Ein Astronaut der Apollo-15-Mission besucht mit Rover den Mond. (Bild: NASA)

Ein Astronaut der Apollo-15-Mission besucht mit Rover den Mond. (Bild: NASA)

Die grosse Apokalypse auf dem Mond zog sich hin

Seit den Apollo-Missionen glauben Forscher, der Mond und die Erde seien innerhalb kurzer Zeit von zahlreichen Meteoriten verwüstet worden. Diese Einsicht ist wohl falsch. Muss die Geschichte des Sonnensystems neu geschrieben werden?

Karl Urban
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Die Apokalypse fand vor 3,9 Milliarden Jahren statt: Es hagelte geradezu Meteoriten. Viele davon waren so gross, dass sich alle späteren Einschläge der Erdgeschichte daneben beschaulich ausnehmen. Nicht nur die Erde wurde getroffen und jedes eventuell schon existierende Leben ausgelöscht. Auch für alle anderen Planeten unseres Sonnensystems und ihre Trabanten war der heftige Meteoritenhagel ein einschneidendes Ereignis. Der Erdmond mit seinen gewaltigen Einschlagbecken zeugt noch heute von diesem grossen Bombardement, das sich 600 bis 700 Millionen Jahre nach der Entstehung der Planeten abgespielt haben soll.

So jedenfalls steht es heute in allen Lehrbüchern. Inzwischen bröckelt aber die Gewissheit der Forscher, dass die Zahl grosser Meteoriteneinschläge vor 3,9 Milliarden Jahren schlagartig zugenommen hat.1 Möglicherweise hat sich das Bombardement über einen viel längeren Zeitraum hingezogen. Erhärtet sich dieser Verdacht, muss auch ein ganzes Kapitel der Geschichte unseres eigenen Planeten umgeschrieben werden.

Der Schatz der Astronauten

Am 24. Juli 1969 schreiben drei Astronauten Geschichte: Vier Tage nachdem zwei von ihnen als erste Menschen auf dem Mond gelandet sind, kehren Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins zur Erde zurück. Im Gepäck haben sie die wohl wertvollste Fracht des Apollo-Programms – das Gestein eines anderen Himmelskörpers, erstmals von Menschenhand transportiert. Im Zuge weiterer Apollo-Missionen vergrössert sich dieser Schatz in den folgenden Jahren auf insgesamt 382 Kilogramm. Die Nasa verschickt winzige Brocken davon in Labore in aller Welt.

Am 20. Juli 1969 landeten die ersten Menschen auf dem Mond. Die geglückte Apollo-11-Mission der USA beflügelte den Fortschrittsglauben einer ganzen Generation und gilt bis heute als eine menschliche und technische Meisterleistung. Bild: Astronaut Buzz Aldrin nach dem Ausstieg aus dem Lunar Module, das Bild hat Neil Armstrong gemacht. (Bild: Imago)
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Start der Apollo 11 am 16. Juli 1969 im kalifornischen Kennedy Space Center. Es ist der Beginn der ersten bemannten Raumfahrt-Mission mit dem Ziel, den Mond zu betreten. Die Mission soll Gesteinsproben vom Mond und allenfalls von Meteoriten, die auf dem Mond eingeschlagen sind, zur Erde bringen. (Bild: Imago)
Buzz Aldrin steigt am 20. Juli 1969 aus der Mondfähre. Der Kommentar seines Kollegen Armstrong wird später weltweit bekannt: «Es ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein grosser Sprung für die Menschheit.» (Bild: Reuters)
Fotografie von Armstrongs erstem Fussabdruck auf dem Mond. (Bild: Reuters)
Buzz Aldrin unternimmt einen Spaziergang auf dem Mond. Die Astronauten sammeln 21,6 Kilogramm Gestein ein und kehren nach zwei Stunden und 31 Minuten ins Landemodul zurück. (Bild: Reuters)
Die Astronauten Buzz Aldrin und Neil Armstrong hissen die amerikanische Nationalflagge auf der Mondoberfläche. (Bild: Reuters)
So präsentiert sich die Erde vom Mond aus. In den Gesteinsproben, die Apollo 11 zur Erde bringt, stecken Mineralkörner, in denen Informationen zur Frühzeit des Planetensystems gespeichert sind. Geologen veranschlagen das Alter der Brocken später auf rund 3,9 Milliarden Jahre. (Bild: Imago)
Edwin «Buzz» Aldrin am 20. Juli 1969, fotografiert von seinem Kollegen Neil Armstrong. Aldrin trägt eine offizielle Monduhr, eine Speedmaster der Schweizer Firma Omega. (Bild: Reuters)
Am 24. Juli 1969 landen Armstrong, Collins und Aldrin wieder auf der Erde und verlassen im Schlauchboot die Landungskapsel der Apollo 11. (Bild: Imago)
Grosser Jubel bricht im Kontrollraum des Johnson Space Center aus, als am 24. Juli 1969 die Apollo-11-Mission zu einem erfolgreichen Abschluss kommt – die drei Astronauten sind unversehrt zur Erde zurückgekehrt. (Bild: Imago)
Nach der geglückten Landung auf der Erde am 24. Juli 1969 werden für die drei Astronauten Vorsichtsmassnahmen ergriffen; sie kommen zunächst in Quarantäne. Auf dem Bild begrüsst Präsident Richard Nixon (rechts) die Raumfahrer Armstrong, Collins und Aldrin. (Bild: Imago)
Am 13. August 1969 regnet es in Chicago Konfetti und Luftschlangen vom Himmel. Die Begrüssung der Apollo-11-Astronauten nach ihrer Rückkehr vom Mond wird zu einem Volksfest und zu einem nationalen Ereignis. Der Stolz der Amerikaner, als Erste auf dem Mond gewesen zu sein, ist gross und gibt der Nation auf Jahre hinaus Selbstvertrauen. (Bild: Imago)
Die erfolgreiche Besatzung der Apollo 11 mit Neil Armstrong (links), Michael Collins (Mitte) und Buzz Aldrin (rechts). Die drei Astronauten werden zu Nationalhelden, die für den amerikanischen Traum stehen und vom Albtraum des Vietnamkriegs ablenken. Der Fortschrittsglaube der Amerikaner scheint grenzenlos. (Bild: Imago)

Am 20. Juli 1969 landeten die ersten Menschen auf dem Mond. Die geglückte Apollo-11-Mission der USA beflügelte den Fortschrittsglauben einer ganzen Generation und gilt bis heute als eine menschliche und technische Meisterleistung. Bild: Astronaut Buzz Aldrin nach dem Ausstieg aus dem Lunar Module, das Bild hat Neil Armstrong gemacht. (Bild: Imago)

In dem Gestein stecken Mineralkörner, die von den Jugendtagen des Planetensystems erzählen. Ein Jahr nach der letzten Mondlandung ermitteln Geologen an der Universität in Sheffield anhand bereits zerfallener Uranatome das Alter mehrerer dieser Mineralkörner. Die Astronauten haben sie in drei verschiedenen grossen Einschlagbecken auf dem Mond eingesammelt. Die Forscher stutzen: Alle Brocken sind rund 3,9 Milliarden Jahre alt. Sie müssen fast zeitgleich entstanden sein.

Landeplätze wichtiger Mondmissionen

Hinzu kommt, dass die drei von den Raumfahrern besuchten Becken, die Maria Imbrium, Nectaris und Serenitatis, nicht irgendwelche Mondkrater sind. Sie gehören zu den grössten Zeugnissen gewaltiger Einschläge auf dem Erdtrabanten. Sie sind sogar von der Erde aus problemlos mit blossem Auge sichtbar; sie zeichnen sich als dunkle Flecken auf der Mondkugel ab. Der Grösse der Becken nach zu urteilen, müssen dort 240 Kilometer grosse Meteoriten niedergegangen sein. Die Forscher schlussfolgern: Es muss vor 3,9 Milliarden Jahren einen gewaltigen Meteoritenhagel gegeben haben, ein grosses Bombardement, das das gesamte Sonnensystem in Mitleidenschaft zog.

Die Entdeckung des grossen Bombardements änderte damals auch die Sicht auf die Geschichte unseres eigenen Planeten. Bei uns verwischen Plattentektonik und Erosion derart alte Spuren. Doch muss die Erde damals vergleichbar verwüstet worden sein, mit weitaus gravierenderen Folgen als auf dem Mond. Denn derart viele Einschläge in kurzer Folge hätten alles Wasser verdampfen lassen und einen guten Teil der Erdkruste in Lava verwandelt – und damit ziemlich sicher alles Leben auf der Erde ausgelöscht. Selbst ein Meteorit wie jener, der den Chicxulub-Krater in Mexiko schuf und zur Auslöschung der Dinosaurier beitrug, erscheint im Vergleich winzig: Seine Grösse betrug nur einen Zehntel derjenigen der Kaliber des grossen Bombardements.

Tatsächlich entstand und entwickelte sich das uns heute bekannte Leben erst nach dem grossen Bombardement. Die ersten chemischen Indizien für Leben fanden Forscher in 3,9 Milliarden Jahre altem Gestein, verblüffend zeitnah zum grossen Bombardement. Die ältesten Fossilien der Erde sind mit rund 3,5 Milliarden Jahren deutlich jünger.

Nur Biologen wunderten sich damals: Auch die ersten primitiven Organismen müssen schon komplexe biochemische Prozesse beherrscht haben. Forscher hatten Hunderte Millionen Jahre für die Evolution dieser Fähigkeiten bis hin zum Herausbilden erster Mikroben auf der Erde veranschlagt. In diesem Zusammenhang wirkt die Besiedelung der Welt unmittelbar nach einem grossen, sterilisierend wirkenden Bombardement reichlich bizarr. Dieser Widerspruch ist ein erster Hinweis darauf, dass die Ereignisse vor 3,9 Milliarden Jahren möglicherweise weniger einschneidend waren als vermutet.

Wandernde Planeten

Auch von theoretischer Seite regt sich inzwischen Widerspruch. Im Jahr 2005 schlugen Astrophysiker um Alessandro Morbidelli vom Observatorium der Côte d'Azur in Nizza ein Modell vor, das eine mögliche Erklärung für das späte Bombardement lieferte. Demnach haben sich die Bahnen der grossen Gasplaneten Jupiter und Saturn lange nach ihrer Entstehung noch einmal stark verschoben – und dies mit gehörigem Kollateralschaden: Laut der Theorie hat die Wanderung dieser Gasriesen kurzzeitig gewaltige Störkräfte entfaltet und dabei einen dichten Ring aus Gesteinsschutt vom äusseren Planetensystem auf Bahnen nahe der Sonne befördert. In der Folge nahmen vor 3,9 Milliarden Jahren auf allen Planeten die Einschläge zu – und damit auch die grossräumigen Zerstörungen, von denen die grossen Mondkrater noch heute zeugen.

Die meisten Planetenforscher stellte das Rechenmodell aus Nizza mehrere Jahre zufrieden. Doch nun wird es ausgerechnet von seinen eigenen Konstrukteuren infrage gestellt. Morbidelli hält es inzwischen für plausibler, dass sich Jupiter und Saturn direkt nach ihrer Entstehung auf Wanderschaft begeben haben und der Meteoritenhagel bereits viel früher einsetzte. Demnach war das Bombardement vor 3,9 Milliarden Jahren nur der Ausläufer einer Entwicklung, die bereits mit der Entstehung des Sonnensystems begann.2

Entstehung des Sonnensystems

Zu dieser Einsicht trugen auch entlarvende Bilder einer Raumsonde bei, die seit 2009 mit der bis dato besten Kamera den Mond umkreist: Der Lunar Reconnaissance Orbiter der Nasa zeigte, dass die Apollo-Astronauten mitnichten Gesteinsproben dreier verschiedener Einschlagbecken eingesammelt hatten. Stattdessen, das erkennen Geologen nun, hat sich wohl eine grosse Wolke Gesteinsschutt aus dem Imbrium-Becken auch auf die anderen zwei Maria ausgebreitet. Die Spuren des vermuteten grossen Bombardements sind demnach nicht in mehreren Einschlagbecken zu finden, sondern nur in einem. Und die interplanetare Katastrophe, die die Geologen aus den damaligen Befunden ableiteten, erscheint im Licht der neuen Erkenntnisse reichlich übertrieben.

Die nächste Mondlandung

Kurz vor dem 50. Jahrestag der ersten Mondlandung liegt nun eine entscheidende Phase des Sonnensystems wieder im Dunkeln. «Klar ist zumindest, dass diese Einschlagbecken einmal entstanden sind», fasst Mondforscher Harald Hiesinger von der Universität Münster die gesicherten Erkenntnisse zusammen. Die Frage sei nun, wie und wann genau das passiert sei. Der Planetologe glaubt – wie eine wachsende Zahl seiner Kollegen –, dass die Becken auf dem Mond schlicht über einen langen Zeitraum entstanden und dass das Bombardement, das zu den grössten Becken führte, entsprechend lange anhielt. Entsprechend wäre auch die Erde zwar immer wieder von grossen Brocken getroffen worden, aber ohne dass dabei der gesamte Planet für Mikroben unbewohnbar geworden wäre.

Nun gilt es, die Geschichte des Planetensystems neu aufzurollen – angefangen beim Mond. Um das zu bewerkstelligen, würden die Forscher am liebsten Proben aus möglichst vielen unterschiedlichen Kratern einsammeln, um zunächst die Lücken im Geschichtsbuch des Erdtrabanten zu schliessen: «Wir haben für lange Zeiträume zwischen 0,8 und 3,2 Milliarden Jahren überhaupt keine Proben», sagt Hiesinger. Der Mondforscher berät daher die Verantwortlichen hinter den zwei geplanten chinesischen Raumsonden, die im Herbst 2018 und im kommenden Jahr starten sollen: Chang'e 4 soll zunächst mit einem Rover im Aitken-Becken am Südpol landen. Dieses gilt aufgrund seiner vielen Krater als das älteste Einschlagbecken auf dem Mond überhaupt. Zugleich ist es eines der grössten im Planetensystem.

Die 2019 folgende Sonde Chang'e 5 soll dann Proben in viel jüngeren Gesteinsschichten sammeln und diese für eine exakte Bestimmung des Alters zurück zur Erde schicken. Es wäre nach vier Jahrzehnten die erste Mission, die Gestein vom Mond auf die Erde brächte – und erst der Anfang. Denn auch Russland, Europas Raumfahrtagentur, Indien, Japan und mehrere private Raumfahrtunternehmen planen, in den nächsten Jahren Sonden zum Mond zu schiessen. Ende des nächsten Jahrzehnts könnten sogar wieder Menschen auf dem Mond landen; das haben Donald Trump ebenso wie chinesische Funktionäre unlängst angekündigt. Vielleicht also werden Geologen die Lösung für das alte Rätsel schon bald vor Ort ergründen können.

1 Ann. Rev. Earth Planet. Sci. 45:619-47 (2017); 2 Icarus 305, 262-276 (2018), frei zugänglich auf arXiv.