Der Arzt, der von 133 auf 83 Kilogramm abnahm und anderen zeigen will, wie das geht

In einem Selbstversuch hat Bernhard Rinderknecht 50 Kilogramm abgenommen und seither schon zweimal am Ironman teilgenommen. Nun möchte der Arzt aus Basel übergewichtige Firmenchefs und deren Belegschaft ermuntern, gesünder zu leben.

Alan Niederer
Drucken
Als Coach setzt Bernhard Rinderknecht auf Neugier und Freude. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Als Coach setzt Bernhard Rinderknecht auf Neugier und Freude. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

An diesem Morgen ist alles verkehrt. In der gynäkologischen Praxis von Bernhard Rinderknecht in Basel sitzt keine Frau, sondern ein Mann. Und es geht nicht um Krebsvorsorge oder Schwangerschaft, sondern ums Velofahren und Abnehmen. Die Erklärung: Der Frauenarzt ist auch ein Experte für Ausdauersport und Gewichtsregulation. Das hat er mit einem Selbstexperiment eindrücklich bewiesen. Dieses begann vor 15 Jahren. Rinderknecht wog damals 133 Kilogramm. Drei Jahre später waren es 83. Wegen der körperlichen Veränderungen haben ihn langjährige Patientinnen nicht mehr erkannt.

Was Rinderknecht geschafft hat, gelingt weniger als zehn Prozent der Adipösen. Der grosse Rest wird seine überflüssigen Pfunde nur beim Chirurgen los. Dieses Zahlenverhältnis möchte der Arzt zugunsten des natürlichen Abnehmens verändern. Deshalb teilt er seine Erfahrungen mit anderen Übergewichtigen. Zum Beispiel mit dem 40-jährigen Garagisten, der an diesem Tag in die Praxis gekommen ist. Rinderknecht hat den Mann vor einem Jahr angesprochen, weil er sah, dass es ihm schlecht ging und er zugenommen hatte. Die beiden kamen ins Gespräch. Seither ist Rinderknecht sein Coach.

Zweimal einen Ironman beendet

Die Episode ist typisch für den 59-jährigen Mediziner. Sie steht für seine ärztliche Haltung, den leidenden Mitmenschen – im Fall des Garagisten unentgeltlich – zu unterstützen. Zudem zeigt sie den zupackenden Tüftler, der verbessern will, was in seinen Augen bei Menschen und Gegenständen besser sein könnte. So hat der Frauenarzt mit eigenem Zytologie-Labor auch schon eine Bürste entwickelt, mit der Gynäkologen bei ihren Patientinnen schonend und effizient Zellen aus der Vagina entnehmen können. Warum? Die verfügbaren Instrumente waren ihm nicht gut genug.

Rinderknecht war kein dickes Kind. Zugenommen hat er erst, als er im Spital zu arbeiten begann. «Auf den Abteilungen gab es immer haufenweise Schokolade, und ich konnte einfach nicht widerstehen», erzählt er. Richtig explodiert sei das Gewicht aber erst, als er sein Labor aufgebaut habe. Damals arbeitete er meist bis spät in die Nacht hinein. Das hatte zur Folge, dass er oft zweimal zu Abend ass und keine Zeit mehr für Sport hatte.

Rinderknecht spricht nicht vom inneren Schweinehund, den es zu überwinden gilt, sondern sagt: «Aktivieren Sie Ihren Freudehund!»

«Bei den meisten Dicken gibt es einen Auslöser für das Abnehmen», sagt Rinderknecht. Oft sei es ein gesundheitliches Problem. Bei ihm war es anders. Ein Berufskollege habe ihn ermuntert, Hilfe bei einem professionellen Coach zu suchen. Das sei ein Glücksfall gewesen. Dem Coach erzählte Rinderknecht von seinem Traum: Er wollte einmal im Leben einen Ironman absolvieren. Das sind 3,9 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42 Kilometer Laufen. Das Ziel hat er erreicht – schon zweimal. Wenn, dann richtig, diese Haltung scheint sich durch sein Leben zu ziehen. Sein Schwiegervater habe einmal gesagt, «der Bernhard macht alles extrem».

Auch Rinderknechts Klient, der Garagist, hat einen Traum: das Alpenbrevet. Das ist ein Radmarathon, der von Meiringen aus über mehrere Alpenpässe führt. Noch ist er nicht so weit, doch sein Coach ist überzeugt, dass er es schaffen wird. «Du hast ein gutes Körpergefühl und die Fähigkeit zu geniessen», sagt er seinem Schützling.

Geniessen statt Disziplin halten

Habe ich richtig gehört? Muss man geniessen können, um abzunehmen? Geht es nicht mehr um Disziplin? «Bei dem Prinzip Disziplin empfinde ich Widerwillen», sagt Rinderknecht. Er verbinde es mit stupiden Dingen, die man nicht freiwillig mache, weil man keinen Sinn darin sehe. Deshalb setzt er bei seinem Coaching lieber auf Eigenschaften wie Neugier, Begeisterung, Freude, Phantasie und Genuss. Und er spricht auch nicht vom inneren Schweinehund, den es zu überwinden gilt, sondern sagt: «Aktivieren Sie Ihren Freudehund!»

«Das Abnehmen beginnt mit dem Denken», sagt Rinderknecht. Nach dem Denken komme die Bewegung. Erst danach, an dritter Stelle, stehe die gesunde Ernährungsweise.

Mit dieser Einstellung soll das Körpertraining zu einem Bewegungserlebnis werden, das alle Sinne anspricht. Wie das aussehen kann, führt der Arzt in seinem vor kurzem im Basler Münster-Verlag erschienenen Buch «Schlank werden – schlank bleiben» phantasievoll vor. Da wird eine dröge Laufeinheit kurzerhand in eine packende Geschichte aus dem Mittelalter umgedeutet: Rinderknecht ist jetzt im Burgunderkrieg und rennt als Meldeläufer vom Schloss Dorneck in Dornach, das heute eine Ruine ist, nach Liestal, um militärische Hilfe zu holen.

«Das Abnehmen beginnt mit dem Denken», sagt Rinderknecht, der an der Universität Basel eine Vorlesung zum Thema Abnehmen mit Sport hält. Deshalb müssen seine Klienten einen symbolischen Vertrag unterschreiben, in dem sie ihren Willen bekunden, den Lebensstil zu ändern. Nach dem Denken komme die Bewegung, die täglich 60 bis 90 Minuten dauern sollte. Erst danach, an dritter Stelle, stehe die gesunde Ernährungsweise. Seine Empfehlungen hat Rinderknecht aus wissenschaftlichen Studien gewonnen, die Personen unter die Lupe nehmen, die langfristig erfolgreich abgenommen haben. Dabei zeigte sich, dass das Essen die Kalorienbilanz zwar stärker als die Bewegung beeinflusst. Für den Langzeiterfolg ist die Bewegung aber wichtiger. «Das hängt auch damit zusammen, dass Sport die Einstellung zum Essen verändert und den Menschen seelisch und mental stabiler macht.»

Dass man sein Gewicht über ausreichend Bewegung regulieren kann, beweist Rinderknecht seit über zehn Jahren. Und die Ernährung? «Ich habe immer noch kein normales Essverhalten», gesteht der Arzt. Wie bei vielen Übergewichtigen sei sein Essreiz stark ausgeprägt. «Was evolutionsbiologisch das Überleben sichert, prädisponiert heute zu Fettleibigkeit.» Sein Essverhalten könnte er mit Psychotherapie angehen. Das sei aber sehr aufwendig. Deshalb hat er einen pragmatischen Weg gewählt und zu Hause die Süssigkeiten in einen Schrank eingeschlossen. Will er etwas davon haben, muss er zu seiner Frau gehen, die den Schlüssel hat.

Rinderknecht habe ihm die Augen geöffnet, sagt der Garagist über seinen Coach. Seit er mit dem Fahrradtraining begonnen habe, gehe es ihm viel besser. Solche Erfahrungen sollten viel mehr Leute machen können, sagt der Frauenarzt, dem die Gesundheitsprävention mehr ein Anliegen ist als das eigene Portemonnaie. Um seinen Wirkungskreis zu vergrössern, würde er gern übergewichtige Firmenchefs coachen. Diese könnten dann ihre Belegschaft ermuntern, mit dem Velo ins Geschäft zu fahren oder im Trainingsanzug zu Besprechungen zu erscheinen. Er wüsste auch schon einen idealen Kandidaten aus einem grossen Basler Pharmaunternehmen.