Als anarchisches Produkt des Jazz-Age begann 1928 in New York ihr Siegeszug um die Welt. Sie entwickelte sich zu einem gleichermassen geliebten wie oft verunglimpften Symbol Amerikas. Mickey Mouse feiert ihren 90. Geburtstag.
Geboren wurde das Tier in Los Angeles. Aber das Licht der Welt erblickte es in New York. Damit der Ungereimtheiten nicht genug. Sagt man eigentlich sie oder er? Mickey, die Maus, feiert den 90. Geburtstag. An Legenden um die Mauswerdung mangelt es nicht. In einer Garage in Kalifornien (nehmen eigentlich alle amerikanischen Erfolgsgeschichten dort ihren Anfang?) hob ein junger Walt Disney – ja, was denn aus der Wiege? Ein Kaninchen namens Oswald the Lucky Rabbit. Der Nager hatte frappierende Ähnlichkeit mit seinem späteren Nachfolger, allein die Ohren waren länger. Oswald machte 1927 Karriere beim Film, doch dann überwarf sich sein Vater mit den mächtigen Universal Studios, die das Kaninchen vereinnahmen wollten. Und so erdachte Walt Disney, in Partnerschaft mit dem Zeichner Ub Iwerks, ein anderes Tier: Mortimer, die Maus. Mortimer? Moment, sagte da Lillian Disney, des Schöpfers Frau: ein viel zu blasierter Name. Michael soll er heissen, kurz Mickey.
Im Leben dieser Maus spiegelt sich die amerikanische Zeit- und Sittengeschichte des 20. Jahrhunderts. Den verschiedenen Epochen hat sich die Figur immer wieder angepasst, auch auf Kosten ihrer Identität. Mit einer Filmpremiere im Colony Theatre am Broadway begann am 18. November 1928 Mickeys Siegeszug um die Welt – am Steuerrad eines Dampfschiffs. «Steamboat Willie» heisst der legendäre Kurzfilm, dessen Hauptmotiv – Mickey führt pfeifend das Schiff – bis heute den Vorspann aller Disney-Filme ziert. Es ist ein Werk von funkensprühenden zeichnerischen Einfällen – und mit Musik, welche hier erstmals in einem Animationsfilm zum Einsatz kam. Das war damals eine Sensation. Die Zügellosigkeit des Jazz-Age hat ihn geprägt: Der freche Mäuserich, damals noch mit anarchischen Zügen ausgestattet, erlaubt es sich, nicht mit, sondern auf den Tieren zu musizieren, die an Bord des Schiffes sind: eine Gans wird zur Posaune, eine Ziege zum Leierkasten, eine Kuh zum Xylofon – zu Zeiten politisch unkorrekten Slapsticks war derlei grober Spass noch möglich. Frivol war's auch, konnte man Mickeys Angebeteter Minnie Mouse doch unter den Rock schauen. Shocking!
«It was all started by a mouse», sollte Walt Disney später über die Anfänge des von ihm gegründeten Unterhaltungsimperiums sagen. Mickeys Debüt vor neunzig Jahren war von durchschlagendem Erfolg und verhalf auch bereits früher entstandenen, zuvor noch unpublizierten Werken auf die Leinwände. So etwa dem witzigen Kleinod «Plane Crazy», einer liebevollen Parodie auf den Flugpionier Charles Lindbergh, hier personifiziert als Mäuserich. Bald lernte Mickey auch sprechen; mit der Stimme seines Schöpfers höchstpersönlich waren seine ersten Worte: «Hot Dogs!» im Film «The Karnival Kid» (1929). Und dann, 1935, erschien der musikalische Nager erstmals in Farbe, im neunminütigen Film «The Band Concert». Einen künstlerischen Höhepunkt erlebte Mickey im Film «Fantasia» (1940), der zunächst floppte, aber später Kritikerlob einheimste, besonders für die berühmte Episode «The Sorcerer's Apprentice», frei nach Goethes Ballade «Der Zauberlehrling».
Mickey sollte sich im Laufe seines Lebens immer wieder wandeln – und wurde mithin zu einem Indikator des sich gleichermassen verändernden American Way of Life. Einem ersten, gravierenden Test seiner Eignung zum Nationalsymbol musste sich Mickey in den dreissiger Jahren unterziehen und sich solchen Fans stellen, die durchaus unerwünscht waren – oder vielleicht doch nicht? Es ist bekannt, dass Adolf Hitler eine Schwäche für Disneys Zeichentrickfilme hatte. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels notierte 1937 in sein Tagebuch: «Ich schenke dem Führer zwölf Micky-Maus-Filme zu Weihnachten! Er freut sich darüber. Ist ganz glücklich über diesen Schatz.» Bis heute ist Gegenstand kontroverser Debatten, inwieweit Walt Disney die Verehrung – zumindest anfänglich – möglicherweise erwiderte, wurde er doch häufig rassistischer Tendenzen geziehen und sogar einer Mitgliedschaft im «German American Volksbund» verdächtigt.
1943 aber distanzierte sich Disney in aller Deutlichkeit – mit dem patriotischen Anti-Nazi-Propagandafilm «Der Fuehrer's Face». Nicht Mickey Mouse, sondern Donald Duck erlebt in dem kruden Werk einen schlimmen Albtraum als Arbeiter in einer deutschen Munitionsfabrik (mit Anleihen bei Chaplins «Modern Times»), der seiner Tätigkeit nicht nachzukommen weiss, da er ständig den Hitlergruss zeigen muss. Schweissgebadet wacht Donald auf und erkennt, dass der gereckte Arm, den er im Schlaf sah, tatsächlich jener einer kleinen Reproduktion der Freiheitsstatue neben seinem Bett ist.
Der Pop-Art-Künstler Keith Haring, dem sich eine bekannte Darstellung der Maus verdankt, nannte Mickey «a symbol of America», und als solches ist die Figur häufig zu Ehre (und auch Unehre) gekommen. So benutzten etwa die alliierten Truppen 1944 bei ihrer Landung in der Normandie das Codewort «Mickey». Entsprechend wandelten sich die Rollen im Disney-Universum: Donald Duck übernahm jene des unangepassten Underdogs, während Mickey seine Laster ablegen musste.
War Mickey in den frühen dreissiger Jahren noch als hemmungsloser Schlawiner in Erscheinung getreten, so wurde er, parallel zu seiner Karriere als Markenbotschafter des Disney-Konzerns, im Laufe der Zeit zum Musterbürger, das Rechtschaffene befördernd, die Polizei (in der Figur des Kommissar Hunter) bei ihrer Arbeit unterstützend. Es bildete sich darin die Biederkeit der fünfziger Jahre ab – eine Anpassung, die Mickey in die nächste schwere Identitätskrise führte. Denn in der folgenden Dekade wurde die Maus im Zuge der Hippie-Bewegung als Spiesser verunglimpft. Der Berliner Comic-Autor Gerhard Seyfried sagt, «Mickey war für uns ein Spitzel, eine Law-and-Order-Figur, die hilft, den ‹Comic Moral Code› wiederherzustellen». In seinem gemeinsam mit der Zeichnerin Ziska entstandenen Comic «Future Subjunkies» tritt Mickey, dieses Image radikal konterkarierend, als übergrosse, blutrünstige Bestie auf.
Mit Mickeys charakterlichem Wandel ging ein solcher des Äusserlichen einher. Der grobe Strich verfeinerte sich, das Gesicht wurde runder, die zunächst nur schwarzen Ovale der Augen bekamen Pupillen, um die Maus freundlicher erscheinen zu lassen; sie bekam weisse Handschuhe angezogen – und lange Hosen statt der ursprünglichen Shorts, der Sittlichkeit halber.
Comic-Hefte mit der Maus sind all die Jahrzehnte nie ausser Druck gewesen, mit der Filmkarriere aber ging es sukzessive bergab. Nach 1953 war Mickey dreissig Jahre lang nicht auf der Leinwand zu sehen, bis zu «Mickey's Christmas Carol» von 1983 und einem Cameo-Auftritt in Robert Zemeckis' Film «Who Framed Roger Rabbit» (1988). Die sich darin abbildende zunehmende Ironisierung der Pop-Kultur wollte zu jener seriösen Maus, zu der Mickey geworden war, nicht recht passen. Der Imageverlust wurde noch verstärkt durch eine sprachliche Abwertung, entwickelte sich doch der Ausdruck «Mickey-Mousing» zu einem Synonym für Verkitschung und Trivialisierung.
Heute versucht sich auch Mickey in Ironie und sucht schalkhaft Anschluss an die Gegenwart. Im jüngsten Comic-Heft kämpft er gegen Ausserirdische namens «Weganer». Worüber soll jemand, dessen erste Worte «Hot Dogs!» waren, sich auch sonst lustig machen.
owd. · Zu seinem runden Geburtstag ist Mickey an seinen Geburtsort zurückgekehrt. Disney hat eine Journalistenschar aus ganz Europa eingeladen, zur Jubiläumsausstellung im hippen Meat Packing District der Metropole. In einem ehemaligen Industriekomplex präsentieren sich interaktive Installationen mit der Maus, die vor allem die Kinder ansprechen sollen, sowie Pop-Art-Interpretationen Mickeys, mit welchen wohl nur jene etwas anfangen können, die mit dem Jubilar schon etwas gealtert sind. Zu den ambitioniertesten Werken der bunt zusammengewürfelten Schau zählt eine Video-Installation, in dem das «Steamboat Willie»-Original von 1928 knalligen Neuinterpretationen zeitgenössischer Animationskünstler gegenübergestellt wird. In der psychedelischen «Cosmic Cavern» will Mickey beweisen, dass er auch im Hippie-Universum zu Hause ist. Viele Werke stammen von japanischen Manga-Künstlern und bieten interessante fernöstliche Varianten des uramerikanischen Topos an. Daneben gibt es genuin Kitschiges wie ein Bild, gemalt auf alte hölzerne Kinostühle, sowie mausige Häkeleien der Street-Art-Künstlerin London Kaye. Hier geht es weniger um Kulturgeschichte – etwas lieblos nachempfunden ist etwa das wichtige «Ink and Paint Department» der Disney Studios, auch «Rainbow Room» genannt, wo die Filme einst Bild für Bild von Hand koloriert wurden. Vielmehr geht es hier ums reine Vergnügen, und auf halbem Parcours wartet ein Diner mit konfettibunter Eiscrème. Und fehlen darf freilich nicht eine Zusammenstellung von allerlei Merchandise-Produkten der vergangenen Jahrzehnte, darunter das ikonografische Mickey-Telefon. Zur Eröffnung kam Sarah Jessica Parker, aber ohne ihr in der TV-Serie «Sex and the City» zur Schau getragenes Mickey-T-Shirt.
Mickey – The True Original Exhibition. 60 Tenth Avenue, New York. Bis 10. Februar.