movimento, das sich als digitale Avantgarde begreift, nicht die Demokratisierung von allem und jedem auf die Fahnen geschrieben? Und war es nicht ebendieses Movimento, das empfahl, ein starkes Misstrauen gegenüber allen Formen institutionalisierter Politik zu hegen, weil da am Ende stets ein paar wenige (statt die vielen) entscheiden? Und nun will ausgerechnet Di Maio als Protagonist eines neomoralischen italienischen Paternalismus in die Geschichtsbücher eingehen? Italien hält für alle Überraschungen bereit – auch für die Italiener selber. Auf eine solche Wendung hätte noch vor ein paar Monaten niemand gewettet.

Perversion der liberalen Intention

Das Motto von Di Maios Bewegung war «uno vale uno», also sinngemäss: «Jeder gilt gleich viel.» Wer die Überzeugung vertritt, dass jene Leute, die von einem Mindesteinkommen profitieren, ihre ureigenen Bedürfnisse und Interessen nicht kennen, verletzt diese Regel. Politiker gelten mehr, und sie sollen für die armen Bürger entscheiden. Der Bürger ist kein mündiger Mensch, der Bürger ist ein Mündel.

Der Fehler besteht wohlgemerkt nicht im Konzept des Mindesteinkommens an sich, sondern darin, das Mindesteinkommen an einen paternalistischen Staat zu koppeln. Die Idee wurde ja von liberalen Vordenkern im 20. Jahrhundert als Alternative zum real existierenden Sozialstaat ins Spiel gebracht, von Milton Friedman und Friedrich August von Hayek. Von Hayek beschrieb sie bereits 1944 in seinem Klassiker «Der Weg zur Knechtschaft» und doppelte gut drei Jahrzehnte später in «Recht, Gesetz und Freiheit» nach: «Es gibt keinen Grund, warum in einer freien Gesellschaft der Staat nicht jedermann Schutz vor schweren Entbehrungen bieten soll: in Form eines garantierten Mindesteinkommens oder eines Minimums, unter das hinunter niemand zu geraten braucht.»

Doch diese liberale Grundintention zielte in eine andere Richtung als die italienische: Das Mindesteinkommen sollte die Menschen vor dem Zugriff des Staates schützen und ihre besten Kräfte befreien. Stattdessen baut das Movimento Cinque Stelle, das angetreten ist, den italienischen Staat zu reformieren, dessen Einflusssphäre bloss aus. Und die Italiener lernen: Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.

Damiano Cantone ist Philosoph und lehrt u. a. an der Universität Triest. Aus dem Italienischen übersetzt von rs.