Ganz grosse Politiker wachsen schon mal über ihre Partei hinaus: das Denkmal für Willy Brandt in der Rua de Rio in Porto. (Bild: Christian Zimmermann)

Ganz grosse Politiker wachsen schon mal über ihre Partei hinaus: das Denkmal für Willy Brandt in der Rua de Rio in Porto. (Bild: Christian Zimmermann)

Die Sozialdemokratie hat ihre Aufgabe erfüllt. – Ein Nachruf auf die SPD

Sozialdemokratisches ist längst nicht mehr das Monopol der Sozialdemokratie. Es ist Allgemeingut. Aber was heisst das für eine Partei wie die SPD?

Michael Wolffsohn
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Sozialdemokratismus, verstanden als verwirklichter und sich ständig weiterentwickelnder Wohlfahrtsstaat (nicht zu verwechseln mit dem Paradies), ist in Deutschland sowie im politisch westlichen Europa gelebter Alltag und gehört zur unumstrittenen Basis fast aller Parteien. Die SPD hat also ihre historische Mission erfüllt. Deshalb stirbt sie ab.

Seit je konzentrierte sich die Sozialdemokratie aufs materielle Wohl der Menschen. Zunächst der Menschen «ganz unten», dann, als Volkspartei, «der» Gesellschaft». Seit den späten 1960er Jahren sind die meisten westeuropäischen Gesellschaften materiell weitgehend zufriedengestellt. Postmaterialistisches bekam immer mehr Gewicht, und diese Entwicklung entzog der Sozialdemokratie strukturell den Boden unter den Füssen.

Am Anfang stand ein ebenso begabter wie hitzköpfiger, idealistischer und doch pragmatischer deutscher Jude gutbürgerlicher Herkunft: Ferdinand Lassalle. Anders als der grosse Teil der deutschen und europäischen Bourgeoisie wollte er das materielle Los der Arbeiterschaft lindern. Dafür war er sogar bereit, mit Königen und Adel, allen voran mit Bismarck, ein «soziales Königtum» zu errichten. Das widersprach natürlich der vermeintlich reinen Marxschen Lehre, die ein Bündnis mit Monarchie, Aristokratie und selbstverständlich auch Bourgeoisie kategorisch ausschloss. Wie Marx wollte Lassalle das Los der Arbeiter beziehungsweise des Proletariats verbessern. Einig im Ziel, uneins im Weg.

Sowohl Lassalle als auch Marx waren – wie mit und nach ihnen viele andere Kommunisten, Sozialisten oder Sozialdemokraten – Bourgeois, die ihre «Klassenherkunft» zugunsten des «Proletariats» einsetzten. Anders als Marx und die Kommunisten brach die SPD, wie Lassalle, im Kampf fürs materielle Wohlergehen des Proletariats von sich aus nie die Brücken zur Bourgeoisie, Aristokratie oder Monarchie ab. Das war von Anfang an – und bis zu ihrem Ende – sowohl die Stärke als auch die Schwäche der Sozialdemokratie.

Neu-alte Fragen

Von Lassalle bis zu den heutigen Sozialdemokraten – also nicht Sozialisten – befand sich die SPD gegenüber den «wahren Linken» einerseits in der ideologischen Dauerdefensive und andererseits wegen der breiteren Wählerbasis im soziologischen Vorteil. Der kollektive Verstand der Mehrheitssozialdemokraten gebot, angesichts des relativ grösseren Wählerpotenzials, Pragmatismus. Das kollektive Bauchgefühl verlangte mehr linke, klassenkämpferische Ideologie.

Weil man nicht die reine Lehre vertrat, war ein Grossteil der SPD ideologisch nie mit sich im Reinen. Im Kaiserreich bedeutete das ein Ja oder Nein zur Monarchie; es ging um die Frage der Kooperation oder Konfrontation mit der Bourgeoisie. In der Weimarer Republik lag die Entscheidung zwischen Reform oder Revolution, Parlamentarismus oder Räterepublik, Koalition, gar: grosse Koalition oder Opposition.

Im «Dritten Reich»: Eindeutig war im März 1933 das Nein zur antiparlamentarischen Ermächtigung der NSDAP. Als erstmals ab 1933 der 1. Mai Arbeiterfeiertag wurde, liessen sich auch zahlreiche sozialdemokratische Arbeiter vom NS-Zuckerbrot korrumpieren. Erst recht als Mitte der 1930er Jahre quasi Vollbeschäftigung erreicht war. In der frühen Bundesrepublik, im Kalten Krieg hiess es dann: Ja oder Nein zur Westbindung, also zur Partnerschaft mit den «Mächten des Kapitals». Oder Fusion mit den ostdeutschen Kommunisten und wenn nicht diese, dann den «Dritten Weg» zwischen den Blöcken?

Nach elf Jahren BRD, ab 1959, verstand und präsentierte sich die SPD im Godesberger Programm als Bürger- bzw. Volkspartei, und erst 1960 bekannte sie sich zur Westbindung, die Konrad Adenauer (CDU) durchgeboxt hatte, wofür ihn SPD-Chef Kurt Schumacher 1949 als «Kanzler der Alliierten» beschimpft hatte. Früher als die anderen «Altparteien ging die SPD vor allem zu den USA auf Distanz. Trotzdem betrieb Kanzler Helmut Schmidt seit 1979 die Nato-Nachrüstung. Widerwillig folgte ihm die Partei, um an der Macht zu bleiben.

Nachdem diese im Oktober 1982 verloren war, ohrfeigte der SPD-Parteitag im November 1983 den nun früheren Kanzler: Nur noch 13 Getreue stimmten mit Schmidt für die Nato-Nachrüstung, die, wie sich 1989/90 zeigte, der Grundstein für die Wiedervereinigung und die Freiheit Osteuropas wurde. Die SPD-Mehrheit, allen voran Willy Brandt, glühte 1989/90 für die Wiedervereinigung, doch der Kanzlerkandidat von 1990, Oskar Lafontaine, und seine keineswegs kleine Anhängerschaft wollten sie eigentlich nicht.

Im Wohlfahrtsstaat

Zur neu-alten Frage, ob man mit den Sozialisten koalieren soll, sagt heute die SPD-Mehrheit (noch) Nein; Ja sagen vor allem die jungen Wilden um Kevin Kühnert. Von Lassalle bis zur jetzigen Übergangs-Troika blieb die SPD in Kernfragen also eine Halb-und-halb-Partei.

Die SPD war von Anfang an eine Partei für das Proletariat, und nicht: des Proletariats. Sie verbürgerlichte sich allmählich und zaghaft in der Weimarer Zeit und immer flotter in der Bundesrepublik. Nach 1945 nicht zu vergessen: der Zustrom aus dem Adel. Das Proletariat? Immer weiter weg, und allmählich war das Proletariat als «Proletariat» weg. Aus Proletariern waren nämlich längst Arbeiter, dann Arbeitnehmer und im besten Sinne Klein- und Mittelbürger geworden. Diese indes wurden der quasimessianischen Visionen und ideologischen Streitereien ihres Führungspersonals überdrüssig und wollten wiederum ihren Besitzstand nicht durch Experimente gefährdet sehen.

Im sozialdemokratisierten Wohlfahrtsstaat hat die Sozialdemokratie ihre historische Aufgabe erfüllt. Sozialdemokratisches ist längst nicht mehr das Monopol der Sozialdemokratie. Es ist Allgemeingut. Das freilich ist das Verdienst der Sozialdemokratie, sprich: ihres Führungspersonals.

Zum Führungspersonal zählten durchaus Männer und Frauen «von unten», etwa August Bebel, Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, später Willy Brandt, Gerhard Schröder oder Andrea Nahles. Jenes «ganz unten» der frühen Altvorderen stammte allerdings eher aus dem Bereich des Handwerks und weniger aus jenem der Fabrikarbeiter oder des Proletariats. Was sozioökonomisch «unten» bedeutet, kennen behütete Juso-Beamtenkinder wie Kevin Kühnert allenfalls aus den Lehrbüchern ihres Studiums.

Unter dem Dach der Nachkriegs-SPD

Als einzige Partei, die im März 1933 gegen die Ermächtigung Hitlers gestimmt hatte, wurde die Nachkriegs-SPD zunächst ganz selbstverständlich die Heimat der wenigen jüdischen Rückkehrer wie Richard Löwenthal oder Jeanette Wolff. Natürlich auch der sozialistischen Ex-Exilanten wie Willy Brandt und sogar sozialdemokratisch gewendeter Altkommunisten wie Herbert Wehner.

Zur SPD strömten Nachfahren des aristokratischen Widerstands wie Klaus von Dohnanyi. Auch Adelige aus anderen Politmilieus kamen: Der Soziologieprofessor Ludwig von Friedeburg überdeckte mit linker SPD-Bildungspolitik die Nazisünden seines Vaters. Andreas von Bülow lüftete den Stallgeruch des Mecklenburgischen Uradels mit SPD-Frischluft.

Dem mecklenburgischen Landadel entstammte Peter von Oertzen. Wollte er mit linker SPD-Politik die schlimmen Erinnerungen an seinen Vater wegblasen? Der war 1919 als Freikorps-Kämpfer an der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nicht unbeteiligt und gehörte beim Kampf um Oberschlesien dem deutschen «Selbstschutz» an.

Ob Nochproletarier, auch klein- oder grossbürgerlich, adelig, aus dem Milieu des Widerstands, der Mitmacher, Mittäter, Mitläufer oder Juden: Unter dem Dach der Nachkriegs-SPD gehörte man dank der Otto-Wels-SPD, die im März 1933 mutig gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte, automatisch zu den anständigen Deutschen. Alle «Sozis» wurden Brüder und als SPD-Genossen, unabhängig von der eigenen oder elterlichen Vergangenheit, schlicht Sozialdemokraten. So gesehen, war die SPD bereits vor dem Godesberger Programm eine echte deutsche Volkspartei.

Jedoch: Von der Pest des liquidatorischen Antisemitismus war die SPD als Ganzes tatsächlich nie befallen – sehr wohl allerdings vom «klassisch»-diskriminatorischen. Auch in der Weimarer Republik und ebenfalls in der Exil-SPD während des «Dritten Reiches».

Die seit ihren Anfängen und besonders in Bundesdeutschland zunächst breiter gewordene Soziologie und Ideologie der SPD wurde zunehmend ausgehöhlt. Materiell wurden aus dem einstigen Proletariat Klein- und Mittelbürger. Gesellschaftlich betrachtet, sind fast alle Exilanten, Widerständler, deren Nachfahren und die sozialdemokratisch gewendeten oder gereinigten Jungnazis mittlerweile tot.

Nach 70 Jahren erfolgreicher Demokratie verfügt die SPD zudem längst nicht mehr über das von ihr lange allein beanspruchte Anti-NS-Gütesiegel.

Parteien sind, wie alle Menschen, fehlbar und nie fehlerfrei. So auch die SPD. Fest steht: Die SPD, die Sozialdemokratie ganz allgemein, hat ihre historische Mission erfüllt, indem sie «die da unten» ohne Blutvergiessen nach oben gebracht und Sozialdemokratismus im Sinne überparteilicher und axiomatischer Wohlfahrtsstaatlichkeit fest etabliert hat. Gleiches zu wollen, gaben «die» Kommunistischen Parteien vor. Das war bekanntlich blutiger Betrug. Er kostete weltweit rund 60 Millionen Menschen das Leben. Daraus folgt bilanzierend: Die Menschheit verdankt der Sozialdemokratie unendlich viel Menschlichkeit.

Michael Wolffsohn ist Historiker und Publizist. Er lehrte von 1981 bis 2012 an der Universität der Bundeswehr München. Von ihm ist u. a. erschienen: «Friedenskanzler? Willy Brandt zwischen Krieg und Terror» (2018).