Am Berg in den Wahnsinn getrieben

Einsamkeit, Erschöpfung, Hunger, Durst und extremer Stress können bei Höhenbergsteigern Sinnestäuschungen hervorrufen. Betroffene gehen unter Umständen Wagnisse ein, die tödlich sind.

Stephanie Geiger
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Ist der Gefährte real oder eine Halluzination? Die Höhenpsychose ist ein bekanntes, an sich harmloses Phänomen, das aber gefährliche Konsequenzen haben kann. (Bild: Jacob Aue Sobol / Magnum)

Ist der Gefährte real oder eine Halluzination? Die Höhenpsychose ist ein bekanntes, an sich harmloses Phänomen, das aber gefährliche Konsequenzen haben kann. (Bild: Jacob Aue Sobol / Magnum)

Der richtige Weg beim Abstieg von der Annapurna I war schwer zu finden. Am 8091 Meter hohen Himalaja-Riesen hatte der Wind die Spuren des Aufstiegs verwischt. Der Gipfelgrat hing in einer dichten Wolke. Jost Kobusch hatte die Wahl zwischen zwei Rinnen. Er wusste: Die eine führt direkt auf einen Abbruch zu, die andere zum Lager zurück. Doch welche war welche? Der 23-jährige Deutsche machte es sich leicht und stieg einfach dem Bergsteiger im gelben Daunenanzug hinterher, den er vor sich ganz deutlich sehen konnte. Was Jost Kobusch, der immer alleine unterwegs ist, zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Diesen Bergsteiger gab es in Wirklichkeit nicht. Er war eine Halluzination. «Erst als ich erkannte, dass dieser Bergsteiger keine Spuren hinterlässt, und als ich links von mir Tote liegen sah, die sich dann als Steine entpuppten, realisierte ich, dass ich halluzinierte», erzählt Jost Kobusch.

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«Ich bin nicht mehr allein!»

Erfahrungen, wie Jost Kobusch sie im Mai 2016 gemacht hat, sind ein von Höhenbergsteigern oft beschriebenes Phänomen. Schon die Himalaja-Pioniere erzählten in ihren Berichten ohne Umschweife und Scheu darüber. Der britische Bergsteiger Frank Smythe, 1933 Mitglied einer Everest-Expedition, war bei seinem Alleingang überzeugt, dass er durch ein Seil mit einem Begleiter verbunden war. Zwanzig Jahre später befand sich der österreichische Alpinist Hermann Buhl nach seiner Erstbesteigung am Nanga Parbat im Abstieg, als ihn nach einer Nacht, die er stehend an einen Felsen gelehnt verbracht hatte, plötzlich ein «eigenartiges Gefühl» erfasste. «Ich bin nicht mehr allein! – Da ist ein Gefährte, der mich behütet, bewacht, sichert. Ich weiss, dass das Unsinn ist, aber das Gefühl bleibt», so nachzulesen in Buhls Buch «Achttausend drüber und drunter».

«Die Höhenpsychose ist neben der akuten Bergkrankheit, dem Höhenlungen- und dem Höhenhirnödem eine vierte Krankheit, die in der Höhe ganz ohne sonstige Krankheitsmerkmale auftritt.» Hermann Brugger, Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin, Bozen.

Die Medizin ging lange Zeit davon aus, dass beim Höhenbergsteigen organische Ursachen, beispielsweise ein Höhenhirnödem, der Grund für Halluzinationen oder Dritte-Mann-Erlebnisse seien. Genau untersucht wurden die Phänomene aber nicht. Bis sich jetzt Forscher aus Bozen und Innsbruck 83 Berichte von Bergsteigern vorgenommen haben. Bei der genaueren Analyse stellten sie fest: Die von Höhenbergsteigern beschriebenen Erlebnisse sind nicht Symptome der klassischen Höhenkrankheit, bei der es zu starken Kopfschmerzen und Übelkeit, zu Flüssigkeitsansammlungen in den Lungen oder im Gehirn kommt – was häufig sogar den Tod zur Folge haben kann –, vielmehr sind sie reversible Psychosen, die weiter unten am Berg wieder verschwinden, aber in der Erinnerung bleiben. «Die Höhenpsychose ist neben der akuten Bergkrankheit, dem Höhenlungen- und dem Höhenhirnödem eine vierte Krankheit, die in der Höhe ganz ohne sonstige Krankheitsmerkmale auftritt», sagt Hermann Brugger, der Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin am Eurac-Forschungszentrum in Bozen. Er hat gemeinsam mit der Innsbrucker Neurologin Katharina Hüfner die Studie verfasst.

So viel steht fest: Längst nicht jeder Bergsteiger macht solche Erfahrungen. Und längst nicht jeder, der so eine Erfahrung gemacht hat, muss sie ein zweites Mal machen. Der italienische Höhenbergsteiger Silvio Mondinelli zum Beispiel, der auf den Gipfeln aller 14 Achttausender stand, hat nie unter einer Höhenpsychose gelitten. Auch die italienische Alpinistin Nives Meroi kennt das Phänomen nicht aus eigenem Erleben. Möglicherweise liegt es daran, dass ihr Mann Romano Benet beim Bergsteigen so präsent war, dass keinerlei Platz war für solche Phänomene. Einsamkeit, so eine Mutmassung der Forscher, könnte eine Ursache für Höhenpsychosen sein, aber auch Erschöpfung, extremer Stress, Situationen wie Lawinen- oder Absturzgefahr, Hunger und Durst sowie Umgebungsbedingungen wie Kälte und natürlich der Sauerstoffmangel in der Höhe. «Höhenbergsteiger haben einen Sauerstoffgehalt, bei dem bei Patienten im Tal Reanimationsmassnahmen eingeleitet und sie auf die Intensivstation verlegt werden», erklärt Brugger die extremen Anforderungen an den Körper beim Höhenbergsteigen. Bei Sauerstoffmangel, so haben Experimente mit Ratten gezeigt, werden mehr Serotonin und Dopamin ausgeschüttet. Ein Ungleichgewicht bei den Neurotransmittern wird mit Psychosen in Verbindung gebracht.

Fehlentscheidungen und Wagnisse

Auch wenn die Höhenpsychose aufgrund ihrer Reversibilität ein eher harmloses Phänomen zu sein scheint, kann sie gefährliche Konsequenzen haben. Halluzinationen können dazu führen, dass Bergsteiger tödliche Wagnisse eingehen. «Es gibt vermutlich eine Dunkelziffer von Ereignissen in der Höhe, bei denen aufgrund der Halluzination Fehlentscheidungen getroffen wurden, welche die Bergsteiger nicht überlebten», sagt Brugger. Der slowenische Arzt Iztok Tomazin, der im Dezember 1987 den Dhaulagiri (8167 Meter) im Alpinstil bestieg, berichtet davon. Beim Abstieg vom Himalaja-Gipfel hatte er das Gefühl, von Bergführern begleitet zu werden, die ihm rieten, die Ostwand des Berges hinunterzuspringen: Innerhalb weniger Sekunden sei er 2000 Meter tiefer, die Probleme des Abstiegs wären gelöst. Tomazin kam den Aufforderungen zunächst nach, sprang aber nur zwei Meter auf einen Felsvorsprung. Die Schmerzen, die er dabei verspürte, zeigten ihm, dass es keine gute Idee wäre, den Ratschlägen seiner vermeintlichen Begleiter zu folgen.

Bergsteigern mit Symptomen einer Psychose sollte keine Entscheidung überlassen werden und sie sollten von ihren Tourenpartnern auch nicht alleine gelassen werden.

Bergsteiger müssen aber nicht in die sogenannte Todeszone über 7000 Meter vordringen, um solche Erlebnisse zu haben. Katharina Hüfner ist auch auf Berichte gestossen, die selbst schon in tieferen Höhen auf Psychosen hindeuten. Ein Bergsteiger beschreibt das Erlebnis leuchtender Farben, eindringlicher Geräusche und das Auftauchen eines Mannes mit Hut und Hirsch schon in einer Höhe von etwa 5200 Metern. Und eine andere Bergsteigerin, von Beruf Lehrerin, sah am Elbrus sogar schon in etwa 3800 Metern Höhe, etwas tiefer als der Gipfel des Piz Palü also, ganz deutlich Schüler mit und ohne Hausaufgaben, die sie in Schafe oder Mäuse verwandeln wollte, um sie zu zählen.

Das Problem für den Betroffenen: Er nimmt Halluzinationen zunächst nicht als solche wahr. «Wer jedoch weiss, dass es dieses Phänomen in der Höhe gibt, kann lernen, Sinnestäuschungen bei Begleitern oder manchmal auch bei sich selbst als solche zu erkennen», sagt Hüfner. Auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse rät Hüfner Bergsteigern, wachsam zu sein und den Wahrheitsgehalt der Sinneseindrücke zu überprüfen. Siehst du auch diesen Mann, der uns folgt? Hörst du auch den Bergführer, der uns immer auffordert, das Seil mehr zu spannen? Riechst du auch den Rosenduft? Bergsteigern mit Symptomen einer Psychose sollte keine Entscheidung überlassen werden und sie sollten von ihren Tourenpartnern auch nicht alleine gelassen werden, raten Hüfner und Brugger, die selbst passionierte Bergsteiger mit Höhenerfahrung sind.

Bergsteiger, die ähnliche Erfahrungen schon einmal gemacht haben, können zum Erkenntnisfortschritt beitragen und sich melden unter E-Mail: altitude.psychosis.research@gmail.com.