Bundesrat Cassis gibt mit seiner Kritik an der UNRWA einen verdankenswerten Denkanstoss

Bundesrat Cassis erlaubt sich Kritik an der UNRWA, dem Uno-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge. Es ist ein befreiender Tabubruch zur rechten Zeit.

Ulrich Schmid, Jerusalem
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Das Uno-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) betreut mehr als 5 Millionen Menschen. (Bild: Ali Hashisho / Reuters)

Das Uno-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) betreut mehr als 5 Millionen Menschen. (Bild: Ali Hashisho / Reuters)

In Israel haben die Auslassungen des Schweizer Aussenministers Ignazio Cassis zur palästinensischen Flüchtlingsfrage und zur Rolle der UNRWA, des Uno-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge, grosses Aufsehen erregt. Statements führender Politiker fehlen bis jetzt, noch absorbiert die Botschaftsverlegung der Amerikaner alle Aufmerksamkeit. Doch den Medien ist Cassis’ Rundschlag nicht entgangen, und in vielen Blogs wird der Aussenminister gefeiert als einer, der verkrustete Denkformen zu sprengen wagt und neue Anstösse gibt. Die Regierungspolitiker werden folgen.

Zementiertes Elend

Das ist erst einmal recht erstaunlich. Die Schweiz und Israel pflegen gedeihliche Beziehungen. Doch es gibt Knackpunkte. Bern unterhält seit Jahren Kontakt zu allen Konfliktparteien, auch zur Hamas. Werden, wie im letzten November, Vertreter des Aussendepartements in Gaza Seite an Seite mit Leuten wie dem Hamas-Chef Yahia Sinwar gesichtet, der den USA und Israel als Terrorist gilt, reagiert Jerusalem höchst ungnädig. Im März entschied der Nationalrat, die Hamas nicht als Terrororganisation einzustufen. Als Cassis dies mit dem Hinweis rechtfertigte, die Schweiz nütze den Kontakt zur Hamas, um diese zur Einhaltung der Menschenrechte zu veranlassen, kam dies in Israel gar nicht gut an. Irgendwie, so schien es den Regierungspolitikern, hört die Hamas einfach nicht recht hin, wenn Bern ihr Ethikunterricht erteilt.

Jetzt aber ist Cassis der Mann der Stunde. Das überrascht nicht. Die israelische Regierung, ebenso aber auch fast alle Parteien halten die UNRWA wie Cassis für das Problem und nicht für die Lösung der Flüchtlingsfrage. Die UNRWA operiert auf der Basis von zwei zentralen Prämissen, dem Rückkehrrecht und der Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus. Während der Nakba, der «Katastrophe» der Vertreibung, flohen rund 700 000 Araber aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina. Heute betreut die UNRWA mehr als 5 Millionen Menschen. Viele leben in Lagern, oft in Quartieren grösserer Städte Gazas, Cisjordaniens, Jordaniens, Syriens und Libanons. Cassis moniert die ungenügende Integration der Flüchtlinge und kommt zu einem klaren Schluss: «Indem wir die UNRWA unterstützen, halten wir den Konflikt am Leben. Es ist eine perverse Logik. Denn an sich wollen alle den Konflikt beenden.»

Netanyahu liebt die UNRWA

Die Arbeit der UNRWA ist wichtig, die Palästinenser profitieren. Doch auch ihr «Sündenregister» ist lang. Da sind zum einen die bekannten, profanen Fallen jeder institutionalisierten Hilfe: der Anreiz zu Passivität und Schicksalsergebenheit. Im Falle der Palästinenser kommt eine Perpetuierung des Elends dazu, welche von den arabischen Gastländern instrumentalisiert wird, um Druck auf Israel auszuüben. In vielen UNRWA-finanzierten Schulbüchern wurden und werden Juden dämonisiert.

Doch das sind im Grunde Nebenaspekte. Wichtiger ist, dass es mit einem Beharren auf den UNRWA-Prämissen ganz einfach keinen Nahostfrieden geben wird. Eine massenhafte Rückkehr stellte den jüdischen Charakter Israels infrage. Und der ist nicht verhandelbar. Das Kleben an der UNRWA-Position zementiert also auch unter diesem Aspekt den Status quo. Und es hilft denen, die gerne in ihm verharren, am meisten Netanyahu.

Wenn der Regierungschef fertig ist mit dem Aufzählen all der Gründe, die ihm Friedensverhandlungen «unmöglich» machen, dann kann er stets noch sagen, dass die Palästinenser die Rückkehr als «heiliges Recht» betrachteten und Gespräche deshalb von vornherein sinnlos seien. Netanyahu liebt das Beharren auf dem Rückkehrrecht. Niemand wäre perplexer als er, käme endlich auch die UNRWA zu der Einsicht, dass Stillstand keine Tugend ist. 70 Jahre dauert das Patt nun schon an. Es ist an der Zeit, die Sackgasse zu verlassen. Bundesrat Cassis hat einen höchst verdankenswerten Denkanstoss gegeben.