Stabil ist nur der Wandel – auch in Fragen des Glaubens

Der Glaube ist ewig. Doch das Streben nach seinen Ursprüngen führt dazu, dass er sich stetig verändert.

Helmut Zander
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Dogmen sind von Menschen gemacht, nicht nur die der katholischen Kirche. Sie verändern sich und sind auch ein Spiegel der Geschichte des Menschen. (Bild PD)

Dogmen sind von Menschen gemacht, nicht nur die der katholischen Kirche. Sie verändern sich und sind auch ein Spiegel der Geschichte des Menschen. (Bild PD)

Riecht Dogma nicht nach Ewigkeit? Allemal in der katholischen Kirche, der – wie man sagt – ältesten religiösen Institution der Menschheit? Diesem idealistischen Verständnis von Dogmen hat Michael Seewald, katholischer Dogmatiker an der Universität Münster, ein Begräbnis erster Klasse bereitet. Ja, auch Dogmen wandeln sich. Das «depositum fidei», das Glaubensgut, ist kein Paket, das von den Anfängen des Christentums unverändert in die Gegenwart transportiert worden wäre.

Seewalds Dekonstruktion beginnt mit der Einsicht, dass «das Dogma» als Allgemeinbegriff ein Kind der Neuzeit ist. Und dann geht es auf einen Parforceritt durch die Geschichte. Da gibt es die Wächter einer Theorie der Unveränderlichkeit: «Gott hasst die Neuerer», dekretiert Bischof Adelmann von Lüttich im 11. Jahrhundert. Auch die protestantischen Reformatoren wollen nichts Neues, sondern die Rückkehr zu den biblischen Ursprüngen.

Im Übrigen herrscht aber ziemlich viel Bewegung: 1215 erweitert die lateinische Kirche nach langen Debatten das Nizäische Glaubensbekenntnis aus dem Jahr 325 um die Wendung«filioque», wonach der Heilige Geist aus dem Vater und zusätzlich «aus dem Sohn» hervorgegangen ist. Anselm von Canterbury (†1109) sieht, dass die Trinitätslehre so nicht im Evangelium steht, und Anselm von Havelberg (†1158), ein Evolutionstheoretiker avant la lettre, vermisst die Sakramente beim historischen Jesus.

Wo ist der Strom am klarsten?

Die Verteidiger solcher Neuerungen brachten immer das gleiche Argument vor: Man habe mit den Veränderungen nur implizit Enthaltenes ausdrücklich gemacht. Aber das hat natürlich nicht jeder geglaubt. Vielmehr zeigen die Entfremdung mit der byzantinischen Kirche wegen des «filioque» oder die Debatten um die Zahl der Sakramente nach der Reformation, dass jede Behauptung von Stabilität Wandel kaschierte.

In der Neuzeit nimmt die Dramatik zu. Die biologischen Evolutionslehren erhöhen den Druck auf die Kulturwissenschaften. Seewald zeigt, wie das Entwicklungsdenken im 19. Jahrhundert in der katholischen Tübinger Schule ankam, und dokumentiert die 180-Grad-Drehung des Traditionsprinzips beim englischen Konvertiten und Kardinal John Henry Newman: Der Strom sei, meint dieser, nicht an der Quelle am klarsten – vielmehr erst am Ende der Geschichte.

Der Vorhang zum Finale öffnet sich im 19. Jahrhundert. 1854 dogmatisiert die katholische Kirche die unbefleckte Empfängnis Mariens, später die Aufnahme Mariens in den Himmel. Sollten das keine Innovationen sein? Den bisherigen Höhepunkt identifiziert Seewald im 20. Jahrhundert: Johannes Paul II. verlegt die Definition neuer dogmatischer Sätze in den Katechismus der katholischen Kirche – dahinter stand mutmasslich Joseph Ratzinger, dessen Theologie für die Entwicklung von Dogmen durchaus offen war.

Seewald schreibt ein prickelndes Buch, für das man allerdings Interesse an den Finessen der Theologie benötigt. Es nimmt die Forschungen der akademischen Theologie der letzten Jahrzehnte auf (Karl Lehmann, Joseph Ratzinger, Peter Walter) – und geht darüber hinaus. Er stellt die vorhandene Detailforschung in einen grossen Rahmen, macht klar, dass es ein unwandelbares «depositum fidei» dogmatischer Sätze nie gab.

Die Sache mit dem Geist

Das hat kirchenpolitische Implikationen, wenn das Lehramt der katholischen Kirche sich als Wächterin der Glaubenswahrheiten versteht, aber in der beanspruchten Stabilität den Wandel vorantreibt. In der Bewertung dieser Dynamik ist sich Seewald mit dem protestantischen Theologen Gerhard Ebeling einig. Die Geschichte der katholischen Kirche sei von «einem radikalen Konservativismus und einem nicht minder radikalen Evolutionismus» geprägt.

An einem Punkt allerdings hat Seewald der Mut vor der eigenen Courage verlassen. Denn da gibt es noch den Heiligen Geist. Seine konsequenten Anhänger hatten es immer schwer: katholischerseits als Subjektivisten, von Protestanten als Schwärmer beargwöhnt. Ihnen galt die persönliche Erfahrung mehr als die Lehre. Die Radikalen haben Bibel, Kirche und Dogmen verabschiedet. Für manche war Wandel die einzige Stabilität, denn, so ihre Überzeugung, der Geist wehe doch, wo er will.

Sie allerdings kommen bei Seewald nahezu nicht vor, vielleicht, weil sie in den grossen Auseinandersetzungen der Dogmengeschichte an die Wand gespielt worden sind. Ihre Bedeutung für die Geschichte des dogmatischen Wandels ist noch ungeschrieben. Deshalb gilt auch nach Seewalds anregendem Buch die alte Fussballerweisheit: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

Michael Seewald: Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln. Herder, Freiburg im Breisgau 2018. 336 S., Fr. 39.90.