Wer Nachrichten verbreitet, will etwas erreichen. Hinter jedem Text, jedem Bild lauert ein Versuch, Menschen zu beeinflussen. Dagegen gibt es nur ein Mittel: Erst einmal gar nichts glauben.
Neapel, April 1440: Die Obstbäume blühen, der Vesuv gibt Ruhe – dessen kann sich der Humanist Lorenzo Valla, als Latinist und Philosoph gleichermassen innovativ und kämpferisch, beim Blick aus seinem Arbeitszimmer vergewissern. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Text, mit dem die Päpste seit einem guten halben Jahrtausend ihre umfassende Führungsstellung in der Christenheit einfordern: die sogenannte Konstantinische Schenkung.
Angeblich geht alles auf eine Wunderheilung zurück, die Silvester I., seines Zeichens Bischof von Rom, am leprakranken Kaiser Konstantin vorgenommen hat. Dieser war vom Aussatz befallen, weil er sein vor der alles entscheidenden Schlacht an der Milvischen Brücke am 28. Oktober 312 gemachtes Versprechen, im Falle göttlicher Unterstützung Christ zu werden und der Kirche Dank abzustatten, nicht erfüllt hatte. Das tut er jetzt, nach seiner mirakulösen Genesung, reichlich, sofern man der darüber ausgestellten Urkunde glaubt.
Solch ein Honorar hat noch nie ein Arzt eingestrichen: Dem Papst gebührt von jetzt an die Hoheit über das gesamte Imperium, der direkte Zugriff auf dessen westliche Hälfte sowie die Stadt Rom als Herrschaftssitz; der Kaiser zieht sich demütig in den Osten zurück, wo er am Bosporus eine neue Hauptstadt zweiten Ranges, Konstantinopel (heute: Istanbul), gründet und fortan als treuer Diener seines geistlichen Herrn zu schalten und zu walten hat.
Valla geht den Text Wort für Wort durch. Er kommt aus dem Staunen nicht heraus – und aus der Wut auch nicht: Wie hatte man dieses miserabel gefälschte Machwerk jemals für echt halten können? Da ist von einem «Diadem» die Rede, das der kniefällige Imperator dem Papst als Symbol von dessen höchster Macht überreicht – ein solches Herrschaftszeichen gab es im 4. Jahrhundert nicht; auch wurden die Bischöfe von Rom damals noch nicht als «papa» tituliert, von zahlreichen weiteren ungebräuchlichen Institutionen, Vokabeln und Satzkonstruktionen ganz zu schweigen. So lautet Vallas Fazit: ein Fake, Jahrhunderte später entstanden, als sich die Kenntnis des antiken Lateins längst verflüchtigt hatte. Sein Zweck: dem Papst eine Macht zuzuschreiben, die ihm nicht gebührt.
Die Methoden, deren sich Valla bediente, sind von zeitloser Aktualität, ja heute im Zeichen der «shitstorms» angesagter denn je: Ist die Sprache der Nachricht authentisch? Wird ihre Aussage von weiteren Zeugnissen gestützt? Bietet sie über die reinen Behauptungen hinaus handfeste Belege? Hat sie ein Echo in anderen Quellen gefunden, also: Debatten ausgelöst, Widerspruch oder Zustimmung erregt? Und schliesslich stellt sich die Frage nach dem Zeitzusammenhang: Cui bono, wem nützt, wem schadet ihre Aussage?
In welche politischen, sozialen, kulturellen Strömungen, Tendenzen, Trends fügt sie sich ein, in welcher Tradition oder Nachfolge steht sie, aus welcher ideologischen Richtung kommt sie? Mit welchen Sanktionen belegt sie denjenigen, der sie bestreitet? Wer hat ein Interesse an ihrer Verbreitung? Alle Antworten auf alle diese Fragen führten Valla nach Rom, in dem die Päpste, lange nach dem Untergang des Imperiums, immer ausgeprägtere Herrschaftsgelüste entwickelten. Vallas Diagnose wurde von der späteren Forschung bestätigt, sie hat die Konstantinische Schenkung fast einhellig auf das späte 8. Jahrhundert datiert.
Warum werden Fake-Nachrichten geglaubt? Weil sie in das Bild passen, das man sich schon immer gemacht hat, weil sie vorgefasste Meinungen, innig internalisierte Ideologien zu bestätigen scheinen. Wenn das alles zusammenkommt, kann die Kraft der Verleumdung quasi für die Ewigkeit sein. So zeichnete der römische Historiker Cornelius Tacitus um 100 n. Chr. ein abschreckendes Bild des sechs Jahrzehnte zuvor verstorbenen Kaisers Tiberius; er stellte den Nachfolger des Augustus als mörderischen Lustgreis dar, der die letzten überlebenden Vertreter republikanischer Freiheitstugenden systematisch durch List und Tücke ausrottet und nur noch servile Hofschranzen um sich duldet, um schliesslich auch diese mit ausgeklügeltem sadistischem Raffinement zu eliminieren.
Das fügte sich so wunderbar zum Bild des Tyrannen, dass erst Ende des 19. Jahrhunderts Zweifel aufkamen, die sich allerdings schnell verdichteten und in eine regelrechte Rehabilitierung mündeten: Tacitus erlebte die Herrschaft «seines» Kaisers Domitian als Despotie und projizierte dieses Trauma, zusammen mit seiner republikanischen Gesinnung, auf dessen Vorläufer. So klingt es heute plausibel.
Ebenso häufig wie eine neue Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit erzeugt historische Quellenkritik, wenn sie richtig angewendet ist, begründete Zweifel. Ja, darin liegt sogar ihr hauptsächlicher Nutzen und Vorteil für alle Lebenslagen. Ein ehemaliger Präsident veröffentlicht seine Memoiren, verspricht zusammen mit seinem Verleger, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit über seine Regierungszeit aufzuzeigen, und ein Millionenpublikum glaubt es – unglaublich, aber wahr.
Dabei ist die Gattung Autobiografie die verdächtigste überhaupt und daher bei ihrer Lektüre allerhöchste Vorsicht am Platz. Menschen, die über sich selbst sprechen und schreiben, betrügen sich selbst und die anderen – so lautete die scharfsinnige Diagnose des Genfer Reformators Jean Calvin bereits vor einem halben Jahrtausend. An deren Richtigkeit hat sich nichts geändert, nur kann man es etwas differenzierter und zugleich schonender ausdrücken: Menschen, die über sich selbst schreiben, wollen so und nicht anders gesehen werden, wollen ein dauerhaftes Bild von sich lancieren, mit diesen ganz speziellen Umrissen in die Erinnerung eingehen – und so weiter.
Jeder, der schreibt, und zwar nicht nur über sich, inszeniert sich, und zwar oft so geschickt, dass er selbst daran glaubt. Mit anderen Worten: In keinem Quellenzeugnis der Gegenwart oder der Vergangenheit finden wir den «wahren» oder gar den «inneren» Menschen, der uns so oft versprochen wird, weder bei Martin Luther noch bei Bill Clinton oder Michelle Hunziker, sondern immer nur ein Image und einen Selbstentwurf. Das ist kein Nachteil, sondern macht es nur noch spannender, denn jetzt beginnt die Arbeit der kritischen Überprüfung – was wird wie und warum eingefärbt, was wird damit bezweckt?
Authentizität ist also das Fake-Wort der Gegenwart schlechthin, es wird in jedem Exklusivinterview beschworen und in jedem Instagram-Posting angerufen; dabei genügt schon die Gegenwart einer Kamera, ob angeblich verborgen oder nicht, um den Schein der Unmittelbarkeit und Echtheit zu hinterfragen. Das gilt auch für angeblich historische Ereignisse, wenn sie in bewegten Bildern festgehalten sind – der revolutionäre Sturm auf das Winterpalais der Zaren während der Oktoberrevolution hat bekanntlich nie stattgefunden, sondern wurde nachträglich zu «dokumentarischen Zwecken» nachgestellt, was seiner Glaubwürdigkeit keineswegs geschadet hat.
Das Studium der Geschichte ist eine systematische Anleitung dazu, erst einmal gar nichts zu glauben. Jeder Text, der mehr ist als eine Gebrauchsanweisung für eine Digitalkamera, ist ein Versuch, die Lesenden zu beeinflussen, in eine bestimmte Richtung zu lenken, Überzeugungsarbeit zu leisten, Handlungen hervorzurufen. Daraus folgt bei richtiger Anwendung keine Schizophrenie und kein Verfolgungswahn, sondern ein gesundes Misstrauen, das sich als umfassende Skepsis gegenüber allen Produkten des vergangenen und des gegenwärtigen Meinungsmarktes definieren lässt.
Am schönsten hat das der empirische Menschenforscher Michel de Montaigne um 1580 zusammengefasst: Die wahre Philosophie ist eine Philosophie des Staunens, das in allseitigen Zweifel mündet, der sich wiederum als Anleitung zum Leben bewährt. Montaigne hat diesen Zweifel auf den damals grassierenden Hexenwahn angewendet: Es gibt Hexen; das müssen wir glauben, weil es die Bibel sagt. Aber dem Menschen ist es nicht gegeben, diese aus höheren Sphären bezeugte Wahrheit auf andere Menschen anzuwenden, mit anderen Worten: Hexen als solche zu identifizieren oder gar zu verurteilen.
Auch für die Juristen hatte der kluge Menschenbeobachter Montaigne einen bis heute aktuellen Ratschlag parat. Sie sollten es wie der Athener Areopag halten, nämlich in besonders schwierigen Fällen nicht urteilen, sondern die beteiligten Parteien auffordern, in hundert Jahren wieder vor den Schranken dieses höchsten Gerichts zu erscheinen.
Volker Reinhardt ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg i. Ü. Soeben ist bei C. H. Beck sein neues Buch «Leonardo da Vinci. Das Auge der Welt» (hier bestellbar*) erschienen.
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