Wenn sich alle mit allen vergleichen, schmerzt das Ergebnis viele: René Girard, der «Prophet des Neids», ist ein Denker auf der Höhe der neuen sozialen Dynamiken

Je gleicher die Gesellschaft ist, desto deutlicher sticht das Ungleiche heraus. Wer die Obsessionen unserer egalitären Gegenwart verstehen will, sollte René Girard lesen. Der französisch-amerikanische Anthropologe wird im Silicon Valley gerade neu entdeckt.

Hans Ulrich Gumbrecht
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Ich will, was Du willst, weil Du es willst – René Girard hat das mimetische Begehren beschrieben wie kein zweiter. (Bild: B. Cannarsa / Laif)

Ich will, was Du willst, weil Du es willst – René Girard hat das mimetische Begehren beschrieben wie kein zweiter. (Bild: B. Cannarsa / Laif)

Auch wenn sich die eine grosse Welt gerade wieder in viele kleine Welten von Nationen und Regionen auseinanderdividiert, bleibt sie doch in einer Hinsicht homogen: Alle vergleichen sich in allem mit allen – mehr denn je. Und darum ist René Girard der Autor der Stunde. Wer unsere Gegenwart verstehen will, mit Blick auf globale Kommunikationsmedien wie auf lokale Krisenherde des Populismus, tut gut daran, die Bücher des französisch-amerikanischen Anthropologen zu lesen. Girard, der zuletzt in Stanford lehrte, hat die Entfesselung des rivalisierenden Sich-Vergleichens von Menschen wie keiner vor ihm analysiert und als Haupttriebfeder gesellschaftlichen Handelns begriffen.

Für das kommende Winter-Trimester bietet der Silicon-Valley-Milliardär und frühe Facebook-Investor Peter Thiel an der Stanford University ein Seminar über Konflikte zwischen Staatlichkeit und globaler Technologie an, das vor allem von Girards Theorie ausgehen soll. Auf die enorme Resonanz bei den Studenten musste die Hochschule mit Zulassungsbeschränkungen reagieren.

Dieses Interesse hat eine Vorgeschichte. An der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren hatte Thiel mehrere Girard-Seminare belegt, und bis heute verblüfft er Gesprächspartner gerne mit der Bemerkung, dass er ihnen das für sein Leben ausschlaggebende Engagement bei Facebook verdanke. Zugleich aber bleibt Girard in der Akademie und auch in den Medien ein nur verhalten rezipierter Autor. So laut sich die Intellektuellen gerade heute über kollektiven Neid beklagen, so wenig nehmen sie den eminentesten modernen Denker dieser Dynamik zur Kenntnis.

Sollten sie eine Philosophie, welche Neid als unvermeidlichen Impuls voraussetzt, als Beleidigung ihres Selbst- und Menschenbilds auffassen? Gegen solche Blockaden hat Cynthia Haven in einer neuen und auf vielen Websites im Silicon Valley gefeierten Biografie angeschrieben, die Girards Distanz gegenüber jeglicher politischer Position illustriert und sein Erschrecken über die eigenen Einsichten, das er mit den unversöhnlichsten Gegnern teilte.

Einer der letzten Titanen

Havens Befund bestätigt meine Erinnerungen an die Jahre, als ich fast täglich mit dem Kollegen René Girard in Stanford zu tun hatte. Entgegen der aus Deutschland mitgebrachten Warnung eines Literaturwissenschafters, Girards dunkle Theorie entspreche einem in sein Gesicht eingeschriebenen gewaltsamen Charakter, lernte ich einen Hochschullehrer kennen, der besonders die jüngeren Studenten zu faszinieren vermochte. Konkurrenzsituationen ging er allerdings stets aus dem Weg. Nicht aus einem Gefühl von Unsicherheit, sondern weil er wie ein Prophet von der Wahrheit seiner Einsichten überzeugt war.

Darum warb Girard nie um Zustimmung und nahm auch skeptische Kommentare nie übel. 2005 noch, bei seiner Aufnahme in die Liste der vierzig «Unsterblichen» der Académie française, lauschte er wie von ferne der kraftvollen Lobrede seines Freundes Michel Serres und nahm unsere Glückwünsche mit Stirnrunzeln entgegen. Niemandem könne doch ohnehin, so schien er einwerfen zu wollen, die Evidenz dessen entgehen, was er zu sagen habe.

Mittlerweile hat auch die «New York Review of Books», das Zentralorgan der amerikanischen Ostküsten-Intellektuellen, zum ersten Mal einen ausführlichen Essay über Girards Werk veröffentlicht. Der Italianist Robert Pogue Harrison stellt ihn dort als einen der «letzten geisteswissenschaftlichen Titanen» vor, um mit der Frage zu enden, ob heute endlich ein Durchbruch in der Anerkennung seiner Thesen bevorstehe. Wird die Wiederentdeckung von René Girard im Silicon Valley eine Signalwirkung haben? Und vor allem: Was sind eigentlich Girards zentrale Thesen?

Was das Silicon Valley an Girards Vision fasziniert, liegt auf der Hand.

Harrison hat ihn «den Propheten des Neids» genannt, und um diesen Begriff drehen sich die drei Dimensionen seines Werks, die vor allem aus literarischen Texten abgeleitet sind (auf sie bezog sich Girard, indem er sie als Kondensationen der Wirklichkeit begriff).

Erstens sollen unsere Begierden nicht aus individuellen Impulsen entstehen, sondern aus dem Blick auf die Begierden der anderen und also aus ihrer Nachahmung (ebendieser Ausgangspunkt hat zu dem Namen «mimetische Theorie» geführt). Solange die Bezugspunkte der Nachahmung herausgehobene Figuren sind, literarische Protagonisten oder weithin sichtbare Prominente, ergebe sich aus der mimetischen Dynamik kaum ein Problem, behauptet Girard. Die Nachahmung von «Menschen wie du und ich» hingegen lege uns nahe, diese auf einer höheren Ebene existenzieller Erfüllung zu vermuten und darauf mit Neid zu reagieren. Wenn man heute einwerfen möchte, dass die Unterscheidung zwischen «Prominenten» und «Menschen wie du und ich» an Relevanz verloren habe, weil sich (zumal im Web) tatsächlich alle mit allen vergleichen, so steigert das nur die Gültigkeit der elementaren Intuition.

Zweitens soll aus unendlich wiederholten Situationen des Neids ein gesellschaftlicher Stau der Aggression entstehen, der laut Girard bei allen Kulturen und Religionen der Menschheitsgeschichte in die Identifikation und rituelle Ermordung von Sündenböcken umschlug.

Drittens schliesslich fasste er in seinem Spätwerk das Neue Testament als die eine religiöse Offenbarung auf, die in der Figur von Jesus Christus die Rolle des Sündenbocks mit der Aura des Gottessohns verbindet und damit die auf ihn gerichtete Aggression als arbiträre Grausamkeit offengelegt habe. Denn es ist nicht nur theologisch ausgeschlossen, dass der Sohn Gottes eine Schuld auf sich geladen hat, die eine Bestrafung durch Menschen rechtfertigt. Girard setzte in der letzten Phase seines Schaffens auf das Christentum als ein Motivations-Potenzial zur Aufhebung mimetischer Dynamik.

Das Interesse des Silicon Valley

Was das Silicon Valley an Girards Vision fasziniert, liegt auf der Hand. Die dort erfundenen sozialen Netzwerke intensivieren den Rhythmus unserer alltäglichen Interaktionen und steigern damit die Intensität der mimetischen Begierde: Auf Facebook sieht man die Fotos der Griechenland-Ferien der Nachbarn und setzt die Bilder aus den eigenen Ferien in Italien dagegen. Als Girard-Kenner muss Thiel in einer überlegenen Position gewesen sein, um dieses Potenzial sehr früh zu erkennen. Ebenso leuchtet es aus Girards Sicht ein, dass die Elektronik-Milliardäre immer unter der doppelten Bedrohung stehen, sich erstens in Situationen von Konkurrenz und Neid aufzureiben und zweitens so zu den Sündenböcken jener zu werden, die sie hinter sich gelassen haben.

Macron gilt als der Sündenbock der Gegenwart.

Dabei markiert das Silicon Valley eine exzentrische Position der Gegenwart. Das volle analytische Potenzial von Girards Theorie erschliesst sich erst, wenn wir sie mit einer zentralen Tendenz unserer Welt in Beziehung setzen. Während der vergangenen Jahrzehnte hat – gleichzeitig zur immer wieder kritisierten Auseinanderentwicklung der weltweit höchsten und niedrigsten Einkommensebenen – eine massive Angleichung in den wirtschaftlichen Möglichkeiten einer wachsenden globalen Mittelklasse stattgefunden.

Mit seinem jüngsten Buch, «Against Identity Politics», weist der Politologe Francis Fukuyama auf einen Zusammenhang zwischen dieser Verschiebung und der Entstehung jener vielfachen Identitätsansprüche hin, an die wir uns (einschliesslich ihrer oft populistischen Gesten) alle gewöhnt haben. An die Seite der bis ins späte zwanzigste Jahrhundert dominierenden Identität des sozial-ökonomischen Status sind mittlerweile die Identitäten von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und verstärkt auch wieder der Religion getreten.

Aus Neid wird Gewalt

Je mehr sich die neue Mittelklassen-Gleichheit global verbreitet, lässt sich nun mit Girard erklären, desto schneller wächst der Eindruck, dass sich die je anderen in einer besseren Lage befinden – und desto mehr nehmen auch Neid, Ressentiment und Identitätspolitik zu. Je gleicher die Gesellschaft wirtschaftlich ist, desto ungleicher fühlt sie sich. In diesem Zusammenhang interpretiert Fukuyama Identitätsbegriffe als soziale Konvergenzformeln, die Forderungen nach mehr Respekt, Würde und gesellschaftlicher Anerkennung motivieren, ohne sie je erfüllen zu können. Aus der Konkurrenz zwischen vielfachen Identitäts-Forderungen entstehen dann nicht nur soziale Spannungen, sondern auch allgegenwärtige Drohungen von Gewalt.

Die Plausibilität dieser Logik lässt sich heute gerade in Girards Heimat mit Händen greifen. Aus internationaler Perspektive lebt die grosse Mehrheit der Franzosen ja gerade nicht unter Bedingungen skandalöser Ungleichheit, sondern unter den Vorzeichen eines (erfolgreichen und kaum mehr zu finanzierenden) Wohlfahrtsstaates mit seinen typischen Gleichheitsforderungen. Eine Reihe anderer Gesellschaften scheinen derzeit die aus ähnlichen Situationen entstandenen Gewalttendenzen, könnte man in einem über Girard hinausgehenden Schritt vermuten, durch Syndrome von unnachgiebigen Vorschriften der «politischen Korrektheit» zu neutralisieren. Denn sie sind ja nichts anderes als Regeln der absoluten Konfliktvermeidung (niemand darf sich je zurückgesetzt fühlen), deren Effekt nur paradoxerweise zu immer höherer Spannung, psychischer Blockierung und schwindender Produktivität in allen sozialen Bereichen führt.

Für Frankreich hingegen ist das Gewaltvermeidungs-Netzwerk der politischen Korrektheit nicht mehr wirksam – wenn es denn dort je existiert hat. An die Stelle von immer noch lauteren Gleichheitsforderungen ist deshalb offene Gewalt und ihre Konzentration auf den Präsidenten getreten: Macron gilt als der Sündenbock der Gegenwart. Wenn die «gilets jaunes» ihn mit Ludwig XVI. vergleichen, so hat dies (trotz allen linksliberalen Verstehensbemühungen) die konkrete Bedeutung einer keinesfalls metaphorischen Mord-Drohung.

Vor nur wenigen Monaten formulierte Fukuyamas Buch – in damals noch überraschender Hervorhebung Frankreichs – denkbare Auswege aus einer solchen Entwicklung zu sozialer Gewalt und staatlich-gewaltsamer Gewaltkontrolle. René Girard dagegen hätte die eingetretene Eskalation und ihre Fortsetzung als unvermeidlich angesehen.

Und tatsächlich bestätigen die Reaktionen auf Macrons Einlenken kaum unsere Hoffnung, es könnte ihm gelingen, die Dynamik von Neid und Gewalt zu unterlaufen. Diese Wirkung wäre nach der Mimesis-Theorie einer Rückkehr zum Christentum vorbehalten – und von ihr sind der französische Präsident und seine Feinde gewiss gleich weit entfernt.

Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaften in Stanford und Autor. Als letztes Werk ist von ihm erschienen: «Weltgeist im Silicon Valley» (NZZ Libro, 2018).