Im prächtigen Gewand gegen die Diskriminierung, 24. Juni 1973: Der Fotograf Frederick W. McDarrah hat die New Yorker LGBT-Bewegung nach 1969 über viele Jahre begleitet und dokumentiert. (Bild: Fred W. McDarrah / OR Books)

Im prächtigen Gewand gegen die Diskriminierung, 24. Juni 1973: Der Fotograf Frederick W. McDarrah hat die New Yorker LGBT-Bewegung nach 1969 über viele Jahre begleitet und dokumentiert. (Bild: Fred W. McDarrah / OR Books)

«Gay Power!» – Wie die Gäste einer schmutzigen Mafia-Bar eine gesellschaftliche Revolution lostraten

Vor 50 Jahren rebellierten Homosexuelle in New York gegen die Unterdrückung. Sie traten eine der erfolgreichsten sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte los. Doch der Fortschritt ist fragil.

Andreas Ernst, Samuel Misteli
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Die New Yorker Nacht war schwül und heiss, das Bier im «Stonewall Inn» war so wie immer: verwässert und überteuert. Es war der 28. Juni 1969, wenige Wochen später würde der erste Mensch den Mond betreten. Im «Stonewall Inn» sollte bereits in dieser Nacht Geschichte geschrieben werden. Wenig deutete darauf hin.

Das «Stonewall Inn» an der Christopher Street 53 in Manhattan war kein wahrscheinlicher Ort für eine Revolution. Die Bar war dunkel, abgeranzt, schmutzig. Sie gehörte der Mafia. Diese betrieb das Lokal, weil sie die Homosexuellen, die wenig Zufluchtsorte hatten, abzocken konnte. Die Gäste bezahlten die Mafia, die Mafia bezahlte die Polizei, die Polizei täuschte bei regelmässigen Razzien vor, ihre Pflicht zu erfüllen. Die Gäste liessen die Durchsuchungen über sich ergehen, sie waren Teil des Arrangements.

Die Übereinkunft zerbrach am 28. Juni. Der Einsatzleiter, der mit sieben Polizisten anrückte, hatte es satt, Mafia-Lokale zu schliessen, nur um sie tags darauf wieder geöffnet zu sehen. Er plante, den Holz-Tresen des «Stonewall Inn» in Stücke zu schlagen. Was er nicht wissen konnte: Auch die Besucher des «Stonewall Inn» hatten genug.

Eine stabile Ehe, ein Auto, ein Haus in den Suburbs

Die USA und die Welt schienen aus den Fugen im Jahr 1969. Hunderttausende demonstrierten gegen den Vietnamkrieg. Die Frauenbewegung forderte die Zerschlagung des Patriarchats. Die Black-Power-Bewegung wollte das Ende der weissen Vorherrschaft. Wenig schien unmöglich.

Das galt nicht für Schwule und Lesben. 1964 war die Civil Rights Act verabschiedet worden. Sie verbot Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht und Religion. Sexuelle Orientierung war nicht Teil des Katalogs. 1969 waren homosexuelle Handlungen in allen Teilstaaten ausser Illinois verboten. In sieben Teilstaaten konnten Schwule per Gerichtsbeschluss kastriert werden. Wohlmeinende Liberale empfahlen Homosexuellen, sich therapieren zu lassen. Manche Konservative fanden, Schwule und Lesben gehörten ins Gefängnis.

Links: Eine Kussszene im Central Park nach der Demonstration, 28. Juni 1970. – Rechts: Die Transvestiten-Aktivistin Marsha P. Johnson, 27. Juni 1971. (Bilder: Fred W. McDarrah / OR Books)

Links: Eine Kussszene im Central Park nach der Demonstration, 28. Juni 1970. – Rechts: Die Transvestiten-Aktivistin Marsha P. Johnson, 27. Juni 1971. (Bilder: Fred W. McDarrah / OR Books)

Es gab eine Schwulen- und Lesbenbewegung vor Stonewall. Doch sie war diskret. Die 1950 gegründete Mattachine Society propagierte nicht den Bruch mit der bürgerlichen Moral. Sie versicherte der Mehrheitsgesellschaft, dass Schwule auch nur gewöhnliche Amerikaner waren, die sich ein Auto, eine stabile Beziehung und ein Haus in der Vorstadt wünschten. Im Juni 1969, in einer schwülen New Yorker Nacht, fand die Höflichkeit der frühen Homosexuellenbewegung ein Ende.

Und dann kam der Ausbruch

Um 1 Uhr 20 stürmten die Ordnungshüter das «Stonewall Inn». Sie riefen: «Polizei! Wir übernehmen den Ort!» Die Musik stoppte, das Licht ging an, tanzende Paare lösten sich aus ihrer Umarmung. Die Polizisten beorderten die rund 200 Gäste nach draussen, sie kontrollierten Identitätsausweise, verfrachteten jene in die Polizeiwagen, die gegen geschlechtskonforme Kleidernormen und damit gegen das Gesetz verstiessen.

Dann folgte der Moment, den der Stonewall-Historiker David Carter später als «Eruption» bezeichnen sollte. Die vielen Augenzeugen haben unterschiedliche Versionen davon erzählt, wie die Ausschreitungen begannen. Doch in den meisten Schilderungen kommt eine lesbische Frau vor, die sich mit Händen und Füssen dagegen wehrte, in den Polizeiwagen bugsiert zu werden. In den Polizeiakten stand später, die Frau habe sich der «Belästigung» schuldig gemacht, sie habe zusammen mit anderen einen Polizisten geschubst und getreten.

Die Identität der Frau ist bis heute unbekannt, doch die Augenzeugenberichte stimmen darin überein, dass ihr Widerstand die Menge in Rage versetzte. Ein Teilnehmer schilderte der BBC vor kurzem seine Erinnerungen: «Es gab diesen emotionalen, adrenalingeladenen Moment, komplett irrational. Endlich wehrten wir uns. Es war ein beglückendes Gefühl.»

Der Verlust des verwundeten Blicks

Die Menge begann zu buhen, sie warf Münzen, dann Steine, schliesslich Molotowcocktails. Die Polizisten, die gekommen waren, um die Bar zu räumen, verschanzten sich in ihr. Der Einsatzleiter gab später zu Protokoll, nie in seinem Leben habe er grössere Angst gehabt.

Die Polizisten mussten von Sondereinsatzkräften befreit werden. Sirenen heulten, die Menge vor dem «Stonewall Inn» wurde mit Wasser abgespritzt. Doch der Adrenalinpegel sank nicht, nicht in dieser Nacht, auch nicht in der nächsten. Die Rebellion dauerte sechs Tage. Als sie zu Ende war, hatte eine neue, unüberhörbare Schwulen- und Lesbenbewegung ihren Anfang genommen.

Die erste Gay-Pride-Parade ein Jahr nach Stonewall auf der Sixth Avenue, 28. Juni 1970. (Bild: Fred W. McDarrah / OR Books)

Die erste Gay-Pride-Parade ein Jahr nach Stonewall auf der Sixth Avenue, 28. Juni 1970. (Bild: Fred W. McDarrah / OR Books)

Es war nicht die Gewalt, die das neue Selbstbewusstsein entfacht hatte. Es war die Erfahrung, während einiger Tage sichtbar und hörbar gewesen zu sein, sich nicht mehr verstecken zu müssen. Die Protestteilnehmer warfen nicht nur Steine, sie tanzten auf der Strasse. Sie riefen: «Gay is good!» Und: «Gay Power!»

Der Dichter Allen Ginsberg, der das «Stonewall Inn» am dritten Protesttag aufsuchte und den Gästen zusah, wie sie auf der Tanzfläche feierten, sagte danach zu einem befreundeten Journalisten, die Jungs in der Bar seien schöner denn je gewesen. «Sie haben ihren verwundeten Blick verloren.»

Von der Mahnwache zur Revolte

Dass die Revolte ihren Ausgangspunkt ausgerechnet im «Stonewall» nahm, mag zufällig sein. Der Zeitpunkt, Ende der 1960er Jahre, war es nicht. Die Schwulen- und Lesbenbewegung (Bi- und Transsexuelle kamen erst später dazu) existierte nicht in einem Vakuum, sondern wurde von den neuen sozialen Bewegungen, die mit unkonventionellen Methoden neue Themen und Forderungen in die Öffentlichkeit trugen, befruchtet.

Nach Stonewall radikalisierte sich die Homosexuellenbewegung. Die führenden Stimmen waren oft Figuren, die über Verbindungen zu anderen Bewegungen verfügten. Der charismatische Jim Fourrat zum Beispiel, einer der Begründer der Gay Liberation Front, die in der dritten Krawallnacht gegründet wurde, hatte Erfahrungen in der Anti-Kriegs-Bewegung gesammelt. Und die damals 26-jährige Martha Shelley, eine Frau der ersten Stunde, war Mitglied der Black Panthers. Sowohl die radikalen Bürgerrechtler als auch die Gay Liberation Front lehnten es ab, mit Mahnwachen und Gesprächsrunden für Akzeptanz zu werben. Sie wollten die amerikanische Gesellschaft von Grund auf verändern.

Stolze, rebellische Homosexuelle

Es ging den Aktivisten nicht nur darum, das unwürdige Versteckspiel zu beenden, das Homosexuellen jahrhundertelang aufgezwungen worden war. Sie bezeichneten die Lebensform der Kleinfamilie als Unterdrückungsmechanismus von Frauen und Kindern und verachteten Monogamie als unnatürliche Verstellung, der sie die freie Liebe entgegensetzten. Das taten sie nun lautstark. Exakt ein Jahr nach Stonewall zog die erste Gay-Pride Parade durch New York.

Das Lifestyle-Magazin «Esquire» veröffentlichte Ende 1969 eine lange Reportage, in der es den «neuen Homosexuellen» porträtierte: stolz, rebellisch, sexuell befreit. So ganz anders als die Vertreter der älteren Generation. Diese glichen Karikaturen: traurige Männer mit künstlich gebräuntem Teint, die ihr Yorkshire-Hündchen auf den Bartresen hoben und farbige Drinks schlürften. Im Text fehlt auch nicht der Hinweis, dass genau in der Nacht, als die Stonewall-Unruhen begannen, die Ikone der älteren Schwulenszene, die Schauspielerin Judy Garland, zu Grabe getragen worden sei. Aber nicht nur sie war tot: «Tot ist dieses Gefühl, als Homosexueller durch Schuldgefühle von der Welt der Heteros isoliert zu sein.»

Erste Erfolge kamen schnell. In vielen amerikanischen Gliedstaaten wurde im Verlauf der 1970er Jahre die repressive Gesetzgebung gelockert. Das «Sodomieverbot», wonach homosexuelle Sexualpraktiken verboten waren, wurde in einigen Staaten aufgehoben. 1973 strich die Vereinigung der amerikanischen Psychiater Homosexualität von der Liste psychischer Erkrankungen. Bereits Ende der 1950er Jahre hatten wissenschaftliche Studien die Pathologisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität als haltlos bezeichnet. Aber erst im neuen Klima der 1970er Jahre wurden sie von der Fachöffentlichkeit auch zur Kenntnis genommen. Bei den Psychoanalytikern dauerte es nochmals zwanzig Jahre, bis ihre Vereinigung den Anspruch aufgab, Homosexualität zu «heilen».

Links: Homosexualität ist kein Makel, 28. Juni 1970. – Rechts: Ein Porträt am Rande der Kundgebung, 25. Juni 1975. (Bilder: Fred W. McDarrah / OR Books)

Links: Homosexualität ist kein Makel, 28. Juni 1970. – Rechts: Ein Porträt am Rande der Kundgebung, 25. Juni 1975. (Bilder: Fred W. McDarrah / OR Books)

Die LGBTQ-Bewegung strebt in die Mitte

Die Ernüchterung folgte in den 1980er Jahren, und sie war brutal. Das Jahrzehnt war geprägt vom konservativen Klima der Reagan-Ära und vom Ausbruch der Aids-Epidemie. Ihren Höhepunkt erreichte diese zwischen 1987 und 1996. Über 300 000 Personen fielen ihr in den USA zum Opfer. Von den homosexuellen Babyboomern (geboren zwischen 1951 und 1970), war 1995 fast jeder Zehnte infiziert. Auch wenn Aids keine «Schwulenkrankeit» war, verspürten reaktionäre Kreise Rückenwind und bezeichneten HIV als Gottesstrafe für «unnatürliches» Verhalten. 1982 wurden Homosexuelle aus der Armee explizit ausgeschlossen.

Die konservative Wende in jenen Jahren und die Schrecken der Epidemie rückten die Monogamie wieder stärker ins Zentrum. Und damit auch die Forderung nach der Ehe für alle. Der radikale Furor der Stonewall-Ära erlahmte.

1993, die Aids-Welle war am Abklingen, forderte Andrew Sullivan, der Herausgeber der liberalen Zeitschrift «The New Republic», die Bewegung solle sich zwei Ziele setzen: die Homo-Ehe und die Zulassung zum Militärdienst. Beides seien Errungenschaften, welche die homosexuelle Bevölkerung in den Augen der Mehrheit «nobilitiere». Statt farbenfroher sozialer Bewegungen führten jetzt professionelle Lobbygruppen den Kampf. Sie hiessen nicht mehr Gay Liberation Front, sondern Human Rights Campaign. Die LGBTQ-Bewegung strebte in die Mitte der Gesellschaft.

«Liebe kann nicht zum Schweigen gebracht werden»

Dort ist sie – zumindest in den USA und im Westen – vielerorts angekommen. An den jährlichen Pride-Paraden präsentieren grosse Firmen ihre Werbebanner. 2015 hat der amerikanische Supreme Court die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert. Und die Demokraten haben mit Pete Buttigieg einen Präsidentschaftskandidaten, dessen politische Unerfahrenheit grössere Skepsis weckt als seine Homosexualität.

Doch der Fortschritt ist fragil. Der amerikanische Vizepräsident Mike Pence mutet mit seiner kaum kaschierten Homophobie an wie eine Figur aus der Zeit vor Stonewall. Und der verheerendste Vorfall von Gewalt gegen Homosexuelle liegt erst drei Jahre zurück: 2016 schoss ein Terrorist in einem Schwulenklub in Orlando um sich und tötete 49 Personen.

Nach dem Attentat versammelten sich Hunderte vor dem «Stonewall Inn» zu einer Mahnwache. Vor der Bar stapelten sich Blumen. Auf einem Schild stand: «Liebe kann nicht zum Schweigen gebracht werden.» Es ist eine Botschaft, die auch die Stonewall-Demonstranten 1969 auf eine Fassade hätten malen können.

Ein Band mit Bildern von Fred W. McDarrah ist in einer Neuauflage bei OR Books erschienen: «Pride – Photographs after Stonewall».

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