So sieht die elektronische Fussfessel der Firma Geosatis aus. (Bild: PD)

So sieht die elektronische Fussfessel der Firma Geosatis aus. (Bild: PD)

Kleiner Big Brother am Fuss

Die elektronische Fussfessel ist seit diesem Jahr in der ganzen Schweiz im Einsatz. Besuch bei der Herstellerfirma des Geräts, die prophezeit, damit bald zukünftige Straftaten berechnen zu können.

Urs Hafner
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Mein Fuss liegt gefesselt auf dem Tisch. Nachdem die beiden Hälften des Rings mit sanftem Klicken eingeschnappt sind, blicken mich die drei Männer der Firma erwartungsvoll an: «Der Reif ist federleicht, nicht? Spüren Sie überhaupt etwas?» Ich umkreise den Tisch, auf dem Grossbildschirm blinkt ein Signal; das bin ich.

In den Jurahöhen, zwischen Kirchen und Kühen, wird das kleine Gerät produziert, das eines jeden Diktators Herz höherschlagen lässt, aber auch Gefängnisreformer erfreut. Die elektronische Fussfessel ist aus schwarzem Plastic und voll von Hightech. Man fixiert sie über einem Kunststoffband, damit sie weder am Schienbein scheuert noch das Gehen erschwert. Das Hosenbein lässt sie fast unsichtbar werden.

Seit diesem Jahr kennt das Justizsystem der Schweiz eine neue Strafpraxis: das Verbüssen einer Freiheitsstrafe mittels Electronic Monitoring, also das Überwachtwerden via Radiofrequenz und GPS. Statt dass der Verurteilte im Gefängnis sitzt, trägt er eine Fussfessel und führt sein ziviles Leben weiter oder nimmt es wieder auf: Er geht einer Erwerbsarbeit nach und partizipiert daheim am Familienleben.

Manche kommen erst im Knast auf den Geschmack betreffend kriminelle Handlungen. Auf das Leben danach werden sie kaum vorbereitet.

Die Maximaldauer dieser Art von Strafverbüssung beträgt ein Jahr. Die Behörden attestieren dem Betroffenen, der ein entsprechendes Gesuch gestellt hat, dass er nicht gefährlich ist und weder fliehen noch weitere Straftaten begehen wird. Er darf nicht gezwungen werden, die Fessel zu tragen. Faktisch besteht die Strafe meist in Hausarrest während der arbeitsfreien Zeit; verbüsst wird sie vor allem von jungen Männern, die zum Beispiel gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen haben oder in wüste Schlägereien verwickelt waren.

Rückkehr in die Gesellschaft

Vor der schweizweiten Einführung haben mehrere Kantone das EM, wie es im Fachjargon genannt wird, getestet und eine positive Bilanz gezogen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Fussfessel ist viel billiger als die rundum bewachte Gefängniszelle, und sie begünstigt die angestrebte Resozialisierung des Straftäters. Oft geht vergessen, dass der Freiheitsentzug nicht nur den Täter bestrafen, die Gesellschaft vor ihm schützen und ihr Sühnebedürfnis stillen soll. Letztlich hat die Justiz die Aufgabe, den Häftling in die Gesellschaft zurückzuführen, ausser er ist verwahrt.

Die Strafanstalt trägt wenig zur Resozialisierung bei: Die Insassen spulen Tag für Tag ihr monotones und strikt reglementiertes Programm ab, meist in einer von Misstrauen und Gewalttätigkeit vergifteten Atmosphäre. Manche kommen erst im Knast auf den Geschmack für kriminelle Handlungen. Auf das Leben danach werden sie kaum vorbereitet, je länger sie hinter Gittern leben, desto weniger. Das EM soll auch hier Besserung schaffen: Der Insasse kehrt kurz vor dem Ende seiner Haftstrafe unter Bewährung in das zivile Leben zurück.

Wie viele Fussfesseln in der föderalen Schweiz getragen werden, ist nicht bekannt. In den Versuchskantonen waren je etwa vierhundert Geräte in Gebrauch. Zwei Produkte sind gängig: ein israelisch-amerikanisches und ein schweizerisches. Letzteres wird von der Firma Geosatis in Le Noirmont im Kanton Jura hergestellt. Während ich meine Fussfessel betaste, die mir der junge Marketingleiter angezogen hat, erklärt er wortreich, 2017 habe die Firma mehr als tausend Geräte in die ganze Welt verkauft. In welche Länder, will er nicht preisgeben – dieses Jahr würden es mehrere tausend sein, die Anzahl der Mitarbeiter sei von 30 auf 50 gestiegen, man wolle in fünf Jahren Weltmarktführer sein. Der Enthusiasmus des bärtigen Romands ist gross. Er spricht partout Englisch mit mir.

Glaubt man dem Firmenvertreter, dann ist das von einer Schweizer Uhrenfirma hergestellte Schloss nicht zu knacken und die an der ETH Lausanne entwickelte Software Spitzenklasse.

Der Deutschschweizer Regionaldirektor Nicolas Egger, ein ehemaliger Banker Anfang fünfzig und zusammen mit dem portugiesischen CEO der Älteste der Firma, ist nicht weniger euphorisch: Das Produkt von Geosatis sei der Konkurrenz meilenweit überlegen, deren Geräte sich, wie im Internet zu sehen sei, relativ einfach entfernen liessen, viel zu schwer und fehleranfällig seien. Und, das zeige eine Foto, auch schon explodiert seien.

Die leichte Geosatis-Fessel dagegen soll wasserdicht sein, was es dem Träger erlaube, zu duschen und zu schwimmen. Glaubt man dem Firmenvertreter, dann ist das von einer Schweizer Uhrenfirma hergestellte Schloss nicht zu knacken und die an der ETH Lausanne entwickelte Software Spitzenklasse. Im Sommer, sagt der Regionaldirektor, werde Geosatis in die USA expandieren und eine Filiale in Miami eröffnen. Die Gegenwart in Le Noirmont ist noch nicht so strahlend: Der Eingang ist kaum zu finden, das Unternehmen befindet sich in einem baufälligen Wohnhaus mit geschlossenen Fensterläden.

Der Rundgang gleicht einem Überraschungsparcours: Geräte stecken zu Testzwecken in Apparaten, in einem Durchgang steht neben einer Sitzgruppe ein Tischfussballkasten, ein «bracelet», wie die Leute hier sagen, wird von einem Kunststoffbein geschüttelt. Auf Tischen liegen viele grüne Leiterplatten. Dutzende junger Männer und ein paar Frauen arbeiten konzentriert an Computern. In einer Ecke sehe ich hinter Glas zwei Trikots mit Originalunterschriften: Messi und Ronaldo. Sie werden an ihren Füssen nie Fesseln tragen.

Disziplinierende Überwachung

Das Geosatis-Gerät kann viel mehr, als es das schweizerische Gesetz erlaubt – was Regionaldirektor Egger wiederholt den Kopf schütteln lässt. Er ist davon überzeugt, dass der Reif viele Probleme des Strafvollzugs lösen würde: keine überfüllten Gefängnisse, besser gelingende Resozialisierung, weniger Kosten, mehr Sicherheit. «Man kann einen Straftäter rund um die Uhr überwachen, ihn tracken, man weiss jederzeit, ob er rennt oder ruht, steht oder liegt, kann Warnsektoren und verbotene und erlaubte Zonen definieren.» Und wieso nicht, fügt er an, Insassen einer psychiatrischen Anstalt oder Alzheimer-Patienten mit dem Gerät ausstatten, damit sie jederzeit zu orten sind? Doch laut Gesetz geht der Persönlichkeitsschutz vor; der Betroffene muss sein Einverständnis geben.

Was heute gemacht wird: Nähert der Täter sich der von ihm misshandelten Frau und übertritt er das Rayonverbot, beginnt deren Smartphone zu piepsen und die Fessel zu vibrieren: Sie warnt auch den Träger. Und ist dieser erst um zehn Uhr morgens auf dem Arbeitsweg statt um sieben oder verlässt er verbotenerweise seine Wohnung, geht auf dem Polizeiposten der Alarm los. Doch die Posten sind häufig nicht rund um die Uhr mit Personal besetzt, das die Ringträger überwacht. Der Regionaldirektor sagt, die Polizei wäre froh: Die 24-Stunden-Überwachung, selbstredend unter Einhaltung des Persönlichkeitsschutzes, entspreche einem Bedürfnis.

Die Fessel verwischt die Grenzen zwischen Freiheit und Haft, zwischen gebüsster und noch abzutragender Schuld.

In Grossbritannien und den Vereinigten Staaten wird das EM seit längerem massenhaft und auch präventiv praktiziert, ohne Begleitung und Bewährungshilfe: Man beglückt Verdächtige vorsorglich über längere Zeit mit der Fessel. Fachleute beurteilen die Entwicklung im angelsächsischen Raum denn auch kritisch: Der Strafrechtler Mike Nellis hat kürzlich in einem Aufsatz dargelegt, dass die Fussfessel hier nicht im Dienst der resozialisierenden Bewährungshilfe stehe, sondern im Dienst einer disziplinierenden Überwachung, welche die Grundrechte der Betroffenen verletze. Zudem sei es fragwürdig, dass Privatunternehmen mit der Bestrafung von Menschen Geld verdienten.

Der Grat ist schmal: Umsichtig eingesetzt, ohne blinde Technikgläubigkeit, die Pannen von vornherein ausschliesst, erleichtert die Fussfessel die Resozialisierung ihres Trägers. Und sie scheuert keine Haut mehr blutig wie früher die Eisenkette mit Kugel, ihre alte Verwandte. Sie hat jedoch das Potenzial, zum kleinen Big Brother, zum Instrument der totalen Überwachung zu werden, viel mehr noch als das Smartphone, von dem wir nicht mehr wissen, ob ihm zu trauen ist. Die Fessel verwischt die Grenzen zwischen Freiheit und Haft, zwischen gebüsster und noch abzutragender Schuld, ja zwischen begangenen und zukünftigen Taten.

Der Marketingleiter prophezeit, bald werde der Reif aufgrund der Bewegungsdaten seines Trägers berechnen, wie gross die Wahrscheinlichkeit sei, dass dieser erneut straffällig werde. Wenn die Fessel die Verbrechen kennt, die der Mensch noch nicht begangen hat, braucht es keinen Rechtsstaat mehr.